Dienstag, 31. Juli 2018

45. Todestag von Guido Mortselli

Guido Morselli (* 15. August 1912 in Bologna; † 31. Juli 1973 in Varese) war ein italienischer Romancier.

Morselli, von dem zu Lebzeiten kein Roman veröffentlicht wurde, kam 1912 als Sohn eines reichen Unternehmers in der Lombardei zur Welt; ab 1914 lebte die Familie in Mailand. Er studierte Jura und promovierte 1935. 1973 nahm er sich, nach jahrelangen Absagen durch die Verleger, das Leben.

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Montag, 30. Juli 2018

Rolf Tiedemann gestorben

Rolf Tiedemann (* 24. September 1932 in Hamburg; † 29. Juli 2018[1]) war ein deutscher Philosoph, Philologe und Herausgeber.
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Zum Tod von Rolf Tiedemann
konkret, 30.7.2018

Philologie als Reeducation

Über Rolf Tiedemanns Kritik des Vergessens. Ein Nachruf auf den Soziologen, Philosophen und Adorno-Archivar.
Von Ansgar Martins, konkret 9/2018


Herausgeber Rolf Tiedemann gestorben
Feinarbeit am Text
Der Philosoph war ein herausragender Editionsphilologe. Er machte sich einen Namen mit der ersten Bibliografie über die Erstdrucke von Walter Benjamin.
Rudolf Walther, TAZ 31.7.2018


Das Werk von Adorno & Benjamin sowie etliche Arbeiten von Rolf Tiedemann sind in unserer Bibliothek Gleichgewicht aufliegend. 





Sonntag, 29. Juli 2018

Lese- & Denkabenteuer: The Moviegoer


Haimo L. Handl

Lese- & Denkabenteuer: The Moviegoer


1973 bereiste ich das erste Mal die USA und hielt mich dort gut ein halbes Jahr auf. Im Gepäck hatte ich „Kunst und Revolution“ von Herbert Marcuse (1898-1979); als geistige Vorbereitung hatte ich Noam Chomskys (*1928) Buch „Amerika und die neuen Mandarine“, das 1969 bei Suhrkamp als Paperback herausgekommen war, gelesen. Ebenso das faszinierende Buch von L. L. Matthias (1893-1970), „Die Kehrseite der USA“, das von Rowohlt trotz des sehr kritischen, damals schier unmöglichen antiamerikanischen Tons schon 1964 publiziert worden war. So gewappnet kam ich ins Land der Verheißung.

Dort erwarb ich mir nach genussvollem Stöbern in den vielen, riesigen Buchhandlungen, die es damals vielerorts gab, unter anderem weitere Bücher von Chomsky, oder von George Steiner (*1929) seinen Essay „Notes Towards the Redefinition of Culture“, der eine Art Antwort und Kritik an T. S. Eliots (1888-1965) „Notes towards  the definition of culture“ ist. Dann fand ich in einem der typischen Neuantiquariate von Carlos Castaneda (1925-1998) einige Bände, die sehr in Mode gewesen waren, weil sie mir während meiner Reise oft von Hippies oder „Alternativen“ warm empfohlen wurden. Meine Begeisterung ließ aber nach dem 2. Buch nach und ich verstaute die abgegriffenen Taschenbücher im Rucksack. Ich war kein Esoteriker und wollte keiner werden; das Geschwätz der Bewusstseinserweiterung ödete mich an. Aber ich fand einen Roman, der mich fesselte: „The Moviegoer“ von Walker Percy (1916-1990), einem Südstaatenautor, der seinen medizinischen Beruf aus Krankheitsgründen aufgab, zum Katholizismus konvertierte, Schriftsteller wurde und, ganz faszinierend, Semiotiker. Mit seinem Debut 1961 wurde er berühmt; er erhielt dafür den National Book Award 1962.

Ich überwand meine Skepsis gegen Konvertiten oder religiöse Schriftsteller und las den Roman während meiner Reise. Das Buch begeisterte mich. Später folgten dann neben anderen Romanen von ihm vor allem seine semiotischen Arbeiten, die ich heute noch schätze. Aber zurück zum Moviegoer, der sogar als Lesestoff für High School Kids dient und viele Analysen und Deutungen nach sich zog.

Damals gab es noch kein Internet und ich fand durch die Lektüre raus, was heute Unbedarfte in Sekundenschnelle im Netz finden können. In Wikipedia zum Beispiel:

Plot summary
The Moviegoer tells the story of Binx Bolling, a young stock-broker in postwar New Orleans. The decline of tradition in the Southern United States, the problems of his family and his traumatic experiences in the Korean War have left him alienated from his own life. He day-dreams constantly, has trouble engaging in lasting relationships and finds more meaning and immediacy in movies and books than in his own routine life.

Eine typische Alltagsgeschichte der typischen amerikanischen Alltagsgesellschaft in einem deutenden Blick, der nicht schnöde denunziert oder entlarvt, sondern, fast ganz nebenbei, jedenfalls selbstverständlich, die Gegebenheiten schildert, als ob sie normal wären, was sie ja sind, aber abnormal erscheinen, je nachdem, welche Perspektive der Sicht oder des Denkens man wählt oder gewählt hat.

Percy macht sich über seine Figur, seinen Antihelden oder Verlierer auf die Suche. The search, die Suche bestimmt sein problematisches Leben, dessen Chaos nach Bewältigung verlangt, nach Positionsbezug in den Beziehungen privater und geschäftlicher Art, im Denken und Glauben. Es geht um Entfremdung und Einsamkeit in einer hektisch betriebsamen Welt, die kaum Gelegenheit zum Rückzug, zur Kontemplation gewährt, zum Nachdenken und Klarwerden. Die Filme, die er wie ein Süchtiger im Kino ansieht, bieten ihm nicht nur Flucht, Zeitvertreib, sondern bieten Sinnstiftung und Unmittelbarkeit, wie sie sein reales, echtes Leben nie bieten. Ihm geht es wie den Kindern, die sich in Märchen verlieren und die Phantastik realer einschätzen als ihren wirklichen Alltag, als die krude Konfrontation mit der Realität oder den Realitäten. Geschichten in Büchern, mehr noch aber in Filmen, sind der Stoff, den er sucht, damit die Alltagssuche auszuhalten ist, erträglich wird.

Es war dieser Mix aus Alltäglichkeit, Beiläufigkeit und tieferes Nachsinnen und Nachdenken eines philosophisch geschulten Romanciers, der zudem die Zeichentheorie kannte, die mich gefangen nahm. Der Reiz und Effekt steigerte sich noch durch meine Reise, die wie eine Bestätigung des American way of life von der unteren Warte her betrachtet sich wahrnehmend, deutend erweiterte. Gewisse Abschnitte und Ereignisse gewannen dadurch eine zusätzliche Bedeutung, als ob eine Metaebene wahrnehmbar geworden wäre, reale Eindrücke mit vorgestellten mischte zu einem dichten Gewebe komplexer Realitätsausschnitte, die mir nachträglich die Lektüre aufwerteten.

