Dienstag, 31. Juli 2012

Intellektuelle - who what

Auf die beiden Listen "Intellektuelle" und "Intellektuelle 2" gab es einige Anfragen per e-mail und Telefon, weshalb dieser oder jener in der einen oder anderen Liste stehe.

Hier die Aufklärung:

Es sind keine Tabellen von Preisträgern oder Jubilaren. Auch keine Todeslisten. Sondern eine Auswahl von Namen, die sich, wie in der Liste "Intellektuelle" angeführt, als Kritiker und Contra-Stimmen gegen Günter Grass anlässlich der sogenannten "Grass-Israel-Affäre" öffentlich geäußert haben, während die in der Liste "Intellektuelle 2" solche sind, die Grass' Position unterstützt haben.

Die Pro- oder Contrahaltung ist, unabhängig von der Intensität oder der erbärmlichen oder lobenswerten Form, zu der einzelne gefunden haben oder sich hinreissen ließen, also ein gemeinsames Auswahlkritierum gewesen. Das ist alles. Es sagt nicht viel aus, aber einiges doch.

Mir fiel schon anläßlich des amerikanischen Irak-Krieges und seiner Unterstützung durch die Staatsquislinge und Alliierten auf, wie viele bis dann als aufrechte Liberale oder gar Friedensapostel Erscheinende plötzlich sich als Kriegsbefürworter gaben. Da musste ich manche Einschätzung, wie z. b. von Ralf Dahrendorf oder Richard Rorty, um nur zei Namen zu nennen, revidieren. Dass der Großteil der Mittleren kollaboriert, überrascht ja nicht, dass aber Denker, die als vernünftig und liberal galten, sich in die Kriegshetzermeute einreihten, war doch traurig und empörend zugleich.

So bietet auch die sogenannte Grass-Israel-Affäre ein Schulbeispiel über den niederen Stand der Kultiviertheit bzw. des Zivilisationsgrades solcher, die als Paradeintellektuelle auftreten, als Experten, als gebildete Journalisten und Politiker.

Würde ich zu einem Ton greifen, wie ihn Karl Kraus übte, müsste ich viel Geld haben, um erwartbare Rechtsauseinandersetzungen durchzustehen. So soll in gefiltertem Ton, anständig und ruhig, auf die Phänomene hingewiesen werden, die das Publikum selbst deuten mag. Wer's nicht kapiert, ist selber schuld!



Kunst, Verschwendung und Gerechtigkeit

Die heurigen Salzburger Festspiele wurden von dem renommierten Schweizer Literaturkritiker Peter von Matt eröffnet.

Eröffnung der Salzburger Festspiele 2012
Festrede von Dr. Peter von Matt im Wortlaut
orf.at

Salzburger Festspiele: Peter von Matt – Kunst mehr als “zynischer Luxus"
Salzburg online, 27.7.2012

Festspieleröffnung: "Wir spüren es unter den Rippen"
Hedwig Kainberger, Salzburger Nachrichten, 27.7.2012

Ausschnitt der Festrede von Peter von Matt
92. Salzburger Festspiele offiziell eröffnet:










Mehr zu / von Peter von Matt:

In Franziska Augsteins "Auslese" vom 1.3.2012:
"Das Kalb vor der Gotthardpost" von Peter von Matt







Literaturclub 2010/3 vom 20.04.2010 über M. Frisch, J. M. Coetzee, A. Pehnt, M. Twain. 
Gast: Peter von Matt:




Peter Roseggers 169. Geburtstag

Peter Rosegger (eigentlich Roßegger; 31.7.1843 - 26. 6.1918; Pseudonyme: P.K. (für Petri Kettenfeier), Hans Malser) war ein österreichischer Schriftsteller.

