Sonntag, 31. Dezember 2017

Lese- & Denkabenteuer: Funktionsdeutsch



Haimo L. Handl

Das Funktionsdeutsch folgt der Vernunft des Nutzendenkens; es hat sich solide aus der Ideologie des Utilitarismus und Opportunismus entwickelt und gefestigt, so dass heute nur wenige sich eine andere Sprache vorstellen können bzw. solch eine gebrauchen.

Die Nazis werden gemeinhin als Blut- und Bodenmythologen, rückwärtsgewandt und erzkonservativ gesehen. Das waren sie. Aber nicht nur. Das eigentümliche Phänomen bestand im gelebten Widerspruch zwischen atavistischen mythologischen und pseudomythologischen Formen und modernster Innovation, zwischen dem irrationalen Anspruch einer arischen Physik und hochentwickelter Raketentechnik. Die deutschen Wissenschaftler schufen trotz Naziterror und Kriegswirren bis zuletzt hochwertige Forschung und hätten bei etwas anderen realen Bedingungen (Ressourcen, Zeit) sogar die Erkenntnisse von Otto Hahn über die Kernspaltung zur „Reife“ gebracht, was aber unter anderem auch vom bedeutenden Physiker Werner Heisenberg aus Sorge um die Kriegsentwicklung verhindert wurde (es waren also nicht nur reale Faktoren bestimmend, auch ideologische).

Die schizophrene Haltung ist auch in unserer Gegenwart vielerorts und vielerarts beobachtbar: die Bevölkerung unserer Leitmacht USA ist ziemlich ungebildet, die Politik borniert und kriegsorientiert, trotzdem bestimmen die USA die wissenschaftliche Entwicklung, Nordkorea ist ein Sklavenstaat, funktioniert aber hinsichtlich der militärischen, modernen Aufrüstung; Saudi Arabien hält an seiner finsteren, mittelalterlichen Ideologie fest, unterhält aber die modernste Armee, vernichtet in Kriegen Nachbarländer und stört, wie viele andere auch, den Weltfrieden. Israel nennt sich eine Demokratie, ist aber nach Herkunftskriterien (Abstammung) rassistisch organisiert, führt seit seiner Installierung Krieg und droht öfters mit Atomschlägen.

Das Funktionsdeutsch vermag solche Widersprüche zu glätten, wie das von der Werbung verbildete English, womit, in einer Anreicherung von Euphemismen, stärker als während der Nazi- und Bolschewikenzeit, die permanente Täuschung, die tägliche Lüge (ein)geübt wird.

Pseudomenos. – Die magnetische Gewalt, welche die Ideologien über die Menschen ausüben, während sie ihnen bereits ganz fadenscheinig geworden sind, erklärt sich jenseits der Psychologie aus dem objektiv bestimmten Verfall der logischen Evidenz als solcher. Es ist dahin gekommen, daß Lüge wie Wahrheit klingt, Wahrheit wie Lüge. Jede Aussage, jede Nachricht, jeder Gedanke ist präformiert durch die Zentren der Kulturindustrie. Was nicht die vertraute Spur solcher Präformation trägt, ist vorweg unglaubwürdig, um so mehr, als die Institutionen der öffentlichen Meinung dem, was sie aus sich entlassen, tausend faktische Belege und alle Beweiskraft mitgeben, deren die totale Verfügung habhaft werden kann. Die Wahrheit, die dagegen anmöchte, trägt nicht bloß den Charakter des Unwahrscheinlichen, sondern ist überdies zu arm, um in Konkurrenz mit dem hochkonzentrierten Verbreitungsapparat durchzudringen.
Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben: Pseudomenos. GS 4:122

Heideggers Beschwerden gegen Kulturphilosophie haben in der Ontologie der Eigentlichkeit verhängnisvolle Folgen: was sie anfangs bloß in die Sphäre kultureller Vermittlung verbannt, stößt sie unverweilt weiter in die Hölle. Der freilich ist die Welt ähnlich genug, eingetaucht in eine trübe Flut von Geschwätz als der Verfallsform von Sprache. Karl Kraus hat das zu der These verdichtet, die Phrase gebäre heute die Wirklichkeit; zumal jene, die unter dem Namen Kultur nach der Katastrophe auferstand. Sie ist, wie Valéry die Politik definierte, in weitem Maß nur noch dazu da, die Menschen von dem abzuhalten, was sie etwas angeht. Eines Sinnes mit Kraus, den er nicht erwähnt, sagt Heidegger in Sein und Zeit: »Das Hören und Verstehen hat sich vorgängig an das Geredete als solches geklammert.« So schalten der Kommunikationsbetrieb und seine Formeln sich zwischen die Sache und das Subjekt und verblenden es gegen eben das, worauf das Geschwätz sich bezieht. »Das Geredete als solches zieht weitere Kreise und übernimmt autoritativen Charakter. Die Sache ist so, weil man es sagt.«
Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. GS 6:480

Die vollständige Verdeckung des Krieges durch Information, Propaganda, Kommentar, die Filmoperateure in den ersten Tanks und der Heldentod von Kriegsberichterstattern, die Maische aus manipuliert-aufgeklärter öffentlicher Meinung und bewußtlosem Handeln, all das ist ein anderer Ausdruck für die verdorrte Erfahrung, das Vakuum zwischen den Menschen und ihrem Verhängnis, in dem das Verhängnis recht eigentlich besteht. Der verdinglichte, erstarrte Abguß der Ereignisse substituiert gleichsam diese selber. Die Menschen werden zu Schauspielern eines Monstre-Documentairefilms herabgesetzt, der keine Zuschauer mehr kennt, weil noch der letzte auf der Leinwand mittun muß. Eben dies Moment liegt der vielgescholtenen Rede vom phony war zugrunde. Sie entspringt gewiß aus der faschistischen Stimmung, die Realität des Grauens als »bloße Propaganda« von sich zu weisen, damit das Grauen einspruchslos sich vollziehe. Aber wie alle Tendenzen des Faschismus hat auch diese ihren Ursprung in Elementen der Realität, die sich nur eben gerade kraft jener faschistischen Haltung durchsetzen, die hämisch auf sie hindeutet. Der Krieg ist wirklich phony, aber seine phonyness schrecklicher als aller Schrecken, und die sich darüber mokieren, tragen vorab zum Unheil bei.
Adorno: Minima Moralia: Weit vom Schuß.  GS 4:61

Die Beobachtungen von Adorno haben sich in der Gegenwart extrem verstärkt. Seit der Einrichtung der sogenannten social media grassieren die Desinformation und die Uninformiertheit in einem eigentümlichen Widerspruch zum technischen Niveau der modernen Kommunikationsmittel. Die Dystopien älteren Datums von George Orwell („1984“, 1948) und Aldous Huxley („Brave New World“, 1932) scheinen aktuell, nur im technischen Standard der Vergangenheit verhaftet, nicht jedoch im Ungeist! Was Adorno zur „vollständigen Verdeckung des Krieges durch Information“ bemerkte, lässt sich bei Karl Kraus in seinem Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ (1915-1922) in vielen Szenen, Zitaten aus dem damaligen Alltag, nachlesen.