Die trockenen Befunde des Linguisten Chomsky in seinen politischen Analysen wurden irgendwie belebt und anders beleuchtet. Chomsky war auch mit George Steiner im Disput. Steiners Kritik an Chomsky Generativer Grammatik leitete sozusagen über zu semiotischen Arbeiten von Percy, die ich in diversen Journalen fand (seine Publikation „The Message in the Bottle“ erschien erst 1975), womit sich das Textgewebe noch stärker verdichtete. An dieser Verdichtung hat nicht zuletzt ein Buch Anteil, das ich damals in einem Second Hand Bookshop erwarb und das ich immer noch, obwohl ziemlich mitgenommen und zerfleddert, in meiner Bibliothek halte: „Language in Thought and Action“ von S. I. Hayakawa (1906-1992). Später, als ich in Virginia Tech studierte, lernte ich, dass dieses Buch als Textbuch sehr beliebt war. Hayakawa geht anscheinend spielerisch leicht, aber gedanklich solide fundiert, auf die Probleme der Sprache und der Zeichen ein, wofür sie stehen, was sie bedeuten, wie wir mit ihnen umgehen. Ich merkte, dass Hayakawa wie die wissenschaftliche Begleitung der Everydayness von Percys Roman genommen werden kann, und so auf zwei Ebenen, der romanhaften und der wissenschaftlichen, die Ebenen, nein, die Räume, sich mengen oder abgrenzen und erweitern.

Gibt es eine Bedeutung, gibt es einen Sinn jenseits vom Sinn des Alltagslebens? Kann man mit der Realität, in der man lebt, „zufrieden sein“? Warum sind so viele, wenn nicht fast alle, unzufrieden in glücklichen Umständen, zufrieden in turbulenten, problematischen, düsteren? Warum ist mir die Routine meines Lebens unangenehm, auf den Nerv gehend, während Unvorhergesehenes auch nicht die Lösung darstellt? So und ähnlich lauten die Fragen von Binx Bolling. Es gilt, den Alltag, die Routine zu überwinden. Auf der Suche sein, alert sein, handlungsbereit. „The search is what anyone would undertake if he were not sunk in the everydayness of his own life.“ Man muss raus dem den Zirkel, aus dem Hamsterrad, aus dem verplanten Programm. Man muss werden, der man ist.

In dem Versprochenen Land (The Promised Land), wo es keine Individualität nach abendländischer Vorstellung gibt, sondern Personen, die als Eingepasste meinen, sie seien Individualisten, klingt solches Fragen beunruhigend. Etwas stimmt nicht im System, wenn man so fragt. Der Normale, der Funktionierende, der Gute, hat, was er braucht, weil er ist, was er sein soll. Nur Abweichler, Kranke, Schwache oder Bösartige scheren aus, zweifeln, stören oder leisten Widerstand. Die amerikanische Gesellschaft ist eine betreute, besonders nach dem erfolgreichen, gewinnbringenden 2. Weltkrieg hat sich die Konformität dieser Konsumproduzentengesellschaft erstarkt. Die Dystopie von Aldous Huxley (1894-1963), „Brave New World“ von 1932 hat auch ohne die nachgelieferte Kommentierung von Huxley in seinem 1958 erschienen Büchlein „Brave New World Revisited“ erschreckende Aussagekraft. Im Unterschied zu Huxley und seiner Dystopie liefert Percy einen Roman, den viele oberflächlich gesehen als Unterhaltungsstoff genießen, einige aber doch als Kommentar und Illustration des typischen American way of life, wie er seine Protagonisten aushöhlt, unterminiert, schwächt, auffrisst, weil die American values eigentlich keinen Individualismus gestatten und fördern, sondern einen Kollektivismus aggressiver, egoistischer Qualität.

„In the evenings I usually watch television or go to the movies. Week-ends I often spend on the Gulf Coast. Our neighborhood theater in Gentilly has permanent lettering on the front of the marquee reading: Where Happiness Costs Lo Little. The fact is I am quite happy in a movie, even a bad movie.”

Als ich 1973 tausende von Meilen mit dem Bus übers Land zog, notierte ich mir typische Sätze, wie ihn Percy seine Romanfigur erinnern lässt, „Where Happiness Costs So Little“, „We try harder“, „Love it or leave it“. Ich lernte, dass ich im Land der Freiheit nicht viel Wahl habe: entweder zu lieben, also anzunehmen, oder zu gehen, abzuhauen, bevor sie mich hauen. Mit „We try harder“ warben Dienstleister, seien es Tankstellen oder Werkstätten oder Reinigungen. In der gefeierten Popmusik war es der Aufschrei der Protestierenden, der Zukurzgekommenen, jener starken Frauen, die ihre Männer Schlappschwänze und Weicheier fanden, und deren Aufforderung „Try - Just a little bit harder“ (Janis Joplin, 1969) als Song frenetisch beklatsch wurde, in der Realität der Machos aber nichts Veränderndes bewirkte.

„But things have suddenly changed. My peaceful existence in Gentilly has been complicated. This morning, for the first time in years, there occurred to me the posdsibility of a search.”

Es war die Störung der Routine, eine Komplikation.

„As I watched, there awoke in me an immense curiosity. I was onto something. I vowed that if I ever got out of this fix, I would pursue the search. Naturally, as soon as I recovered and got home, I forgot all about it.”

Der Geist war willig, aber das Fleisch schwach. Die Gewohnheit obsiegt. Vergessen entlastet.

„This morning, for example, I felt as if I had come to myself on a strange island. And what does such a castaway do? Why, he pokes around the neighborhood and he doesn’t miss a trick.
To become aware of the possibility of the search is to be onto something. Not to be onto something is to be in despair.
The movies are onto the search, but they screw it up. The search always ends in despair.”

Um die Routine zu unterbrechen, muss man Halt machen, innehalten, reflektieren, neu und anders handeln. Man muss man selbst sein, aber dieses Selbst muss anderer Art sein als das bisherige, das ja auch ein Selbst war, allerdings ein geformtes, eingepasstes, angepasstes. Es gibt jedoch kein ungeformtes Selbst. Nichts ist formlos. Jeder ist sich der nächste, aber niemand ist isoliert alleine, alle sind mit allen verbunden.

„’What do you do with yourself out there in Gentilly?‘ People often ask me what is wrong with the world and also what I do in Gentilly, and I always try to give an answer. The former is an interesting question. I have noticed, however, that no one really wants to listen to an answer.”