Wikipedia

Zitat aus Killys Literaturlexikon:

Im Sinne seines Engagements für Volksaufklärung beschreibt R. die Erfahrungen eines bildungshungrigen Helden, der die »Einöde« verläßt u., enttäuscht vom tatsächl. Zustand städt. Bildung, als Lehrer heimkehrt, um die Bildungsnot der Einödbewohner zu lindern. In dem in Tagebuchform geschriebenen Roman Die Schriften des Waldschulmeisters (ebd. 1875) ist dieser Versuch ausgeführt: Zwei in der Welt gescheiterte Erzieherfiguren zivilisieren die Wildnis u. ihre Bewohner. Dieses Projekt einer »gemäßigten Aufklärung« verfolgt R. auch in seinem Kalender »Das neue Jahr« (Pest bzw. Wien 1873-80). Da dieser nicht den erwünschten Erfolg hatte, gründete R. 1876 – in einer durch den frühen Tod seiner Frau Anna Pichler (1875) ausgelösten Phase seel. Depression – die Monatsschrift »Heimgarten«. 1879 heiratete R. die Tochter eines Wiener Bauunternehmers, Anna Knaur.
    Im »Heimgarten«, der bis 1935 existierte, veröffentlichte R. seine literar. u. journalistischen Arbeiten, mit denen er zu aktuellen Zeitfragen u. im polit. Tageskampf (Nationalitätenstreit, Antisemitismus) Stellung bezog. Sein Roman Jakob der Letzte (Wien 1889) stellt den wirtschaftl. Ruin der Bergbauern dar. R.s sich verschärfender Antimodernismus begünstigte seine Rezeption im Kontext der programmat. Heimatkunst der Jahrhundertwende, in deren Publikationsorganen er ebenso präsent war wie in den Massenmedien Berlins. Die enorme Popularität (v. a. auch der vom Hamburger Jugendschriftenaussschuß veranstalteten Auswahl von Waldheimat-Geschichten u. d. T. Als ich noch der Waldbauernbub war. 3 Bde., Lpz. 1900-1902) ist an den Feierlichkeiten zu R.s 60. u. 70. Geburtstag u. an den Ehrungen im In- u. Ausland ablesbar (Ehrendoktorate der Universitäten Heidelberg, 1903, Wien, 1913, u. Graz, 1917; 1907 Ehrenmitgl. der Londoner »Royal Society of Literature«). Die Aktualität religiöser Stoffe u. eine deutschnational motivierte Kritik des Katholizismus begünstigten die breite Resonanz der Bücher Mein Himmelreich (Lpz. 1901) u. I. N. R. I. (Lpz. 1905). R. nützte u. steigerte sein Ansehen mit öffentl. Aktionen (Schul- u. Kirchenbau) u. Appellen. Sein überaus erfolgreicher Aufruf für den »Deutschen Schulverein« (1909) exponierte ihn im sich verschärfenden Nationalitätenkampf; den Ausbruch des Ersten Weltkriegs sah er, der in den 90er Jahren noch Bertha von Suttners »Verein der Friedensfreunde« angehört hatte, als Chance für den polit. Zusammenschluß Österreichs mit Deutschland. Sein publizistisches Wirken in den Kriegsjahren (U. a. Steirischer Waffensegen. Zus. mit dem chauvinistischen Ottokar Kernstock. Graz 1916) bezeugt diese Haltung.

Im Wikipedia-Beitrag zu Peter Rosegger, wie er derzeit zu lesen ist,  sind die kritischen Anmerkungen nicht genügend belegt. Vielleicht wird das noch ergänzt.





Peter Rosegger

Das letzte Blatt

Aus: Die Schriften des Waldschulmeisters, 3. Teil, letztes Kapitel (Pressburg 1875)