Der Satiriker aus Wien, der Meister der Sprache, der zornige Moralist und Kritiker, schrieb wuchtige und zugleich schneidende und bissige Sätze (Aus: Kraus, Die Fackel 404, 5. Dez. 1914; später publiziert in „Weltgericht“):

In dieser großen Zeit
die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht —; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Missdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen der Phantasiearmut, wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, muß das, was nicht gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird, unaussprechlich. Erwarten Sie von mir kein eigenes Wort. Weder vermöchte ich ein neues zu sagen; denn im Zimmer, wo einer schreibt, ist der Lärm so groß, und ob er von Tieren kommt, von Kindern oder nur von Mörsern, man soll es jetzt nicht entscheiden. Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal verächtlich. Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige! Auch alte Worte darf ich nicht hervorholen, solange Taten geschehen, die uns neu sind und deren Zuschauer sagen, daß sie ihnen nicht zuzutrauen waren. Mein Wort konnte Rotationsmaschinen übertönen, und wenn es sie nicht zum Stillstand gebracht hat, so beweist das nichts gegen mein Wort. Selbst die größere Maschine hat es nicht vermocht und das Ohr, das die Posaune des Weltgerichts vernimmt, verschließt sich noch lange nicht den Trompeten des Tages.

Wer den Besitzstand erweitern will und wer ihn nur verteidigt — beide leben im Besitzstand, stets unter und nie über dem Besitzstand. Der eine fatiert ihn, der andere erklärt ihn. Wird uns nicht bange vor irgendetwas über dem Besitzstand, wenn Menschenopfer unerhört geschaut, gelitten wurden und hinter der Sprache des seelischen Aufschwungs, im Abklang der berauschenden Musik, zwischen irdischen und himmlischen Heerscharen, eines fahlen Morgens das Bekenntnis durchbricht: »Was jetzt zu geschehen hat, ist, daß der Reisende fortwährend die Fühlhörner ausstreckt und die Kundschaft unaufhörlich abgetastet wird«! Menschheit ist Kundschaft. Hinter Fahnen und Flammen, hinter Helden und Helfern, hinter allen Vaterländern ist ein Altar aufgerichtet, an dem die fromme Wissenschaft die Hände ringt: Gott schuf den Konsumenten! Aber Gott schuf den Konsumenten nicht, damit es ihm wohl ergehe auf Erden, sondern zu einem Höheren: damit es dem Händler wohl ergehe auf Erden, denn der Konsument ist nackt erschaffen und wird erst, wenn er Kleider verkauft, ein Händler. Die Notwendigkeit, zu essen, um zu leben, kann philosophisch nicht bestritten werden, wiewohl die Öffentlichkeit dieser Verrichtung von einem unablegbaren Mangel an Schamgefühl zeugt.
Kultur ist die stillschweigende Verabredung, das Lebensmittel hinter dem Lebenszweck abtreten zu lassen. Zivilisation ist die Unterwerfung des Lebenszwecks unter das Lebensmittel. Diesem Ideal dient der Fort- schritt und diesem Ideal liefert er seine Waffen.

Wo alle Kraft angewandt wurde, das Leben reibungslos zu machen, bleibt nichts übrig, was dieser Schonung noch bedarf. In solcher Gegend kann die Individualität leben, aber nicht mehr entstehen. Mit ihren Nervenwünschen mag sie dort gastieren, wo in Komfort und Fortkommen rings Automaten ohne Gesicht und Gruß vorbei und vorwärtsschieben. Als Schiedsrichter zwischen Naturwerten wird sie anders entscheiden.

Die Tyrannei der Lebensnotwendigkeit gönnt ihren Sklaven dreierlei Freiheit: vom Geist die Meinung, von der Kunst die Unterhaltung und von der Liebe die Ausschweifung.

Die Oberfläche sitzt und klebt an der Wurzel. Die Unterwerfung der Menschheit unter die Wirtschaft hat ihr nur die Freiheit zur Feindschaft gelassen, und schärfte ihr der Fortschritt die Waffen, so schuf er ihr die mörderischeste vor allen, eine, die ihr jenseits ihrer heiligen Notwendigkeit noch die letzte Sorge um ihr irdisches Seelenheil benahm: die Presse. Der Fortschritt, der auch über die Logik verfügt, entgegnet, die Presse sei auch nichts anderes als eine der Berufsgenossenschaften, die von einem vorhandenen Bedürfnis leben.

Kraus liest sich, als ob seine Texte eine Vorlage für die vehemente Kulturkritik von Horkheimer und Adorno gewesen sei, so scharf, dass die Normalköstler ihn vermieden wie Gift, weil sie die ungeschminkte Aufdeckung, das offene Benennen, nicht ertragen wollten. Kraus befindet die Sprache und Sprachentwicklung in einer Weise, die einer Prophetie gleichkommt; dass die Deformation allerdings Maße annimmt wie heutzutage durch das Internet und die asocial media, konnte auch er mit aller Phantasie nicht erahnen.