Während der Reise erfuhr ich dieses Phänomen nicht so deutlich. Doch als ich einige Jahre später am Virginia Tech studierte, fiel es mir drastisch auf. Ein paar Ausländer, darunter auch ich, antworteten oft auf die stereotypen Fragen nach dem Befinden mit negativen Antworten oder solchen, die für gewöhnlich, weil ungewohnt und unerwartet, als negativ bewertet wurden, was Befremden und Ärger auslöste. Gewohnt war man, dass es allen gut geht und man begeistert ist über das schöne Land der unbeschränkten Möglichkeiten ist. Abweichungen wurden wie Fehler, Abnormitäten, Krankheiten bedauert oder verurteilt. Ich lernte, dass man in den USA nicht arm sein sollte, nicht am Rande leben, und auf jeden Fall nie negativ sich zu äußern, außer man ist stark und verkraftet den Ärger, die Zurückweisung. Anders als die Beobachtung Bollings in Percys Roman wurde zumindest auf Reizworte gehört, und die lösten Erstaunen und Ärger aus.

„She refers to a phenomenon of moviegoing which I have called certification. Nowadays when a person lives somewhere, in a neighborhood, the place is not certified for him. >More than likely he will live there sadly and the emptiness which is inside him will expand until it evacuates the entire neighborhood. But if he sees a movie which shows his very neighborhood, it become possible for him to live, for a time at least, as a person who is Somewhere and not Anywhere.”

Die Suche und die Sicherheit. Die Bestätigung. Wie ein Kleidungsstück, das durch die eingenähte Marke seine Adelung erfährt. Die Umgebung ist nicht irgendeine, sondern eine, die Millionen sahen und sehen und dadurch bestätigen. Es ist nicht nur eine präsente, präsentierte, sondern repräsentierte. Er hätte sich an „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (Siebenteiliges Werk von Marcel Proust (1871-1922), erschienen zwischen 1913 und 1927, einige Bände somit posthum, der epochale Roman der allegorischen Wahrheitssuche) erinnern können, wenn er so eine Erinnerung gespeichert gehabt hätte. Hatte er aber nicht. Und für einen Amerikaner, einen Moviegoer, war diese Art Suche doch zu entfernt, zu blasiert, zu fremd. Dann lieber im Kino und in Suburbia, daheim, im bestätigten Feld, im Garten Eden.

Proust hatte geschrieben:

„Es gibt vielleicht keine Tage unserer Kindheit, die wir so voll erlebt haben wie jene, die wir glauben verstreichen zu lassen, ohne sie zu erleben, jene nämlich, die wir mit einem Lieblingsbuch verbracht haben.“

Das war schon näher bei ihm. Das entsprach Bollings Wesen. Er war nur etwas moderner als der zerbrechliche Franzose. Für ihn Waren movies das, was für Proust die Bücher und ihre Lektüre bildeten. Hinsichtlich des Erlebens hätten sie sich treffen können und sicher verstanden. Die Geschichte, The Search, war das Wichtigste, das Überragende, das übers Gewöhnliche Hinausreichende. Kunst war Leben besonderer Art. Die Verwandtschaft von Prousts Sicht und der von Percy in seiner Figur des Blinx Bolling war überdeutlich. Proust:

„Dann war die letzte Seite gelesen, das Buch war beendet. Ich musste den eiligen Lauf der Augen anhalten und den der ihnen lautlos folgenden Stimme, der nur abbrach, um in einem Seufzer Atem zu schöpfen.“

Das entsprach Bollings Erfahrungen, wenn er aus dem heimeligen, dunklen Kinosaal in das grelle Licht trat, vom Stadtlärm umfangen wurde und er einerseits die Nachwirkungen der Bilder, der Geschichte, noch auskosten wollte, andererseits nicht zu unachtsam am Straßenrand sich bewegen durfte, um nicht Opfer einer Kollision zu werden.

„Today I read Arabia Deserta enclosed in a Standard & Poor binder. … There was a time when this was the last book on earth I’d have chosen to read. Until recent years, I read only ‘fundamental’ books, that is, key books on key subjects. …
There I lay in my hotel room with my search over yet still obliged to draw one breath and then the next. But now I have undertaken a different kind of search, a horizontal sear. As a consequence, what takes place in my room is less important. What is important is what I shall find when I leave my room and wander in the neighborhood. Before, I wandered as a diversion. Now I wander seriously and sit and read as a diversion.”

In einer behüteten, beaufsichtigten, betreuten Welt lebt man in systematischer Sicherheit. Sicherheit liegt gegenüber Freiheit. Die Freiheit in Amerika ist eine vermeintliche, weil die Sicherheit überall über allem Vorrang genießt. Deshalb enden so viele Aussteiger im Suizid, weil sie das Ausstiegsmaß nicht richtig treffen, weil ihnen das Innehalten nicht gelingt, und nicht der Weg zurück vom Trip. Der Wiedereintritt, the re-entry, wie Percy später in seinem Buch „Lost in the Cosmos: The Last Self-Help Book“ ausführte, funktioniert nicht mehr. Das hatte sich in den Konsumhochzeiten entwickelt und wuchs sich in den Folgejahren dramatisch aus. Es war nicht nur ein Problem der Drogen, sondern eines der Mentalität, des geistigen Lebens, der Unselbständigkeit in „a pampered world“.

„Have you noticed that only in time of illness or disaster or death are people real?“

War das der Grund für die allgegenwärtige Aggression, die hohe Kriminalität, die umfassende Grobheit, den Drogenkonsum? Genügten die viele Kriegseinsätze neben dem Sport nicht (mehr) zur Kanalisierung negativer Energie, brauchte es den Alltagskrieg daheim? Konnten die Filme keinen symbolischen Ersatz mehr liefern, weil die Abstumpfung schon zu stark zugenommen hatte, und die Mehrheiten nach mehr verlangten, nach reality tv, real life, das Echte, das Andere, das Außergewöhnliche, weil das Gewöhnliche zum Alptraum geworden war?

Percy lieferte ein Panorama, einen Raster. Er enthielt sich täuschender Antworten. Auf meinen Reisen und während des Studiums lernte ich in den Vereinigten Staaten die Seiten und Kehrseiten kennen, blickte in den Abyssus einer gewalttätigen, unbefriedigten, im Kern unreifen Gesellschaft, die trotz höchster technischer Meisterleistungen kulturell depraviert war, böse auf die eigentliche Erfüllung lauerte: Krieg. Nicht nur im Kino.


