Haimo L. Handl
Wundersam
„Bleib’ am Teppich!“, diese Aufforderung, gut gemeint, ist
ein Ordnungsruf, den ich schon früh hören musste. Gutmeinend die Forderung,
„vernünftig“ zu bleiben, nicht abheben in irrationale, phantastische Gefilde,
träumergleich unrealistisch sich in Gespinsten verlieren. Aber das ängstliche
Missverstehen der Aufklärung in einer Vulgärform, reduziert auf einen
fragwürdigen Primat der Ratio, kehrt sich um, kippt, gebiert Monster, die sich
rächen an der Einseitigkeit. Umgekehrt zeigen die „Unvernünftigen“, die meinen,
ohne Beachtung rationalen Denkens auskommen zu können, ebenfalls die dunkle
Seite des Irrigen, des ziellosen Hamsterlaufs im Chaos, das sie in ihren
Fluchtreaktionen genauso wenig ordnen oder „bewältigen“ können. Ein heilloses
Durcheinander, das leicht zu einer Orientierungslosigkeit führt, was aber meist
den Schwätzern beider Lager zuschlechte kommt, das sie als Auftrag oder Erfolg
werten in einem eigentümlichen, befremdlichen Steigern ihrer bornierten Sichten
und Perspektiven.
War oben, sah Drunten. Blickte runter. War unten, sah Wand.
Nein, Wände in der Wende der Zeit und der Welt oder der Geschichte, was auf’s
Gleiche rauskam, es war anders und fremd im Bekannten, ganz, wie Paul es
gefordert hatte: Der Blick dahinter, um im Alltäglichen das Fremde zu sehen, im
Befremdlichen sich Fragen stellend, während der Blick ermüdete. Gleichlauf mit
Gleichklang als vertraute Kulisse für Gewohntes. Ordnung ist das halbe Leben.
Das halbe? Auf der Suche nach der andern Hälfte. Draußen, drinnen. Aber nein,
morgen werde ich eine Gehaltserhöhung fordern. Ich verdiene es mehr zu
verdienen, denn ich bin besser. Der Direktor wird sein Pokergesicht wahren,
saving his face, vielleicht lächeln, und ich werde nicht nervös werden. Aber
ja. Niemand darf leicht sein Gesicht verlieren. Was machten wir mit
gesichtslosen Visagen? Das ginge nur virtuell in der Cyberwelt. Wir aber, ja,
nein, oder doch, und auch, wie immer, sind in der Realität, der umfassenden,
der unumschränkten, der Kombination aus Konkretem und Virtuellem, the brave new
world, die schon so lange andauert und prosperiert. Find Deinen Platz an der
Sonne, vergiss die Creme nicht, weil auch Mythen Sonnenbrand erzeugen,
krebsgefährlich sind, nicht nur für Rothäutige, Sommersprossige. Er verschob
ein Vorzeichen und las „Not“ (Elend) als „not“ (nicht, kein). Das war nur der
Anfang seiner Verwirrung. Plötzlich drängten sich Erklärungen auf,
grammatikalische Formen, die den Denkweg erzwangen. Ihm schien, gewissen
regulären Begebenheiten oder Handlungsvollzügen unterlagen ganz bestimmte
Intentionen. Nicht „als ob“, sondern „um zu“. Es war, als ob dieses oder jenes
sich vollzog, ereignete, weil jemand es intendiert unternahm, um etwas zu
erreichen, zu vollbringen, zu erfüllen. Sie stand da, um auf ihn zu warten. Er
war gedankenverloren aus der Tram gestiegen, um zu Fuß den Rest des Wegen gehen
zu dürfen, den Straßenlärm zu genießen, freundliche Menschen zu sehen. Er blieb
unvermittelt stehen, um mit jemanden, der ihn anrempelte, in Körperberührung zu
kommen. Das „um zu“ erklärte ungeheuer viel. Als dieser Gedanke sich
festgesetzt hatte, fing ihn der Begriff ein und ließ ihn nicht mehr los.