Ist die Presse ein Bote? Nein: das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt nicht nur den Anspruch, daß die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, daß Taten zuerst berichtet werden, ehe sie zu verrichten sind, oft auch die Möglichkeit davon, und jedenfalls der Zustand, daß zwar Kriegsberichterstatter nicht zuschauen dürfen, aber Krieger zu Berichterstattern werden. In diesem Sinne lasse ich mir gern nachsagen, daß ich mein Lebtag die Presse überschätzt habe. Sie ist kein Dienstmann — wie könnte ein Dienstmann auch so viel verlangen und bekommen —, sie ist das Ereignis. Wieder ist uns das Instrument über den Kopf gewachsen. Wir haben den Menschen, der die Feuersbrunst zu melden hat und der wohl die untergeordnetste Rolle im Staat spielen müßte, über die Welt gesetzt, über den Brand und über das Haus, über die Tatsache und über unsere Phantasie. (Kraus: In dieser großen Zeit)

Kraus seziert und weist auf und nach, wie das System deformiert, umkehrt, lügt, und wie alles vernünftig, folgend den Sachzwängen, wahrlich „wahr“ erscheint. Er demonstriert ein Lesevermögen, das später Schwätzer „close reading“ nennen, bleibt aber nicht bei Formen, sondern entlarvt Funktionen: er geißelt das Funktionsdeutsch und das Funktionärsdenken, das Regime der Apparatschiks, das nicht nur die tödliche Bürokratie der Bolschewiki und ihrer Schergen auszeichnete, sondern auch im modernen Westen zur gut geschmierten Verwaltung kapitalistischer Ausbeutung gehört.

Er [der Reporter] hat durch jahrzehntelange Übung die Menschheit auf eben jenen Stand der Phantasienot gebracht, der ihr einen Vernichtungskrieg gegen sich selbst ermöglicht. Er kann, da er ihr alle Fähigkeit des Erlebnisses und dessen geistiger Fortsetzung durch die maßlose Promptheit seiner Apparate erspart hat, ihr eben noch den erforderlichen Todesmut einpflanzen, mit dem sie hineinrennt. Er hat den Abglanz heroischer Eigenschaften zur Verfügung und seine missbrauchte Sprache verschönt ein mißbrauchtes Leben, als ob die Ewigkeit sich ihren Höhepunkt erst für das Zeitalter aufgespart hätte, wo der Reporter lebt. (Kraus: In dieser großen Zeit)

„Seine missbrauchte Sprache verschönt ein mißbrauchtes Leben“. Aber der Missbrauch wird nicht dort bemerkt, wo er erfolgt. In der Opferkultgesellschaft hat die Vokabel „Missbrauch“ durch inflationären Gebrauch ihre Bedeutung verloren, sie wurde zum Anhängsel, zum Schnörkel. Mit der deformierten Sprache des Funktionsdeutsch lassen sich Wahrheiten nicht mehr einfach kommunizieren. The alternative facts und the fake news haben fast alles infiziert und verhindern offenes Denken, zumindest für die Mehrheiten der Bevölkerungen in den riesigen Sklavenheeren aller Nationen.

Von der Quantität, die der Inhalt dieser Zeit ist, fällt auf jeden von uns ein Teil, das er gefühlsmäßig verarbeitet, und das Gemeinsame wird uns durch Draht und Kino so anschaulich gemacht, daß wir zufrieden nachhause gehen. Hat uns aber der Reporter durch seine Wahrheit die Phantasie umgebracht, so rückt er uns ans Leben durch seine Lüge. (Kraus: In dieser großen Zeit)

In unserer Nutzengesellschaft regiert das Quantitative als Ziel und Vorgabe. Besonders in den social media gilt die hohe Zahl von Anhängern (friends) und unreflektierten Pseudourteilen (likes). Qualität stört, in den menschlichen Beziehungen, in der Politik, in den Wissenschaften. „Wahrheit“ ist ein Handelsgut, eine teure Droge, die smart verhökert wird.

Die Schlusssätze seines Aufsatzes klingen, als ob er sie für heute geschrieben hätte:

Möge die Zeit groß genug werden, daß sie nicht zur Beute werde eines Siegers, der seinen Fuß auf Geist und Wirtschaft setzt! Daß sie den Alpdruck der Gelegenheit überwinde, in der der Sieg zum Verdienst der Unbeteiligten wird, die verkehrte Ordensstreberei sich ihrer Ehren entäußert, die gerade Dummheit Fremdwörter und Speisennamen ablegt und in der Sklaven, deren letztes Ziel ihr Lebtag war, Sprachen zu »beherrschen«, fortan mit der Fähigkeit durch die Welt kommen wollen, Sprachen nicht zu beherrschen! — Was wißt ihr, die ihr im Kriege seid, vom Krieg?! Ihr kämpft ja! Ihr seid ja nicht hier geblieben! Auch denen, die für das Leben das Ideal geopfert haben, ist es einmal vergönnt, das Leben selbst zu opfern. Möge die Zeit so groß werden, daß sie an diese Opfer hinanreicht, und nie so groß, daß sie über ihr Andenken ins Leben wachse! (Kraus: In dieser großen Zeit)

Die sprachlose Gesellschaft, die mehr auf ihr verstümmeltes Gefühl gibt als auf Verstand und Sprache bzw. Sprachbeherrschung, schickt sich an weiter zu stammeln, stöhnen, husten, blöken und grunzen in ihrer dummen Unduldsamkeit und Wertlosigkeit.

Eine der Funktionen des Funktionsdeutsch ist die Propaganda. Ähnlich den Buchhaltern, Inventurbeamten und Rapporteuren verhalten sich die Funktionäre und Propagandisten: sie stellen ihre Sprache in den Dienst der Sache, sei es der Kirche oder Religion oder, was am häufigsten vorkam in jüngster Geschichte, der Partei. Sie opfern das offene Feld der sprachlichen Kreativität, sie leugnen jeden Wert von ihr jenseits des Funktionalen, der Geste, der Mitteilung, der Erziehung. Sie filtern und bringen den Kommandoton zum Klingen und Brausen, sie quasseln von neuer Sachlichkeit und Einfachheit als Gegenstück zur Verlogenheit des Bürgerlichen, der Dekadenz, sie gewöhnen die Gehöhnten, die Kommandierten ans Kadergebrüll. Sie bringen Form und Inhalt schier zur Deckung, weshalb ihre Sprache so naturalistisch scheint, so klar wie am Kasernenhof oder im Hinrichtungshof. Tausende von Schergen und Mitläufern der Nazis und Bolschewiki stehen für diesen Menschenschlag, diese Sprachverkümmerten, Verbogenen. Bemerkenswert, dass die von der linken Seite bis heute geschätzt, überschätzt werden, als ob ihre ideologische Position sie adele, obwohl sie am Kulturniedergang, nicht nur im fernen China der infamen Unkulturrevolution, aktiv teilnahmen und die Sprache, ja das Denken selbst, verschmutzten, verseuchten, nachhaltig deformierten. An den Spätwirkungen laborieren die Nachfolgenationen und Gesellschaften heute noch.