Freitag, 27. Juli 2018

China rettet traditionelle Buchläden vor der Digitalisierung

Geldsegen für den chinesischen Buchhandel

China will traditionelle Buchläden vor der Digitalisierung retten – mit einer Millioneninvestitionen. Bereits jetzt sind sie kulturelle Hotspots. 

Aleksandra Hiltmann, Tagesanzeiger 26.7.2018
 

Einerseits behindert und bedrängt die allgegenwärtige Zensur des Regimes die Schriftsteller, Verleger und Leser, damit auch den Buchmarkt, andererseits setzt dieselbe Regierung Aktionen zur Stützung traditioneller Buchhandlungen. Eindrückliches Beispiel chinesischer Logik und Politik. Neue Kulturpolitik?!

 

The library, the shelter


Packing My Library
An Elegy and Ten Digressions

Alberto Manguel
Yale University Press




The Art of Unpacking a Library


By






Komplizenschaft zwischen Leser und Buch

Die verborgene Bibliothek
von Alberto Manguel, aus dem Englischen von Achim Stanislawski
Vorgestellt von Annkathrin Bornholdt, NDR.de 8.3.2018


Alberto Manguel – der Mann, der die Bücher liebt

Der argentinische Schriftsteller Alberto Manguel zählt zu den ungewöhnlichsten Büchernarren der Welt. Er kann ohne Bücher nicht leben – und hat vom Leben doch mehr gesehen, als in den Büchern steht.
Rainer Moritz 25.7.2018, NZZ

Merkur 831

MERKUR

Heft 831, August 2018, 72. Jahrgang

ist erschienen und liegt in unserer Bibliothek Gleichgewicht auf. 

Donnerstag, 26. Juli 2018

Israel was never a democracy


Jewish Nation-State Law: Why Israel Was Never a Democracy



The head of the Arab Joint List Alliance at the Israeli Knesset (Parliament), Ayman Odeh, described the passing of the racist Jewish Nation-state Law as “the death of our democracy.”
Did Odeh truly believe that, prior to this law, he had lived in a true democracy? 70 years of Israeli Jewish supremacy, genocide, ethnic cleansing, wars, sieges, mass incarceration, numerous discriminatory laws, all aimed at the very destruction of the Palestinian people should have given enough clues that Israel was never a democracy, to begin with.


125. Geburtstag von Margarete Seemann

Margarete Seemann (* 26. Juli 1893 in Wien; † 6. Juni 1949 ebenda), Pseudonym Margarete Margmann, war eine österreichische Roman-, Kinder- und Jugendbuchautorin.
Sie engagierte sich sozial und schuf zur Erheiterung und Bildung der Kinder Märchen und andere Stücke für Kinder, die in katholischem Geist verfasst sind.
Margarete Seemann wurde als "Dichterin der Mütter" und als "Österreichische Selma Lagerlöf" bezeichnet. Ihre Werke entstanden aus ihrem katholischen Glauben und waren sehr erfolgreich. So wurden 60 ihrer Gedichte von verschiedenen Komponisten vertont und ihre Bücher in 7 Sprachen, darunter auch Japanisch, übersetzt.

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Afrika steht sich selbst im Weg

Der afrikanische Exodus ist wie ein Faustschlag ins Gesicht der Regierenden

Die meisten afrikanischen Staatschefs kümmert es kaum, dass ein grosser Teil ihrer jungen Bürger wegwill. Aber die Überweisungen der Emigranten sind kein Ersatz für wirtschaftliche Entwicklung. Nebst der Ökonomie braucht es allerdings auch soziale und kulturelle Veränderungen.
 

100. Todestag von Fanny Gräfin zu Reventlow

Fanny Gräfin zu Reventlow (* 18. Mai 1871 in Husum; † 26. Juli 1918 in Locarno, Schweiz) war eine deutsche Schriftstellerin, Übersetzerin und Malerin. Sie wurde berühmt als „Skandalgräfin“ oder „Schwabinger Gräfin“ der Münchner Bohème und als Autorin des Schlüsselromans Herrn Dames Aufzeichnungen (1913).

Ihr vollständiger Name lautet Fanny Liane Wilhelmine Sophie Auguste Adrienne Gräfin zu Reventlow. Zu Lebzeiten veröffentlichte sie unter der Verfasserangabe F. Gräfin zu Reventlow. Heute ist sie auch als Franziska Gräfin zu Reventlow bekannt.

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Zum 100. Todestag der Schriftstellerin und unerhört modernen Bohemienne Franziska zu Reventlow

Sonntag, 22. Juli 2018

50. Todestag von Giovanni Guareschi

Giovannino Oliviero Giuseppe Guareschi ( * 1. Mai 1908 in Fontanelle di Roccabianca, Italien; † 22. Juli 1968 in Cervia), der auch unter dem Namen Giovanni Guareschi publizierte und verfilmt wurde, war ein italienischer Journalist, Karikaturist und Schriftsteller. Bekannt wurde er vor allem durch seine Geschichten über Don Camillo und Peppone.

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Guareschi eckte an und wurde staatlich verfolgt. Wikipedia dazu:
Eine Karikatur brachte Guareschi 1951 in zweiter Instanz eine Gefängnisstrafe von acht Monaten auf Bewährung wegen Beleidigung von Staatspräsident Luigi Einaudi ein. Im Januar 1954 veröffentlichte er zwei faksimilierte Briefe Alcide De Gasperis, bei denen es sich möglicherweise um Fälschungen handelte. Er wurde wieder wegen Beleidigung verurteilt und entschied sich, nicht in Berufung zu gehen. Stattdessen verbüßte er 409 Tage im Gefängnis und stand weitere sechs Monate unter Hausarrest.

Sein Welterfolg "Don Camillo und Peppone" ist u. a. dem Kalten Krieg und der tiefen pseudoreligiösen Verwurzelung der Depravierten in Italien zuzuschreiben. SChlussendlich zeigt Guareschi die unumstößliche Vormacht der Kirche und des Glaubens, bleibt systemaffirmativ und beschwichtigend.




Samstag, 21. Juli 2018

125. Geburtstag von Hans Fallada

Hans Fallada, eigentlich Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen (* 21. Juli 1893 in Greifswald; † 5. Februar 1947 in Berlin) war ein deutscher Schriftsteller.