    – morgen –
    Mit diesem Worte enden die Schriften.
    Zwei lange Regentage hatte ich gelesen. Aus dem vorigen Jahrhundert hatte ich mich durch ein merkwürdiges Leben herangelesen bis zu dem letztvergangenen Weihnachtsfeste.
    – morgen –
    Der Kopf war mir heiß und schwer, ich blickte nach der Tür. Der Mann muß ja hereintreten und weiter schreiben, was am nächsten Morgen gekommen, wie es weiter gewesen war. Denn das ist kein Abschluß und kein Abschied, das ist ein hoffender Blick in die Zukunft, ein Morgenstern.
    Fast wie eine Überzeugung empfand ich's: der Schulmeister lebt. In der Fremde wird er wandern und irren, der arme Mann mit der großen Sehnsucht, die keinen Namen hat. Es ist die Sehnsucht, die wir alle empfinden, ob seichter, ob tiefer, die Sehnsucht nach dem Ganzen, Allgemeinsamen, nach dem Wahren aber Unfaßbaren, in dem unsere drängende, strebende, bangende Seele Ruhe und Erlösung zu finden hofft.
    Mir war, als müßte ich auf und davon und den alten, guten, kindlichen Mann suchen allerwege. – Was war das für ein großes Streben und Ringen gewesen! Ein vergebliches Aufraffen nach den Zielen der Gesellschaft; ein krampfhaft unterdrücktes Auflodern jugendlicher Leidenschaft, ein verzweifeltes Hineinstürzen in die Wirren des Lebens, ein begeisterter Flug durch die Welt, ein furchtbares Erwachen aus Täuschung, ein Fliehen in die Öden der Wildnis, ein stilles, stetes Wirken in Ergebung und Aufopferung, ein großes Gelingen, eine tiefe Befriedigung. Da naht das Alter, ein junges Volk und neue Verhältnisse bieten keine Gelegenheit zu Taten mehr; ein betrübtes Zurückziehen in sich selbst, Verlassenheit und Einsamkeit, Zweifeln, Grübeln und Träumen und ein stilles Ergeben und Versickern. In Alter, Unbehilflichkeit und Einfalt ist er ein Kind geworden; ein in Träumen lächelndes, glückliches Kind. Aber die Sehnsucht und das Ahnen des Jünglings ist ihm geblieben. Und ein großer Lohn ist ihm geworden, ein Entgelt, das uns mit seinen Schicksalen versöhnt; ein Entgelt, wie es die Welt nimmer gibt und geben kann, wie es nur aus treuer Erfüllung des Lebens entsteht: der Frieden der Seele.
    Die Wachtel der Uhr schlug achtmal. Ich verschloß die Blätter sorgsam in die Lade und ging hinab gegen das Wirtshaus. Es dunkelte schon; eine frostige Trübe lag allerseits und eine scharfe Luft strich durch den feinrieselnden Regen.
    Der Lazarus stand vor der Haustür, wendete sein Gesicht nach allen Himmelsgegenden und sagte: »'s wird anders werden.« Er sagte es zu sich selbst. Er hatte gewiß keine Ahnung, daß der junge, fremde Mensch, der ihm nun nahte, seine ganze Geschichte wisse.
    Der Wirt war an demselben Abend recht redselig, aber ich war schweigsam und begab mich bald wieder in mein Schulhaus zur Ruhe.
    Wie sah ich nun alles ganz anders an, als vor zwei Tagen. Fast daheim war ich in diesem Alpendörfchen, in welchem ich gleichsam mit dem Schulmeister jung gewesen und alt geworden.
    Und der Mann, der die Gemeinde gegründet und großgezogen mit seinem Lebensmark, sollte fremd sein und vergessen?
    Nein, er ist überall zu verspüren. Unsichtbar steigt er in Winkelsteg herum Tag und Nacht, zu jeder Stund'! – hatte nicht so der Kohlenbrenner gesagt?
    Der nächste Morgen war so hell, daß er mir durch das geschlossene Augenlid drang. Als ich es öffnete, sah ich einen lichten, klaren Wintertag.
    Ich sprang auf. Es hatte geschneit; die weiße Hülle lag über dem ganzen Tale, auf allen Dächern und Bäumen. Der Himmel war rein.
    Bald war ich gerüstet zu meiner Alpenfahrt.
    »Heut' wohl!« sagte die Wirtin, »heut' ist es sein auf der Höh', wenn den Herrn der Schnee nicht irrt. Wer Geduld hat, sag' ich fort, der erwartet alles auf der Welt, gar ein schön' Wetter in Winkelsteg. Mitnehmen muß der Herr halt wen.« Dann zu ihrem Manne: »Du, leicht will sich der Reiter Peter einen feinen Führerlohn verdienen?«
    »Der Reiter Peter,« sage ich, »der ist mir schon recht; das Schwätzen unterwegs ist mir ohnehin zuwider.«
    »Ei, der Herr weiß es schon, daß der Peter nicht schwätzt; ja, der ist fein still, hat er die Geigen nicht bei sich.«