Bert Brecht, ein Agent dieser Parteigänger, wird vom ostdeutschen Autor Uwe Kolbe in seinem Buch „Brecht“ (Frankfurt/M. 2016) werkbiografisch aufgeblättert. Trotz aller Kritik versteigt sich Kolbe nicht zu einer pauschalen Verurteilung, hebt die vielen faszinierenden, widersprüchlichen Aspekte von Brechts Werks heraus. Die Machoseiten des womanizers Brecht bilden nicht den Hauptkritikpunkt. Die Bilanz fällt aber, zu recht, insgesamt negativ aus.

In der heuer publizierten Biografie „Tanz auf dem Pulverfass. Gottfried Benn, die Frauen und die Macht“ denunziert der 1955 geborene Autor Wolfgang Martynkewicz in bekannter Manier Benn als opportunistischen Saukerl und Nazi, der er bis zu seinem Tode gewesen sei, ohne auf die Dichtungen einzugehen; aus den Essais wählt er nur solche aus, die er smart negativ kommentieren kann. Diese unsaubere Methode eines gequälten Ideologen liegt Uwe Kolbe bei aller Kritik fern.

Während Kolbe als „Betroffener“ auf Person und Werk von Brecht eingeht, haut der Ideologe Martynkewicz wüst auf Benn ein. Man wundert sich, weshalb er über so eine verabscheuungswürdige Person überhaupt eine Arbeit verfasst und gewinnt den Eindruck, dass mit der Ausblendung des Dichterischen die eingeübte Haltung der Personenfokussierung bestätigt wird, des denunziatorischen Schlüssellochblicks, der sich in einer reporterhaften, rapportierenden Sprache, ganz wie bei den Authentitätsaposteln, entäußert, ausbrunzt. Martynkewicz gibt ein gutes, das heißt schlechtes Beispiel eines Schreibtischtäters. Wäre er in ähnlicher Funktion im Kader in der DDR gewesen, oder gar als ZK-Mitglied, seine „Auserwählten“ hätten die drastische Umsetzung seiner Worte, seiner Ideologie als „Wahrheit“ authentisch zum Spüren bekommen. Man darf nicht vergessen, dass die DDR es nicht bei Worten beließ, sondern „nachhalf“: sie förderte tagtäglich ihren eigenen Naturalismus und Realismus im reibungslosen Funktionieren. Martynkewicz hätte prima reingepasst in diese Funktionsmaschinerie.  Aber weil er seinen Gegenstand verpasst, befriedigt sein Auswurf weite degenerierte Leserinneninteressen. In jedem ernstzunehmenden Seminar würde negativ abgewertet werden, dass eine Dichterbiografie, die die Dichtung ausspart, negiert, keine ist. Das Machwerk verfolgt andere Zwecke. Der Aufbau Verlag in Berlin ist damit eigentlich ein Abbau-Verlag.

Wenn man die Figur Benn auf einige private Seiten hin reduziert und diese vergrößert und verzerrt, wie eine Karikatur, darstellt, verdeckt man den Blick aufs Wesentliche, wenn man zum Wesentlichen eines Dichters seine Dichtung rechnet. Im Beitrag „Vom Überleben des Wortes. César Vallejo und Gottfried Benn“ (NEUE RUNDSCHAUI 128/2 2017) bedenkt der Autor Eberhard Geisler einige Aspekte des dichterischen Schreibens beider Autoren. Er liefert damit nicht nur eine interessante Komparatistik, sondern erhellt auch wesentliche Fragen der Dichtung. Eine empfehlenswerte Lektüre, wenn man sich mit der voyeurhaften Schlüssellochperspektive nicht zufrieden gibt. Seine Ausführungen evozierten mir unwillkürlich das Bild eines ganz anderen Dichters, Joseph Brodsky, und dessen Überlegungen zur Poesie bzw. Poetik. Die Problematik von Eindruck & Ausdruck bzw. Ausdruckslosigkeit (Inhalt & Form) gewinnt Kontur, das Problem des Belanglosen und nicht zufällig erwähnt Geisler Botho Strauß bzw. das Konzept der Sekundarität, des Kommentars vor dem Original, wie es George Steiner in seinem Werk „Real Presences“ ausgebreitet hat. (Dass hinter dem Problem der Belanglosigkeit das Denken von Kierkegaard steht oder vermutet werden darf, erweitert nur die Komplexität, wenn man denn will und sich auf den Weg macht…)

Kolbe, andererseits, skizziert kurz das Literaturverständnis von Brecht, der ein Reformer, ein Luther war, und erklärt das daraus resultierende Sprachverständnis:

„Dichter Brecht und Luther, der Mönch, lasen gemeinsam das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels. … Zu lesen stand das Ergebnis im ABC des Kommunismus von Nikolai Bucharin und Jewgeni Preobraschenski. … Brecht und Luther lasen dort zum Beispiel, dass das Programm der Kommunistischen Partei „nicht aus dem Kopf erdichtet werden dürfte, sondern aus dem Leben genommen werden müsse. … Musste da noch jemand die Erfindung einer gestischen Sprache in Anspruch nehmen? Brecht tat es. Und er stellte sein Licht nicht unter den Scheffel: „Der Dichter Kin-Jeh darf für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, die Sprache der Literatur erneuert zu haben. … [Er] erkannte die Sprache als ein Werkzeug des Handelns“, protzt er in den 30er Jahren in seinem Buch der Wendungen. [Anmerkung HLH: Hat noch nichts mit Wende und Wendehalsideologie und –literatur zu tun!] Großartig! Nur war sie schon da, die Sprache, zur Funktionalität geklärt, im Dienste der Sache [Anmerkung HLH: Brecht, der Dienstmann, der Funktionär als Sachverwalter]. Die Propagandasprache, die sich an „das Volk“ wendete, war auf den Zweck, auf die nachvollziehbare Geste aus und ergab so etwas wie Literatur als Uhrwerk.“ (Kolbe: Brecht S.20 ff)

Die neue Sachlichkeit, die Reportage, die Propaganda, die Erziehung, die Ideologie triumphierten und wuchsen und grassierten und verseuchten die Sprache, das Denken, das Handeln. Brecht war zum Handlanger geworden, seine Sprache, sein Amtsdeutsch ein Teil der Bürokratie, der instrumentalisierten Unmenschlichkeit, der Lüge. 2 x 2 war nun 5.