Bereits mit dem ersten, 1920 veröffentlichten Roman Der junge Goedeschal verwendete Rudolf Ditzen das Pseudonym Hans Fallada. Es entstand in Anlehnung an zwei Märchen der Brüder Grimm. Der Vorname bezieht sich auf den Protagonisten von Hans im Glück und der Nachname auf das sprechende Pferd Falada aus Die Gänsemagd: Der abgeschlagene Kopf des Pferdes verkündet so lange die Wahrheit, bis die betrogene Prinzessin zu ihrem Recht kommt.
Fallada wandte sich spätestens 1931 mit Bauern, Bonzen und Bomben gesellschaftskritischen Themen zu. Fortan prägten ein objektiv-nüchterner Stil, anschauliche Milieustudien und eine überzeugende Charakterzeichnung seine Werke. Der Welterfolg Kleiner Mann – was nun?, der vom sozialen Abstieg eines Angestellten am Ende der Weimarer Republik handelt, sowie die späteren Werke Wolf unter Wölfen, Jeder stirbt für sich allein und der postum erschienene Roman Der Trinker werden der sogenannten Neuen Sachlichkeit zugerechnet.

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Donnerstag, 19. Juli 2018

5. Todestag von Milena Milani

Milena Milani (* 24. Dezember 1917 in Savona, Ligurien, Italien; † 9. Juli 2013 ebenda) war eine italienische Künstlerin, Autorin und Journalistin.

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120. Geburtstag von Herbert Marcuse

Herbert Marcuse (* 19. Juli 1898 in Berlin; † 29. Juli 1979 in Starnberg) war ein deutsch-US-amerikanischer Philosoph, Politologe und Soziologe.

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Mittwoch, 18. Juli 2018

Wertverständnis hier & dort


Haimo L. Handl

Wertverständnis hier & dort

Wir leben in einer Überflussgesellschaft, in der auch die Benachteiligten oder Ärmeren über staatliche und private Einrichtungen ihr Auskommen zu sichern vermögen, wenn sie nicht gerade, durch das tägliche Fernsehen verführt, nur im Dauerkonsum das Lebensglück sehen und dessen Nichterfüllung als Strafe oder extreme Aussonderung definieren. Es gibt allerdings Härtefälle, aber die sind in jeder Gesellschaft auffindbar, da keine paradiesische Zustände bietet.

Für AMS-Betreute gibt es einen Kulturpass, damit sie, Interesse kultürlich vorausgesetzt, am kulturellen Leben teilnehmen können. Für Migrantinnen gibt es geförderte Sprachkurse und etliche Organisationen bieten, wie ich weiß, Gratisunterricht an.

Es gibt aber viele, die diese Einrichtungen nicht nutzen wollen. Es gibt viele Eltern, die ihre Kinder nicht schulen wollen. Es gibt, leider, nicht nur Bildungsferne, sondern, viel schlimmer, Bildungsfeindliche, und ihre Zahl wächst, unterstützt durch eine ignorante Falschtoleranz von Gutmenschen, die in diesen Leuten nur Opfer sehen, den Spracherwerb als Belastung und Zumutung denunzieren, und im Kern eigentlich keine erfolgreiche Integration wünschen.

Dafür werden gleichzeitig aber „Oberschichtler“ oder bürgerliche Familien kritisiert, nicht nur, weil sie vermögend oder vermögender sind, sondern auch kultivierter und gebildeter. Anstatt die Depravierten über eine soziale Integration im Bildungsniveau zu heben, unternehmen diese GleichheitsapostelInnen Bemühungen der Schwächung der Bessergestellten, der Begabten und Talentierten, weil es nach ihrer kruden Gleichheitsfimmelei keine Hochbegabten, keine Talentierten geben darf und, da die Orientierung an den Erfolgreicheren für die anderen unrealistisch ist, eine Ausrichtung aufs untere Niveau zu erfolgen habe. Das zeigt sich im verdünnten Bildungsprogramm und den fatalen Einübungen in EinfachDeutsch.

Doch hoher Bildungsstandard, so verrufen er für die Meute der Unteren auch ist, bildet keine Garantie dass die Sprösslinge ebenfalls erfolgreich lernen, studieren und beruflich Karriere machen. Sich aufzuregen, wenn ein Elternhaus eine positive Umgebung für seine Kinder schafft, nur, weil viele Familien das nie gelernt haben, geht am Problem völlig vorbei. Geld ist nicht der primäre Faktor für Kultivierung und Bildung. Aber die Kläffer wollen nicht zulassen, dass es auf die Einzelne ankomme, auch auf das  Kind und die Eltern. In ihren Augen ist es die Gesellschaft, die determiniert, voranbringt oder verhindert. Wie dennoch Außenseiter erfolgreich höhere Bildungsgrade erreichen, wird dann nicht erklärt oder nur als Ausnahme gesehen. Es scheint, als ob diese negativen, misanthropen Kräfte alles nivellieren wollen: wenn ein höheren Fortkommen nicht für ALLE möglich ist, dann runter in den Dreck mit ALLEN durch Zerstörung der Wertestruktur (Kultur) und der Bildungseinrichtungen bzw. Sozialeinrichtungen und Schulen oder Kindergärten im Besonderen (finanziell ausbluten).

Nach dem Ende des 2. Weltkriegs war in Deutschland für ganz kurze Zeit der Schock so tiefsitzend, dass man hoffen konnte, es werde politisch entsprechend zukunftsorientiert verantwortlich gehandelt. Aber sofort ertönten die Stimmen der falschen Vernünftigkeit: um die staatlichen Aufgaben zu erfüllen, bedürfen wir leider, leider der Experten, auch wenn die meisten davon Nazis waren oder sind. Der Aufbau oder, wie es in Österreich vor allem hieß, der Wiederaufbau brauchte die Nazis. In Kürze war der radikale republikanische, demokratische Anflug verflogen und die alten Kräfte, die im Barbarenkrieg nicht umgekommen waren, viele sogar als Kriegsgewinnler ausstiegen, übernahmen die Lenkung und Organisation des neuen Deutschlande bzw. von Österreich, wovon einige Jahre später ein verkappter Faschist, Jörg Haider, zynisch als „Missgeburt“ sprach.

In dieser Missgeburt sind nun die faschistischen Kräfte erstarkt und bilden über das türkise Bubi den Koalitionspartner. Die ÖVP packelt mit der faschistischen Partei (FPÖ – man lernt es, wenn man nicht EFFPÖ-Ö stammelt, sondern den Bedeutungskern anzeigt FAPAÖ oder FAPÖ), reduziert Bildung und Sozialversorgung bei gleichzeitigen Steuergeschenken an die Unternehmer und einer gesetzlich erlaubten 60-Stundewoche, die die Weiterbildung am Abend für Tausende erschweren wird, ganz unabhängig von dem Stress für die Pendler, die nach 12 Stunden Hackeln noch stundenlange Heimfahrten zu bewältigen haben. Aber so sieht die neue Politik aus, die österreichische NEP (Новая экономическая политика).

Aber es bleibt ja nicht bei der Ökonomie, der unterstützen besseren Ausbeutung durch die Unternehmer und den Reduktionen im Sozialbereich. Auch in der Bildung und Kultur wird aufgeräumt.