    Der Peter war jener stumme, junge Mann, der mir vor zwei Tagen nach der Messe an der Kirchtür begegnete. So stieg ich denn mit dem Patenkind des Schulmeisters, mit allem Nötigen wohl versorgt, das Gebirge hinan.
    Der Schnee war weich und leuchtete in der Morgensonne, und hub an zu schmelzen. Bald standen die niedergedrückten Pflanzen und Blumen wieder auf, und die Vögel sangen und hüpften in dem Geäste und schüttelten die Flocken von den Bäumen. Frisch und neulebendig grünte es zwischen dem rosig angehauchten Weiß, und in einer großen Klarheit lagen die Waldberge. Es war in einer wundersamen Weise der Sommer vermählt mit dem Winter.
    Wir gingen an dem Schachen des Friedhofes vorüber; der Peter zog seinen Hut vom Kopfe und trug ihn solange in der Hand, bis wir vorbei waren. Die alten Bäume flochten hoch über den wenigen Gräbern die Äste und Kronen so ineinander, daß es war wie in einem gotischen Dome. Wohl legte sich über den Wipfeln noch der Schneeschleier hin, im Schatten auf den Gräbern aber prangte frisches Gras und Moosgeflechte, und darüber ragten und lehnten an den Stämmen, oder lagen verwahrlost hingestreckt die grauen, bild- und inschriftlosen Holzkreuze.
    Ich wollte mir die Ruhestätte des Pfarrers Paulus und des Reim-Rüpels zeigen lassen. Der Peter sah mich fragend an; davon wußte der junge Mann nichts.
    Später kamen wir auf einen Bergsattel.
    »Wir sind auf der Lauterhöhe?« fragte ich meinen stillen Gefährten. Er nickte bejahend mit dem Kopfe. Ich dachte an den zerstörten Ameishaufen, an das Rind, das den Alpenstrauß fraß, an die Schirmtannen da hinten, an den Schirmtanner, und plötzlich fragte ich den Peter: »Die Schirmtanner-Rosel, die kennst du?«
    Er wurde rot wie eine Alpenrose.
    Von diesem Bergsattel aus hatte sich gegen Mitternacht hin eine ganz neue Gegend aufgetan; Täler und Waldberge zogen sich in tiefer Klarheit hin; links erhoben sich Felswände, die weit über die Wälder weg einen schründig durchbrochenen Wall bildeten. In dieser Richtung hin dachte ich mir die Gegenden der Lautergräben, Karwässer, der Wolfsgrube und des Felsentales.
    Der Weg führte talab; wir aber bogen links ein und stiegen durch Fichtenwald, Zirmgesträuche immer höher empor bis zu den Almblößen, die sich hinanziehen gegen die ragenden Felsmassen.
    Die Schneehülle war hier zwar etwas dichter und spröder, hinderte aber nicht sonderlich im Wandern. Ein paar Hütten standen da, aus deren Dachfugen Rauch hervordrang und in deren Ställen die Rinder schellten. Diese mußten heute Heu fressen, aber nach dem Schnee sollen gute, warme Tage kommen. In welchem Fenster dieser Hütten wohl der Meisterknecht Paul gesteckt sein mochte?
    Wir schritten weiter; bald merkte ich, daß mein Begleiter selbst den Weg nicht kenne. Der Schnee war hier schon fast geschmolzen in der Sonne. Wir gingen den Felsen zu, stiegen an den Mulden empor, wie ich mich erinnerte, daß der Schulmeister gegangen war, und endlich kamen wir auf das Grat.
    Das Bild war unvergleichlich. Der Schulmeister hat es geschildert.
    Wir gingen dem Grat entlang, ruhten dann ein wenig, um uns mit Brot und Fleisch zu laben und die Steigeisen an die Füße zu schnallen. Hierauf gingen wir langsam über das Gletscherfeld hinan gegen den Kegel.
    Die Luft war außerordentlich rein und ruhig; ich empfand in mir eine Frische und ein Wohlbehagen zum Aufjauchzen. Je näher wir der Spitze kamen, je flinker förderten wir unsere Schritte; auch der Peter war lustig geworden.
    Nun waren wir oben, standen auf der Spitze des Zahn. Mir war zumute, als wäre ich schon früher mehrmals auf dieser Höhe gewesen. Um uns lag in einer unendlichen Ruhe – wie der Schulmeister sagt – die Krone der Alpen.
    Selbst dort hinter den weiten Wäldern, im sonnendurchwobenen Mittag ragten die Kanten und Spitzen eines fernsten Gebirgszuges noch deutlich, und darüber hinaus, schnurgerade hingezogen lag ein schimmerndes Band – das Meer!
    Mir war zumute, als müßte ich fortrasen hinab von Fels zu Fels und hin über Berg und Tal, den Schulmeister zu suchen, ihm zuzurufen: »Kommet und sehet!«