Man mag sich an Anmerkungen, kritische und hagiografische, zu Brecht erinnern. Czesław Miłosz notiert in seinem schmalen Buch „Das Zeugnis der Poesie (Hanser 1984; Orig. aufgrund von Lectures in Harvard 1983 Harvard UP) bemerkt ganz bissig an den Namen Brecht und Majakowski das Abgründige, das Hässliche und Verachtende:

Die Ansichten der Autoren sind bekanntlich kein ausreichender Schlüssel für ihre Werke. Zuweilen stehen sie sogar in Widerspruch zu diesen Werken. Was hilft es schon, daß so viele Autoren unseres Jahrhunderts sich für die Revolution ausgesprochen haben, wenn der Mensch in ihrem Schaffen nicht als einer erschien, der würdig wäre, die Umwandlung zu erfahren, sondern eher als Wanze, wie eines der Stücke Majakowski betitelt ist. Man rechtfertigte dieses dunkle Bild, indem man sich auf die erste und oberste Pflicht bei der Kapitalismuskritik berief. Doch stellten beispielsweise bei Bertolt Brecht Gehässigkeit und Verachtung so substanzielle Bestandteile seiner Stücke dar, daß das klare Bewußtsein, zu dessen Erlangung der Mensch angeblich befähigt sein soll, an die hypothetische Erlösung bei einigen christlichen Autoren erinnert, die sich in Wahrheit viel lieber der Schilderung der Sünde widmen. Nach der russischen Revolution schrieb Majakowski eine gigantische bewunderungswürdige Rhetorik, doch die Wahrheit wohnte nicht in ihr, sondern in den mit leiser Stimme gesprochenen Gedichten von Ossip Mandelstam und Anna Achmatowa, die im nachrevolutionären Rußland die Bestätigung der schlimmsten Ahnungen Dostojewskis fand.
(Miłosz, Zeugnis der Poesie, S. 27)

Miłosz nennt auch jenen bedrohlichen Zustand, den wir schon bei Karl Kraus und Theodor W. Adorno angemerkt fanden: die Kollaboration durch falsche Teilhabe:

Wir alle nehmen teil an den Wandlungen der Weltanschauung, die unabhängig sind von unserem Willen, und wir versuchen, ihre Radikalität zu mildern, indem wir die Dinge nicht bis zu Ende denken. Nur wenige besitzen den nötigen Mut, um sich zu brutal einfachen Feststellungen durchzuringen.
(Miłosz, Zeugnis der Poesie, S. 58)

Der Normalbürger als Mitläufer, vernünftiger Opportunist, geführt und gefördert von den Führern, die heute Manager heißen, den Parteigängern, den Profiteuren, den Kollaborateuren. Die freiwillig sich einrichten im gebeugten Gang, im Kriechen und Lavieren, die froh sind, dass die Öffentlichkeit so stark zensuriert und Folgschaft fordert, weil sie das persönlicher Verantwortung enthebt. Die ach so viele Vernunftgründe fürs Mitmachen anführen, ganz so wie Majakowski, wie Brecht, im Dienst der guten Sache, nicht nur zum Lob des Großen Vaters, Stalin, sondern fürs Konzept des Neuen Menschen, dem alles geopfert wurde, was im Wege schien. Und im Weg stand das eigene, individuelle Denken. Das galt es auszumerzen, die Unteren auf Linie zu bringen. Einerseits durch feinstimmig kalkulierte Propaganda, andererseits durch harschen Terror, Verfolgung und Folter. Um dieses Gebräu, dieses Gemisch von Zuckerbrot und Peitsche erfolgreich zu gestalten, gaben sich Parteigänger wie Bertolt Brecht her.

Aber auch Feinsinnige, wie der Philosoph Ernst Bloch, priesen Stalin und propagierten seine Wichtigkeit und Richtigkeit. Viele andere auch. Und heute noch verteidigen Nachfahren und Nachfolger Stalin gegen andere Massenmörder. Während Benn oder Heidegger oder Ernst Jünger wegen ihres reaktionären Denkens und Nazismus von vielen verurteilt werden, existiert für die offiziell „linken“ Autoren eine befremdliche Nachsicht, ein wesentlicher Unterschied. So, wie Stalins Massenmorde und sein Terror als nicht so schlimm gesehen werden, wie die Untaten von Hitler und seinen Schergen, so wertet man auch im Nachhinein die Opfer ab: es wird skandalös auf- und abgerechnet und gewogen: Naziopfer rangieren an oberster Stelle, Opfer der Bolschewiki oder der DDR-Genossen sind verzeihliche Kollateralschäden. Dies alles in einer Sprache der Neoscholastik, der sich besonders die linken Menschheitsbeglücker lügenhaft bedienen.

Sabrina Habel, Jahrgang 1985, die gegenwärtig als Literaturwissenschaftler in Zürich arbeitet, liefert in SINN UND FORM 2017/3 eine widerliche Hagiografie für Bertolt Brecht mit dem vielsagenden Titel „Wahrheitskunst – Brechts Anleitung zum richtigen Lesen“, indem sie einen Text von ihm, „Anleitung zum richtigen Lesen“ unkritisch, also unserer Zeit entsprechend, interpretiert. Schon der Titel transportiert eine verwegene Umkehrung und Verdrehung: Als ob Brecht je eine Wahrheitskunst gepflegt hätte, ganz unabhängig davon, was so eine Kunst sei oder sein könnte, als ob ein Anspruch, den Sektenvertreter genauso stellen wie Propagandisten oder Werbefachleute, schon Wahrheit generiere. Zweitens unterstellt der Titel, dass es Brecht um „richtiges Lesen“ gegangen sei. Angesichts seiner Ideologie, seiner Kollaborationen, seiner feigen Verrate (Mitarbeiterinnen, Genossen), seiner Stalinelogen und, für lange Zeit zumindest, seiner Propagandaarbeit, eine Lüge.