Gut, man kann sagen, so hart wie Mao Zedong mit seiner zerstörerischen Kulturrevolution geht es bei uns nicht zu. Auch folgt niemand den radikalen Reinigungen (Folterungen und Tötungen) des Pol Pot, der bei Mao in die Schule gegangen war. Sogar der frühere Bauernschlaue, der rote Gott, das massenmörderische Väterchen aus Georgien muss nicht bemüht werden. Bei uns läuft alles viel friedlicher, ruhiger ab, eingeübt durch eine tiefsitzende Kultivierung, die in der langen, unseligen Herrschaft der Habsburger eine ganz einseitige, überangepasste Gehorsamshaltung von Untertanen erzeugt hat, die keiner Gestapo oder Geheimpolizei bedarf, wie anno dazumal, sondern die im Verwaltungsakt schon  ab-, ein- und erdrückt. Da reichen schon die Bubis und Mädis der bräunlichen Bewegung, die jetzt das Sagen hat.

Dieser Verwaltung kommt das durch die jahrzehntelange Dekultivierung und Verbildung unverständige Volk entgegen, weil es in falscher Lobpreisung privaten Konsumglücks meint, freier zu sein als früher, sich einen Dreck um Politik schert, und schon gar nicht um Bildung. Kultur ist Spitzensport und Zuschauen, ist Popmusik und Drogenkonsum. Wer nicht unbedingt wegen der Prüfungen im Studium eine Bibliothek aufsuchen muss, geht nicht hin. Freiwillig meidet man die Mehrheit sie. Liest man die Statistiken der Entlehnungen in den Büchereien, erschrickt man, wie wenige aktive Leser es gibt, was durch die niederen Verkaufszahlen von Literatur  weiter bestätigt wird. Daran ändern auch peinliche Zirkusveranstaltungen wie das Bachmannwettlesen nichts. Die Rolle des Zuschauers hat sich seit dem Internet und der smart phone culture dramatisch geändert. Ein seltsames Phänomen: einerseits eine Isolation von Privaten, andererseits virtuelle „Gemeinschaften“, die vor allem die negativen Verhaltensweisen des shit storm, des mobbing, des Rufmords etc. unterstützen und reale Gemeinschaften extrem unterminieren. In dieser Unkultur gelten keine Argumente mehr, sondern Gefühle, Wallungen, Betroffenheiten. Alles approbiert im Opferkult der Opfergesellschaft. Wer will da noch Bildung erwarten, rationales Denken, Diskurs?

In den letzten Jahren strahlten einige öffentlich-rechtliche Sender Dokumentationen aus, die einen lehrten, wie schlimm die Zustände in Tibet, China, Vietnam oder Kambodscha waren, aber auch im arabischen oder türkischen Raum. Ich kenne viele erschütternde Dokumente aus Tibet bzw. Nordindien, wohin sich viele Tibeter flüchteten, die verzweifelt versuchen, ihre verfolgte, niedergehaltene Kultur am Leben zu erhalten, zu retten. Eine französische Ethnologin, Marianne Chaud, drehte im höchstgelegen Bergdorf im Kloster Phuktal im indischen Zanskar einen beeindruckenden, berührenden Dokumentarfilm. Sie zeigt den achtjährigen Kenrap, der seit seinem fünften Lebensjahr Novize im Kloster ist und Mönch werden will. Besonders beeindruckt hat mich die Art, wie er mit Gleichaltrigen zum Philosophieunterricht eilte, wie er und seine Freunde die heiligen Schriften lernten, die elementaren Technik der Rhetorik. Meisterhaft eingefangen vermittelt die Ethnologin die fest verankerte Kultur, die Freude am Wissen und Bewahren und Weitergeben. (Ein direkter Gegensatz zu den Vernichtern Mao Zedong oder Pol Pot, für die Wissende Feinde waren!)

Ich habe diese und ähnliche Dokumentationen mir öfters angesehen. Sie berühren mich immer wieder. Sie strotzen vor Positivem, vor humanem, freundlichen Ausblick. Nach dem Großen Krieg in Europa schätzen einige die Reste von Kulturgütern in weit höherem Ausmaß, als etwa in den „Goldenen Zwanzigerjahren“, jener selbstvergessenen Zeit des Konsumrausches und der Lebenslüge. Mühsam wurden Bibliotheken wieder errichtet oder wiederhergestellt, Bücher aus Bunkerdepots geholt und sortiert.

Nach dem Schock der Kulturrevolution, die eine Umwälzung in Unkultur und Barbarei war, wurden nicht nur die zerstörten Monumente, Denkmäler, Bildwerke, Bücher und Schriften vermisst und betrauert, sondern langsam dämmerte den Davongekommenen die Tiefe der inneren Zerstörung, die Maos Monsterwerk bewirkt hatte. Die Traumata sind heute noch lebendig und beeinflussen die Verhaltensweisen von Abermillionen. Auch bei den Deutschen, weniger den Österreichern, weil die immer jammernd sich nach ihren Untaten als Opfer beklagten und perfekt verdrängten, haben die Traumata aus der Nazizeit Nachwirkungen. Der Erfolg des Wirtschaftswunders wurde auch durch die 68er nicht wesentlich gestört. Ähnlich geht die Geschichte in China ihren vorgezeichneten Weg der Verdrängung: heute stört die Erinnerung an den Tian’anmen-Platz und dem Massaker vom 4. Juni 1989, soweit sie vielleicht noch hochkommt, niemanden mehr. Die Historie ist bereinigt, die Geisteswissenschaften und Literaturproduktion sind unter Kontrolle,  und fürs Geschäft hat man den bildenden Künstlern etwas mehr Freiheit gewährt, weil der Markt, die Kapitalisierung selbst eine Entwaffnungs- und Kontrollfunktion ausübt.

In Kambodscha, wo das Foltertodesregime von Pol Pot, je nach Schätzung, zwischen 1,7 bis 2,2 Millionen Opfer „produzierte“, waren neben der Hetzjagd und Verfolgung von Intellektuellen, Lehrern und Künstlern, auch Theater, Kinos, die bis dahin existierende Filmwirtschaft, Verlagshäuser, Bibliotheken, Klöster und Schulen zerstört worden. Eine beispiellose Vernichtungskampagne im Hass auf alle Wissenden, die das Regime, mit tatkräftiger Hilfe aus dem Ausland, zu bewerkstelligen versuchte und fast erfolgreich gewesen wäre. So konnte sich nach 30 Jahren blutigem Bürgerkrieg das Land langsam, langsam erholen. Aber die Bevölkerung ist zutiefst traumatisiert. Tempeltänzerinnen, wenn sie nicht vom Regime gefoltert, vergewaltigt und ermordet worden waren, können nicht einfach ihre Tänze wieder einüben und lernen, weil die Schriften und Bücher fehlen, die verbrannt worden waren. Die letzten Reste von „lebenden Büchern“, von Eingeweihten, die ihr Wissen mühsam erinnern und weitergeben, bilden die Quellen des Aufbaus.