    In lauter Begeisterung und in stiller Versunkenheit habe ich wohl lange hinausgestarrt. Dann stiegen wir einige Schritte niederwärts unter den Steinvorsprung, wohl denselben, an welchem der Mann vor fünfzig Jahren gesessen war und geträumt hatte.
    Hier war noch ein wenig Schnee. Wir setzten uns auf trockene Klötze und hielten Mahlzeit. Der Peter spielte mit seinem Stock im Schnee; er zeichnete Buchstaben hin; ich meinte, er wolle mir etwa seine Gedanken und Empfindungen aufschreiben. Aber er zerstörte die Zeichen wieder und es war nur loses Spiel.
    Mein Auge schweifte hinaus, flog von einem Berg zum andern, bis zu den fernsten, italischen Höhen. Es glitt hin, es trank vom Meere. Über den Wassern sah ich das Lichtwogen der mittägigen Sonne ...
    Plötzlich gellte neben mir ein Schrei. Der Bursche war emporgesprungen und wies mit beiden Händen auf den hügeligen Schneeboden hin.
    Ich forschte nach der Ursache, da waren noch des Jungen Buchstabenreste, da war aufgewühlter Flaum, da war –
    Es war grauenhaft zu sehen. Von der Schneehülle halb bloßgelegt starrte ein Menschenhaupt hervor.
    Nur wenige Augenblicke war der Bursche schreckerstarrt, tatlos dagestanden; dann eilte er, die Erscheinung von der Schneehülle vollends zu befreien. Mit Fieberhast arbeitete er, und als ein ganzer Menschenkörper dalag, da verbarg er sein Gesicht, sank mir in die Arme und wimmerte.
    Da lag ein mumienhafter Mann, gerollt in einen braunen Mantel, die Züge eingetrocknet, die Augen tief gehöhlt, die wenigen Locken des Hauptes wirr – – –
    »Kennst du ihn?« fragte ich den Burschen.
    Er neigte traurig den Kopf.
    »Ist es der Schulmeister?« rief ich aus.
    Der Peter neigte das Haupt. –
    Als wir endlich einige Fassung gewonnen hatten, huben wir an, den Toten näher zu betrachten. Er war sorgsam in den Mantel geschlagen, an die Schuhe waren Steigeisen geschnallt, daneben lag ein Bergstock. In dem halb offenen Ledertäschchen fanden sich einige verdorrte Brotkrumen und ein zusammengeknülltes feuchtes Papier. Nach diesem griff ich und zog es auseinander. Da standen Worte, Worte in schiefen, regellosen Zeilen, mit Bleistift unsicher hingedrückt.
    Die Worte sind leserlich und lauten:
    »Christtag. Ich habe bei Sonnenuntergang das Meer gesehen und das Augenlicht verloren.« – – –
    So hatte er sein Ziel geschaut. Als Erblindeter hatte er das Blatt beschrieben, das letzte Blatt zu seinen Schriften. Dann hatte er sich wohl hingelegt auf den Steinboden, hatte die eisige Winternacht erwartet und war in derselben gestorben.
    Wir bauten aus Steinen einen Wall um den Toten und wölbten ihn notdürftig ein. Dann stiegen wir nieder zu den Almen und den kürzeren Weg über Miesenbach nach Winkelsteg.
    Des andern Morgens zur frühen Stunde stiegen ihrer viele empor gegen den grauen Zahn, und ich mit ihnen. Der alte Schirmtanner war auch dabei, der wußte vieles von dem Schulmeister zu erzählen und seine Worte stimmten mit den Schriften überein.
    Und so trugen wir den alten Andreas Erdmann, der in der trockenen, kalten Alpenlust fast zur Mumie vertrocknet war, herab in das Tal der Winkel zur Pfarrkirche, die unter seinem Walten erbaut worden war; trugen ihn auf den Friedhof, den er selbst angelegt hatte im Schatten des Waldes.
    Die Nachricht, der alte Schulmeister sei aufgefunden worden, hatte sich bald verbreitet in den Winkelwäldern, und alles strömte herbei zum Begräbnisse, und alles pries den guten Mann. Der Winkelwirt weinte wie ein Kind. »Der hat meinen verlassenen Vater gesegnet auf dem Todbett!« rief er. Den Peter mußte der Schirmtanner von der Bahre hinwegführen.
    Der Förster vom Herrenhaus war da. Ganz in der Nähe des Grabes wuchs eine Waldlilie.
    Der Branntweiner Schorschl hielt einigen, die am Friedhofseingange standen, eine Rede; er habe nichts, gar nichts gegen den Schulmeister gehabt, doch der Schulmeister sei eigensinnig gewesen. Das eine sei zu bedenken: hätte der Schulmeister ein Fläschel Wacholderbranntwein bei sich gehabt, er wäre nicht erfroren.
    Zur Abendstunde unter Fackelschein ist der gute, alte Mann in die Erde gesenkt worden.