Habel leitet ihr Elaborat ein: „Für Bertolt Brecht ist Wahrheit nicht nur eine Frage der Gesinnung, sondern auch eine Frage des Könnens.“ Sie werde zwar gesellschaftlich hergestellt, aber trotzdem gebe es nur EINE Wahrheit, so, wie es nur eine Sprache gebe, die allerdings in zwei Arten fungiere, in einer, die die Wahrheit abbilde und einer, die die Wahrheit verstelle. Habel bemerkt dazu „Der Abgleich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit ermöglicht es, die Sprache Lügen zu strafen.“ Man wundert sich, weshalb Brecht so lange so erfolgreich lügen konnte. Er bemüht ein krudes Modell der Widerspiegelungstheorie und hat offenbar nicht(sprach) philosophisch nachgedacht. Aber er schreibt auch Stücke, kunstvoll, einem Bedürfnis der damaligen Zeit entgegenkommend, den Funktionsansprüchen seiner Parteioberen entsprechend. Wasser predigen und Wein trinken. Welche Texte will die Brechtunterstützerin denn als Wahrheitsaufdecker und Entgegensetzungen verstehen? Die in Ostberlin geliefert oder in Moskau? Die vagen Ausflüchte und Schweigen, als seine langjährige Mitarbeiterin Carola Neher im Zuge des Großen Terrors verhaftet und in Lagerhaft genommen wurde, in welcher sie nach fünf Jahren an Typhus erkrankt starb, waren wahrscheinlich so ein Wahrheitsdienst von Brecht.

Im Falle von Sergej Tretjakow, dem Futuristen und Faktenvertreter, der dennoch in die tödlichen Säuberungen des Großen Vaters Stalin geriet, hat Brecht sich zwar nicht für den Genossen eingesetzt, aber immerhin später ein Erinnerungsgedicht geschrieben, das ebenfalls aus Ausweis seiner Wahrheitsliebe und selbstlosen Freundschaftsbefähigung herhalten kann oder muss:

Mein Lehrer
Der große, freundliche
ist erschossen worden, verurteilt durch ein Volksgericht.
Als ein Spion. Sein Name ist verdammt.
Seine Bücher sind vernichtet. Das Gespräch über ihn
ist verdächtig und verstummt.
Gesetzt, er ist unschuldig?

Sehr diplomatisch. „Gesetzt, er ist unschuldig?“ Wohl eine rhetorische Frage, denn Väterchen Stalin, der große Führer, irrte sich nie. Wollte er Stalins Recht als Unrecht denunzieren oder zumindest als Irrtum? (Das Militärgericht als Volksgericht?) Nein, es war ja nur eine Frage, eine ganz vorsichtige. Man wird doch noch fragen dürfen! Wie versichert uns Frau Habel?: „Brechts Text ist eine Anleitung, das Flasche – die allgemeinen Irrtümer und das bewußt produzierte Unwahre – zur Rede zu stellen. Er ist zugleich eine Anleitung zum richtigen Lesen.“

Ach, wenn das Apologeten oder Hagiografen nur stärker bedächten oder bedacht hätten! Vielleicht hätte Michael Rohrwasser sein Buch Der Stalinismus und die Renegaten (Stuttgart 1991) vielleicht anders geschrieben? Frau Habel geht aber noch weiter. Sie ruft den Aufklärer Kant an und stellt den Bertolt in eine Reihe:

Das Mitsprechen erinnert an das kantische Programm der Aufklärung. Es ist der wörtliche Übergang von der Unmündigkeit zur Mündigkeit oder eben: Mündlichkeit. Das Selbstsprechen richtet sich gegen die Bevormundung, es bricht die monolithische Schriftfläche und monologische Rede des anderen auf.

Er wendet sich gegen die autoritäre Erstarrung der Sprache und die Sprachvergessenheit ihres Lesers.

Mündlichkeit als Mündigkeit weil die Bevormundung im Bruch der monolithischen Schriftfläche erreicht wird. Na, das staunt der Laie. Das entspricht den kurzsichtigen Orientierungen an Kompetenzen, womit jede Bildungsreform verhindert wird, weil Wissen ausgespart wird, da die Kompetenzen als Befähigungen, als Mündlichkeit des Könnens eben, schon die „monologische Rede des anderen“ aufbrechen. Und wenn’s kein Monolog war oder ist? Was wird dann aufgebrochen? Weshalb zeigen sich die Brüche nicht im Alltag, in der massenhaften Verdummung? Nicht zuletzt, weil Expertinnen wie Frau Habel schwadronieren. Mit ihrem Geschwafel werkelt sie sicher gegen die Erstarrung, vor allem die autoritäre und hebelt die Sprachvergessenheit aus.

Mit dem Zwischentitel „Dichtung und Wahrheit“ erhöht die Autorin neuerlich ihren Gegenstand und schließt mit einer bemerkenswerten Logik: „Wenn Wahrheit eine Frage des Könnens ist, dann ist sie nichts anderes als Kunst. Und gerade die Kunstfertigkeit ist es, die man Brechts Schreien schwer absprechen kann.“ Na dann! Die traurige Erkenntnis: die Nichtskönner sind nie der Wahrheit teilhaftig, weshalb die Guten Menschen ihnen helfen, die Kader, die Lakaien, die Propagandisten, die Funktionäre.