Ungeheuer, ungeheuerlich. Sofort stand die Powerpointtafel vor seinem Auge und
er las innerlich ab, was er damals zur Etymologie vorgetragen hatte in seinem
sprachwissenschaftlichen Vortrag: „Der idg. Verbalstamm *kei- in gr. keimai usw.
bedeutet ‚liegen’. Aus dem Begriff des Lagers hat sich ‚Heimstätte’ entwickelt
(in Heim und Verwandten), das entspr. Adj., urspr. ‚der gleichen Siedlung
angehörig’, ist zu ‚traut, lieb’ geworden, so besonders in aind. cé va- und germ. *hiwa- (s. Heirat). Dazu mit -ro-Erweiterung
anord. hyrr ‚freundlich, gütig’, ags.
hiere, hiore‚ ‚angenehm, mild’, asächs. Ahd. unhiuri ‚unheimlich, grauenhaft’ (s. ungeheuer).“ Jetzt war alles
klar. Hinter dem Wort leuchtete der Abyssus als Verheißung. Das Unheimliche
oder Schreckliche als bloß Fremdes, deshalb nicht Geheures, und nur deshalb
negativ gedeutet. Sobald er aber diese Vorwertung wegließ, schwand der
Schrecken und das „Un“. Um diesen Schrecken zu bannen, zu verwandeln, blickte
er, dachte er, ging er, blieb er. Um zu und nicht als ob. Sondern, weil. Klar
doch. Alle Menschen werden Brüder, Schwestern, Genossen. Oder Gefährten auf
allen möglichen Fährten und Fahrten. Panta rhei, aber das war nun doch zu abgedroschen,
ja geradezu klischiert, Leerformel. Leben ist Bewegung. Weshalb betonen, dass
es so ist? Zweifel? Keine Mätzchen in ernster Sache, auch wenn’s zum Lachen
ist. Kein Tier kann Lachen, zumindest nicht im vergleichbaren menschlichen
Sinn. Und Götter weinen oder lachen nicht. Sie wissen alles immerdar, da
erübrigt sich jede Kommunikation, jede Gemütsregung. Weinen und Lachen ist der
Menschen Geschäft. Auch wenn einem nicht klar ist, weshalb oder wofür. Ihm
schien, nein, ihm hörte (im dritten Ohr, dem inneren Hören!), er wisse, warum,
weshalb, wofür, weil, nicht nur als ob, sondern – Dieses Wissen oder die Ahnung
davon wuchs zu einer Belastung, die ihn niederdrückte und ihn wünschen, ersehnen
ließ, für Momente wenigstens nicht zu wissen, nichts zu wissen.
Unmittelbarkeit. Alles Wissen ist vermittelt. Ihn dürstete nach der Chimäre des
Unmittelbaren, Unvermittelten, also dem Nichtwissen. Als ob das ein Glück wäre,
nein, weil es Glück wäre, oder nicht? Können Analphabeten im Buch der Natur
lesen? Im Buch der Bücher, in irgendeinem Buch? Wie wird sprachlos das
Gegebene, die Welt, das Dasein, wahrgenommen? Ohne Sprache, ohne Begriffe, ohne
Grammatik? Hinter oder unter oder über dem „Dasein“ liegt das „Sein“. Man denkt
und spricht davon. Aber es lässt sich nicht ins Bild rücken, messen und wägen.
Es ist als ob. Ist es, weil oder um zu? Der Niederdruck, das Niederdrücken,
ließ ihn aufblicken und aufhorchen. Er sammelte seinen Willen, stärkte seine Vorstellung
(ohne Schopenhauer gelesen zu haben). Er stellte sich vor, er dachte, er stelle
sich vor, in dem er etwas vor sich, sein geistiges Auge, stellte, die
Vor-Stellung als Vorstellung, als rahmenloses Bild. Die Vorstellung stand im
Vordergrund, relativierte das Zentrum und den Hintergrund. Blickrichtung,
Perspektive. Gesichtsfeld, Aktionsfeld.
Es war eigentümlich. Er wollte prüfen, was das bedeutete, verrannte sich
aber im Eigentlichen, obwohl er jeden Jargon vermied. Er musste raus, musste
jenseits des Regelwerks. Er wusste zugleich, dass dies unmöglich war, niemand
vermochte außerhalb des Denkens, der Sprache, sich denkend zu bewegen. Also
schickte er sich.
Enthalten in: Bleib am Teppich, Edition kunstraum arkade, Reihe >Confusibombus< 2014
72 Seiten, Format A5, Hardcover, 18,– €
ISBN 978-3-9503475-6-2
ISBN 978-3-9503475-6-2
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