Wenn ich beobachte, wie Angehörige solcher Gesellschaften die Bildung wertschätzen, wie sie mit einfachsten Mitteln versuchen Schriften zu retten und zu übertragen, wie die Kinder begeistert lernen und vorwärtskommen wollen in und mit ihrer Kultur, staune ich einfach über die Ignoranz, die ich hier in meinem Heimatland leidvoll erkenne. Hier prägen fürwahr nicht nur Bildungsferne das Bild, die (un)geistige Landschaft, sondern Bildungsunwillige oder gar Bildungsfeindliche.

Wenn ich sehen darf, wie einige beherzte Frauen in Kambodscha Tänze wieder einüben mit ihrer faszinierenden Liturgie feiner Bewegungen, staune ich über unsere verlogene Brauchtumskultur und die oberflächliche Geschäftigkeit für Ruhm und Geld.

Wenn ich die chinesische Künstlergeneration der Gegenwart mir ansehe (nicht nur den bei uns so gefeierten  Ai Wei Wei, sondern Cang Xin, Guo Jin, He Yunchang, Hu Jie, Huang Rui, Huang Zhiyang, Li Chen,  Liu Wei, Wang Luyan, Wang Shugang, Yang Yongliang, Yue Minjun, Zhang Xiaogang, Zhang Xiaoto, Zhao Zhao, Zhen Fanzhi, Zhu Qi und viele andere), ihre Werke betrachte, die Umstände der Produktionsbedingungen berücksichtige, das Ausmaß der Zensur und Verfolgung, der sozialen Ächtung in vielen Fällen, die ich wahrscheinlich nicht adäquat zu ermessen vermag, staune ich über unsere Künstlerinnen und Künstler, die sich oft und öfter in einer Art unverbindlicher Gartenlaubenneoromantik suhlen, wie man bei den „gehobenen“ Kunstshows als auch bei den Massenbeteiligungen wie den erfolgreichen niederösterreichischen Tagen des offenen Ateliers feststellen kann oder muss.

Dienstag, 17. Juli 2018

Westliche China-Klischees

Die chinesische Gefahr

Warum man sich Informationen lieber bei Le Monde Diplomatique holt als bei Österreichs neuer Außenministerin Karin Kneissl

Von Astrid Lipinsky, Literaturkritik.de 13.7.2018

 

Sonntag, 15. Juli 2018

Dekadenz?


Haimo L. Handl

Dekadente Zeiten?

Untergangsstimmungen gab es immer schon. Manchmal intensiv, epidemisch, dann wieder hochstilisiert in esoterischen Kreisen zirkulierend. Der Begriff „Dekadenz“ sollte das ausdrücken (Niedergang, Verfall). In Wikipedia wird angemerkt: „In der Geschichtswissenschaft hat man inzwischen den Dekadenzbegriff zur Charakterisierung gesellschaftlicher Entwicklungsabschnitte fallen lassen. Nur in der Dekadenzdichtung hat das Wort auch eine positive Bedeutung; im Sprachgebrauch überwiegt der abwertende Charakter.“

Aufgrund der rasanten technischen Entwicklungen könnte man behaupten, wir leben in einer prosperierenden Zeit mit hoher Entwicklungsgeschwindigkeit (wohin?), aber gleichzeitig zeigen sich, je nach Bewertungsmaßstäben, Rückentwicklungen oder Degenerationen bzw. Verfallserscheinungen. Die Bestimmung hängt wesentlich vom ideologischen Standpunkt ab: Gewinner – erfolgreich, dynamisch, entwicklungsorientiert versus Opfer – verlierend, peripher, verarmt. Da es aus vielerlei Gründen nicht opportun erscheint, als Starker, als Gewinner bzw. als Starke und Gewinnerin aufzutreten, weil dann ungeheuer viel Energie investiert werden müsste, um gegen die Meute der Opfer und ihren Anwälten sich behaupten zu können, erstarkte des Gerede, Geschreibe und Geschwafel von der Dekadenz, vom Untergang der Welt (früher beschränkte sich das noch aufs Abendland), vom Verfall.

Würde differenziert beschaut, bedacht und argumentiert werden, wäre es kein Problem, einerseits von Fortschritten zu sprechen, andererseits von Verlusten und Belastungen. Aber dieses feine Unterscheidungsvermögen haben nur wenige sich gebildet. Es ist auch nicht Ziel unserer Bildungseinrichtungen. Im Gegenteil: es geht um Vereinfachungen zwecks problemloser und schneller Kommunikation. Die Sprache wird primär auf den Mitteilungszweck reduziert, obwohl noch ästhetische Texte, Schriftstellerei betrieben und sogar gepriesen wird. Sieht man sich die gängigen Produkte an, erschrickt man allerdings über die Gleichförmigkeit, die Spracharmut gepaart mit einer Art von Themenfixierung, wie man sie seit den unguten Zeiten diktatorischer Regime und den gleichgeschalteten Mitläufern in Erinnerung hat, falls man nicht das moderne Vergessen pflegt in einer extremen Gegenwartsorientierung, der das Historische suspekt erscheint und unwichtig, „belastend“ als Ballast.

Schon früher wurde von manchem sich als Philosoph verstehenden Schreiber behauptet, alles ist gleich, alles ist möglich, anything goes. Mit der daraus folgenden Unverantwortlichkeit und „Wurstigkeit“ gelang es den Managern als auch den Kulturbetriebsangehörigen tatsächlich eine vielfältige, eigentlich widersprüchliche, im Kern aber gleichförmige Gesellschaft aufzubauen, in der die Reichen, wie früher, reicher werden, und die Armen ärmer, aber alles garniert und sogar durchdrungen von Programmen der erwünschten Gleichheit und Freiheit. Keine Verantwortung von niemandem bzw. allgemeine Kollektivverantwortung ohne Folgen für Einzelne. Freiheit überall, außér im Wesentlichen, im Einzelnen. Es regiert das Kollektiv, obwohl es keine Kolchosen mehr gibt und Parteikaderschulen und GULAGS oder KZ. Eine moderne Art des durchdringenden, beobachtenden, überwachenden, total erfassenden Kollektivs regiert und wird täglich gestärkt durch die „freiwillige“ Kollaboration von Millionen und Milliarden, die die Systeme glücklich, fast berauscht, mit ihren Daten füttern, um endlich die verhasste Privatsphäre zu vernichten, wie sie bis anhin von keinem Regime, auch den grausamsten nicht, vernichtet worden ist. Es lösen sich Gegensätze auf, alles scheint in einem Einheitsbrei zu schwimmen. Da wird auch die Rede von Fortschritt und Dekadenz obsolet, überflüssig.