Im selben Heft von SINN UND FORM findet sich ein Beitrag von Hans Christoph Buch „Bagatellen zum Massaker oder Der Schriftsteller ist zu größerer Verworfenheit fähig als andere Menschen“. Ein moralisierendes Lamento, exemplifiziert an verdächtigen Autoren verschiedener Couleurs. Im Unterschied zur Jüngerin Habel und ihrem abstrusen Wahrheits- und Kunstverständnis bleibt Buch kritisch und bissig. Er erwähnt Klabund, der in zweiter Ehe Carola Neher heiratete, „gefeierte Hauptdarstellerin in Klabunds ‚Kreidekreis‘, von dem Brecht sich zu seinem gleichnamigen Lehrstück inspirieren ließ. Brecht war kein Bohemien, aber er hat viel von Klabund gelernt, um nicht zu sagen geklaut, auch dessen Frau, die in der Verfilmung der ‚Dreigroschenoper‘ die Polly spielt; und er protestierte nur halbherzig, als Carola Neher im Moskauer Exil in die Mühlen der Stalin-Justiz geriet.“

Buch spricht über Karl Radek, der, obwohl getreuer, fanatischer Parteigänger, selbst durch Stalins Säuberungsprogramm dran glauben musste, er spricht von Ossip Mandelstam und dem „Parteischriftsteller der übelsten Sorte“, Pjotr Andrejewitsch Pawlenko, „der das von Brechts Freund Tretjakow entwickelte Konzept einer ‚operativen Literatur‘ wörtlich nahm, indem er sich der Geheimpolizei als Helfer andiente, wie dies auch zu DDR-Zeiten gang und gäbe war.“

„Nach alldem nimmt es nicht wunder, daß auch Sergej Tretjakow dem Terror zum Opfer fiel, dem er mit seinem Buch „Feld-Herren“ den Weg geebnet hatte. Daß Brecht keinen Finger für seinen langjährigen Freund rührte, der unter der absurden Beschuldigung, ein japanischer Spion zu sein, verhaftet und erschossen wurde (fast gleichzeitig mit Isaak Babel und Wsewolod Meyerhold), vervollständigt das deprimierende Bild.“

Buch ergänzt den traurigen Reigen mit Verweisen auf Louis Ferdinand Céline, dessen „Reise ans Ende der Nacht“ sogar Trotzki mit einer begeisterten Rezension pries. Das politische Chamäleon Curzio Malaparte wird illustriert und die eigentümliche Phalanx von Faschisten und Kommunisten bzw. ihren Wechselbälgen dargestellt. Zu diesem verworrenen Bild, dieser niederschmetternden Niedertracht passt der Roman von Uwe Kolbe „Die Lüge“ (Fischer 2014), welcher das kaputte, korrupte, korrumpierte Regime des Denunziantenstaates DDR behandelt.

Gerade an der DDR und ihren Kultur- und Kunstproduktionen lässt sich der Verfall der Sprache zum Funktionsdeutsch gut studieren. Dass gerade in den „neuen Bundesländern“ der Anteil von Faschisten und Xenophoben so hoch liegt, ist auch dem durch diese Funktionssprache geschwächten Wertesystem zuzuschreiben, das sich nach der Wende stetig mit dem Ungeist von Newspeak westlicher façon unheilvoll vermengte.


Samstag, 30. Dezember 2017

Wundersam



Haimo L. Handl

Wundersam

„Bleib’ am Teppich!“, diese Aufforderung, gut gemeint, ist ein Ordnungsruf, den ich schon früh hören musste. Gutmeinend die Forderung, „vernünftig“ zu bleiben, nicht abheben in irrationale, phantastische Gefilde, träumergleich unrealistisch sich in Gespinsten verlieren. Aber das ängstliche Missverstehen der Aufklärung in einer Vulgärform, reduziert auf einen fragwürdigen Primat der Ratio, kehrt sich um, kippt, gebiert Monster, die sich rächen an der Einseitigkeit. Umgekehrt zeigen die „Unvernünftigen“, die meinen, ohne Beachtung rationalen Denkens auskommen zu können, ebenfalls die dunkle Seite des Irrigen, des ziellosen Hamsterlaufs im Chaos, das sie in ihren Fluchtreaktionen genauso wenig ordnen oder „bewältigen“ können. Ein heilloses Durcheinander, das leicht zu einer Orientierungslosigkeit führt, was aber meist den Schwätzern beider Lager zuschlechte kommt, das sie als Auftrag oder Erfolg werten in einem eigentümlichen, befremdlichen Steigern ihrer bornierten Sichten und Perspektiven.