    Die Schriften, zu denen ich in so eigentümlicher Weise gekommen bin, habe ich mir von der Gemeinde Winkelsteg erbeten, auf daß ich sie der Öffentlichkeit übergebe, als Zeugenschaft von einem armen, reichen, fruchtbaren und selbstlosen Leben in der Verborgenheit des Waldes.
    In schmerzlicher Bewegung habe ich das letzte Blatt mit den Bleistiftworten zu den Schriften gelegt. Schlage nach, mein Leser, es wird dir ein Umstand nicht entgehen: das erste Blatt ist von einem Kinde an das Jenseits gerichtet. Und von demselben Kinde wird nach der Erfüllung der Zeit das letzte Blatt gleichsam aus dem Jenseits herübergesandt, uns Ringenden auf Erden als des Vermächtnisses Siegel mit der Inschrift:
    Entsagung und Ergebung!
 Fußnoten

1 Dieses »Schreibebuch« ist in den Schriften nicht vorgefunden worden.
Der Herausgeber.


Ertrunken - Realität vs. Fiktion

Österreicher auf Seychellen unter Mordverdacht
Die Presse, 30.07.2012
Er segelte mit einem Briten im Indischen Ozean. Nur der Österreicher kommt auf den Seychellen an. Warum der Brite über Bord ging, ist unklar.

Wie das Leben spielt. Als ich die Meldung hörte bzw. las, kam mir das Hörspiel "Die Brandung Von Hossegor" von Alfred Andersch aus dem Jahre 1976 in den Sinn;
George Lienhard, ein erfolgloser Jungfilmer, plant mit der Kamera seinen Freund Res Orell während des gemeinsamen Urlaubs zu begleiten, um einen Dokumentarfilm zu drehen. George kehrt von der Reise ohne Res zurück. Res ist in der Brandung von Hossegor an der französischen Altlantikküste ertrunken.