Im Kulturbereich halten sich einige Scharmützel und Gefechte etwas länger, werden sogar mit staatlicher und privater Kulturförderung länger am Leben gehalten. Dort liest und hört und sieht man verwegenes Regietheater in seinen Modernisierungsbemühungen, dort hört man Industrielärm als Musik bzw. einpeitschende Rhythmen zum Training depravierter Opfer, die für kurze Zeit meinen sich „finden“ zu können in einem „Rausch“ oder „Genuss“, ähnlich den johlenden Massen, die ihre schiere Vertierung im Fußballstadium demonstrieren, was wiederum tausenden von Sozialarbeitern, Coaches, Soziologen usw. Stoff gibt zu klären, wie weit heute wieder Tragödie erfahrbar ist, nicht im bürgerlichen Theater oder Opernhaus, sondern im Stadion. Völkerverständigung über gewaltige Spiele, die die Massen enthemmen. Katharsis weltweit. Zugleich Einübung für die nächste Formierung, wenn’s wieder auf den realen Kampfplatz geht jenseits des Sports hin zum eigentlichen Geschäft, zum Krieg. Und auch die Literatur bleibt nicht außen vor. X Tausende von Preisen belegen ihre offizielle Bedeutung, kurbeln den Buchmarkt an, schönen das nationale Image, graben Gräben zwischen Konkurrierenden, auch auf staatlicher Ebene und lassen den Künstlerinnen, soweit noch einige der Schritstellerinnen solche sind, keinen Freiraum für Eigenheiten, sondern nur für nach approbierten Maßstäben Geliefertes. Aber alle fühlen sich wohl, danken für die Preisgelder, die vielen Einladungen zu Talk Shows und Lesungen und Interviews und Porträts und Vorträgen, und erfüllen damit ihre soziale, politische und ideologische Rolle.

Die Reinigung der Bibliotheken von altem, verbrecherischem oder einfach obsoletem Zeug ist noch nicht so weit fortgeschritten, wie sich das einige Eifrige wünschen, aber der Purifikationsprozess gewinnt an Geschwindigkeit und Präzision. Da sind die Sprachreinigungsprogramme und Forderungen nach politischen Maßnahmen, damit die Frauen, die Paradeopfer, die Ausgebeuteten, die Verhinderten, die Behinderten endlich nicht nur gleiche Rechte eingeräumt erhalten, z.B. gleicher Lohn für gleiche Arbeit, sondern mehr Rechte, sozusagen aus Ausgleich und Rache an der überlangen, historischen Ausbeutung durch Männer. Dieser Kampf wird vor allem im sogenannten Westen gefochten, wo die Entwicklung zwar nicht vorzüglich, aber doch besser als sonst irgendwo ist hinsichtlich der Rechte für Opfer und Frauen. In den islamischen Ländern oder afrikanischen sehen diese Frontkämpferinnen aber nur Opfer (wahrscheinlich sogar dann, wenn sie, falls sie mal solche Gesellschaften aufsuchen und länger als ein paar Tage dort leben, selbst „dran glauben müssen“. Das ist dann wahrscheinlich der Preis für die Überzeugung, denn sie wissen ja nicht, was sie tun, das wussten und wissen nur die Nazis und modernen Verbrecher bei uns…)

Man findet also noch Klassiker, die den modernen Auffassungen total widersprechen, man findet auch viel Schmock und Schonz und Kitsch, was aber eh niemanden aufregt. Noch darf man sogar als Nazi verschriene Autoren lesen, wie Benn oder Heidegger, oder Antisemiten wie Céline. Es werden auch Studien druchgeführt und publiziert über die schandvollen Figuren. Noch geht das. Morgen, wenn die herrschende Dekadenz geschwächt sein wird und das Regime der Korrekten gestärkt, wird das anders sein. (Bemerkenswert, dass die fanatischen Reiniger sich nicht der historischen Vorbilder erinnern und ihres Versagens im Bildungs- und Erziehungsprozess: DDR und USSR. Die DDR ist, staatlich, geografisch, nicht aber in den Köpfen, untergegangen und die USSR hat sich wie eine Raupe entpuppt zu einem neuen Regime mit Kadern und Sklaven, mit Oligarchen und Krisengewinnlern.)

„Ich halte mich dies Mal nur bei der Frage des Stils auf. — Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence? Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen — das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichniss für jeden Stil der décadence: jedes Mal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, „Freiheit des Individuums“, moralisch geredet, — zu einer politischen Theorie erweitert „gleiche Rechte für Alle“. Das Leben, die gleiche Lebendigkeit, die Vibration und Exuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest arm an Leben. Überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung oder Feindschaft und Chaos: beides immer mehr in die Augen springend, in je höhere Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt. —“ (Nietzsche, Der Fall Wagner 1888)

Was Nietzsche vor 130 Jahren notierte, ist nicht historisch abgeschlossen, sondern zeigt sich auch in der Gegenwart, sogar intensiver, als es früher war bzw., allein schon wegen der technischen Möglichkeiten, der Fall sein konnte. Wenn heute ein Experte vom „Werkbegriff“ spricht, wie Karlheinz Stierle in seinem Buch „Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff, 1997) als Kritik bzw. Zurückweisung der Standpunkte der postmodernen Verächter des Werkbegriffs, macht er sich verdächtig. Innert der letzten 20 Jahre ist die Toleranzbreite für Randsichten oder Außenseiter-Modelle geschrumpft, vor allem, wenn jemand wie Stierle behauptet, dass ein Werk des Verstehens und der Interpretation bedarf. Er stellt sich gegen die Alleinherrschaft des Fragmentarischen oder Unabgeschlossenen. Das ist heute eine Sünde.

Unsere fortschrittliche Zeit, die überaus bemüht ist, Gleichheit und Gerechtigkeit zu schaffen, obwohl das Eine dem Anderen fundamental widerspricht, ist in eine Dekadenz gekippt, die sie als solche nicht wahrnimmt. Es ist, als ob sie es nicht vermöchte, aus dem Kreisel der immerwährenden Wiederholungen herauszutreten, und neue Wege zu beschreiten. Die Vereinfachungen, die Simplifikationen einerseits, die höchstentwickelte Technologie andererseits überdecken die Systemschwächen, den partiellen Verfall und vergewissern den vermeintlichen Fortschritt. Wir leben wahrlich in interessanten Zeiten.