War oben, sah Drunten. Blickte runter. War unten, sah Wand. Nein, Wände in der Wende der Zeit und der Welt oder der Geschichte, was auf’s Gleiche rauskam, es war anders und fremd im Bekannten, ganz, wie Paul es gefordert hatte: Der Blick dahinter, um im Alltäglichen das Fremde zu sehen, im Befremdlichen sich Fragen stellend, während der Blick ermüdete. Gleichlauf mit Gleichklang als vertraute Kulisse für Gewohntes. Ordnung ist das halbe Leben. Das halbe? Auf der Suche nach der andern Hälfte. Draußen, drinnen. Aber nein, morgen werde ich eine Gehaltserhöhung fordern. Ich verdiene es mehr zu verdienen, denn ich bin besser. Der Direktor wird sein Pokergesicht wahren, saving his face, vielleicht lächeln, und ich werde nicht nervös werden. Aber ja. Niemand darf leicht sein Gesicht verlieren. Was machten wir mit gesichtslosen Visagen? Das ginge nur virtuell in der Cyberwelt. Wir aber, ja, nein, oder doch, und auch, wie immer, sind in der Realität, der umfassenden, der unumschränkten, der Kombination aus Konkretem und Virtuellem, the brave new world, die schon so lange andauert und prosperiert. Find Deinen Platz an der Sonne, vergiss die Creme nicht, weil auch Mythen Sonnenbrand erzeugen, krebsgefährlich sind, nicht nur für Rothäutige, Sommersprossige. Er verschob ein Vorzeichen und las „Not“ (Elend) als „not“ (nicht, kein). Das war nur der Anfang seiner Verwirrung. Plötzlich drängten sich Erklärungen auf, grammatikalische Formen, die den Denkweg erzwangen. Ihm schien, gewissen regulären Begebenheiten oder Handlungsvollzügen unterlagen ganz bestimmte Intentionen. Nicht „als ob“, sondern „um zu“. Es war, als ob dieses oder jenes sich vollzog, ereignete, weil jemand es intendiert unternahm, um etwas zu erreichen, zu vollbringen, zu erfüllen. Sie stand da, um auf ihn zu warten. Er war gedankenverloren aus der Tram gestiegen, um zu Fuß den Rest des Wegen gehen zu dürfen, den Straßenlärm zu genießen, freundliche Menschen zu sehen. Er blieb unvermittelt stehen, um mit jemanden, der ihn anrempelte, in Körperberührung zu kommen. Das „um zu“ erklärte ungeheuer viel. Als dieser Gedanke sich festgesetzt hatte, fing ihn der Begriff ein und ließ ihn nicht mehr los. Ungeheuer, ungeheuerlich. Sofort stand die Powerpointtafel vor seinem Auge und er las innerlich ab, was er damals zur Etymologie vorgetragen hatte in seinem sprachwissenschaftlichen Vortrag: „Der idg. Verbalstamm *kei- in gr. keimai usw. bedeutet ‚liegen’. Aus dem Begriff des Lagers hat sich ‚Heimstätte’ entwickelt (in Heim und Verwandten), das entspr. Adj., urspr. ‚der gleichen Siedlung angehörig’, ist zu ‚traut, lieb’ geworden, so besonders in aind. cé va- und germ. *hiwa- (s. Heirat). Dazu mit -ro-Erweiterung anord. hyrr ‚freundlich, gütig’, ags. hiere, hiore‚ ‚angenehm, mild’, asächs. Ahd. unhiuri ‚unheimlich, grauenhaft’ (s. ungeheuer).“ Jetzt war alles klar. Hinter dem Wort leuchtete der Abyssus als Verheißung. Das Unheimliche oder Schreckliche als bloß Fremdes, deshalb nicht Geheures, und nur deshalb negativ gedeutet. Sobald er aber diese Vorwertung wegließ, schwand der Schrecken und das „Un“. Um diesen Schrecken zu bannen, zu verwandeln, blickte er, dachte er, ging er, blieb er. Um zu und nicht als ob. Sondern, weil. Klar doch. Alle Menschen werden Brüder, Schwestern, Genossen. Oder Gefährten auf allen möglichen Fährten und Fahrten. Panta rhei, aber das war nun doch zu abgedroschen, ja geradezu klischiert, Leerformel. Leben ist Bewegung. Weshalb betonen, dass es so ist? Zweifel? Keine Mätzchen in ernster Sache, auch wenn’s zum Lachen ist. Kein Tier kann Lachen, zumindest nicht im vergleichbaren menschlichen Sinn. Und Götter weinen oder lachen nicht. Sie wissen alles immerdar, da erübrigt sich jede Kommunikation, jede Gemütsregung. Weinen und Lachen ist der Menschen Geschäft. Auch wenn einem nicht klar ist, weshalb oder wofür. Ihm schien, nein, ihm hörte (im dritten Ohr, dem inneren Hören!), er wisse, warum, weshalb, wofür, weil, nicht nur als ob, sondern – Dieses Wissen oder die Ahnung davon wuchs zu einer Belastung, die ihn niederdrückte und ihn wünschen, ersehnen ließ, für Momente wenigstens nicht zu wissen, nichts zu wissen. Unmittelbarkeit. Alles Wissen ist vermittelt. Ihn dürstete nach der Chimäre des Unmittelbaren, Unvermittelten, also dem Nichtwissen. Als ob das ein Glück wäre, nein, weil es Glück wäre, oder nicht? Können Analphabeten im Buch der Natur lesen? Im Buch der Bücher, in irgendeinem Buch? Wie wird sprachlos das Gegebene, die Welt, das Dasein, wahrgenommen? Ohne Sprache, ohne Begriffe, ohne Grammatik? Hinter oder unter oder über dem „Dasein“ liegt das „Sein“. Man denkt und spricht davon. Aber es lässt sich nicht ins Bild rücken, messen und wägen. Es ist als ob. Ist es, weil oder um zu? Der Niederdruck, das Niederdrücken, ließ ihn aufblicken und aufhorchen. Er sammelte seinen Willen, stärkte seine Vorstellung (ohne Schopenhauer gelesen zu haben). Er stellte sich vor, er dachte, er stelle sich vor, in dem er etwas vor sich, sein geistiges Auge, stellte, die Vor-Stellung als Vorstellung, als rahmenloses Bild. Die Vorstellung stand im Vordergrund, relativierte das Zentrum und den Hintergrund. Blickrichtung, Perspektive. Gesichtsfeld, Aktionsfeld.

Es war eigentümlich. Er wollte prüfen, was das bedeutete, verrannte sich aber im Eigentlichen, obwohl er jeden Jargon vermied. Er musste raus, musste jenseits des Regelwerks. Er wusste zugleich, dass dies unmöglich war, niemand vermochte außerhalb des Denkens, der Sprache, sich denkend zu bewegen. Also schickte er sich.
 


Enthalten in: Bleib am Teppich, Edition kunstraum arkade, Reihe >Confusibombus< 2014
72 Seiten, Format A5, Hardcover, 18,– €
ISBN 978-3-9503475-6-2



Freitag, 29. Dezember 2017

Winterspiel – Poem



Louis Christian Wolff

Winterspiel


Die Wolken weggewischt
Leer der Himmel und blau
Gleißend die Sonne, hart, scharf das Licht
Keine Schattenspender in der Ödnis
Bar und bloß´
Kahl und dürr
Aber voller Hoffnung auf Anderes
Als brüchige Felsen, loses Schotterwerk, Dreck
Im elenden Sommer

Er liebte den Winter wegen seiner Kälte
Der klirrenden
Wegen des Schnees, des weißen Mantels,
Der alles dämpfte, gnädig zudeckte, für eine Zeit wenigstens
Bis es schmolz und die Wahrheit offen lag
Schmutzig, abgetreten, wartend auf einen Frühling
Er wollte nicht daran denken
Er wollte im Schnee sich wälzen, im kalten Kleid
Bis das Eisige seinen Körper stäche
Und er ins Haus wankte, sich im Bad zu erwärmen
Maria seine Glieder rieb und ihm einheizte
Das Glück am frühen Abend im dampfigen Raum

Das Ablegen der schweren Kleider
tiefere Lust als beim Abstreifen des leichten Hemdes
Gespannt äugte er dort hockend
Sie legte Schicht um Schicht ab, machte sich frei
Entkleidete sich bedächtig ritualisiert
Blendete ihn mit ihrer Blöße
Die Nacktheit Frühling, Winterende
Schweiß trat aus seinen Poren
Sie erwiderte den glimmenden, offenen Blick
So zog auch er sich aus
Langsam, ganz langsam, um nichts zu versäumen
In diesem Winterspiel