Wird das Ereignis vom Segelturn zwischen den Malediven und Seychellen verfilmt werden? Mordverdacht, Rätselraten, Motivfrage, Unstimmigkeiten...

Wie sehr doch die Realität sich der Fiktion anpasst!

Samstag, 28. Juli 2012

The Event of Literature

The Event of Literature
by Terry Eagleton 
Yale Press 2012

Review: The Event of Literature by Terry Eagleton
Why writers have little use for literary theory
Adam Kirsch, New Statesman, 4.4.2012
 

The Event of Literature by Terry Eagleton – review
Terry Eagleton's theory of literature allows for the 'bad' as well as the good.
Stuart Kelly, Guardian, 6.4.2012




The Event of Literature
Times Higher Education, 3.5.2012




Rescuing literature from literary theory

Terry Eagleton’s attempt to define literature is impressive, but he fails to recognise that this definition is not merely descriptive – it’s also evaluative.
by Sarah Boyes, SP!KED











Clemens Brentanos 170. Todestag

Clemens Wenzeslaus Brentano de La Roche, 9. 9.1778 - 28. 7.1842, war ein deutscher Schriftsteller und neben Achim von Arnim der Hauptvertreter der sogenannten Heidelberger Romantik.

Wikipedia


Clemens Brentano

Es ist keiner je allein

Es ist keiner je allein,
Wär auch Erd und Himmel Stein,
Schien kein Mond, kein Sternenschein,
Grüßte auch kein Lüftelein,
Sänge auch kein Vögelein:
Kehrt in jedem Herzen rein
Doch der liebe Gott stets ein.







Freitag, 20. Juli 2012

Die Rolle der Literatur und die Führungscliquen

Eine Bemerkung von Victor Serge im Brief an André Gide vom Mai 1936 zeigt auf, dass die Einschätzung der Rolle und  Funktion der Literatur damals wie heute problematisch war, nicht nur hinsichtlich der Autoren, der Stoffe, sondern vor allem der Leute im Hintergrund, der Führungsqlicken.


Auszüge aus

Victor Serge

Brief an André Gide

(Mai 1936)

(Aus Victor Serge, Für eine Erneuerung des Sozialismus: Unbekannte Aufsätze, Verlag Association, Hamburg 1975, S.128-31; Übersetzung aus dem Französischen: Marita Molitor.)

Ich erinnere mich an Stellen in Ihrem Tagebuch, wo Sie 1932 aufzeichneten, wie Sie zum Kommunismus gestoßen sind, weil er freie Entfaltung der Persönlichkeit bedeutet. (Ich kann Ihre Gedanken nur der Erinnerung nach wiedergeben, da ich keines meiner Bücher mehr besitze und auch nicht die Zeit habe, die entsprechende Stelle wiederaufzusuchen.) Ich las diese Seiten in Moskau mit ziemlich gemischten Gefühlen.
Zum einen war ich glücklich, Ihre Annäherung an den Sozialismus festzustellen, da ich Ihre geistige Entwicklung – wenn auch von weitem – seit den Begeisterungsstürmen meiner Jugend verfolgt hatte. Zum anderen aber war ich traurig über den Widerspruch zwischen Ihren Aussagen und der Wirklichkeit, in der ich mich fand. Ich stieß auf Ihr Tagebuch zu einer Zeit, in der niemand in meiner Umgebung gewagt hätte, ein Tagebuch zu führen, wohlwissend, daß die politische Polizei es mit Sicherheit eines nachts abgeholt hätte ... ich konnte nicht umhin, bei der Lektüre ähnliche Gefühle zu haben wie Soldaten, die im Schützengraben Zeitungen aus der Heimat erhalten und dort auf lyrische Prosa über den letzten Rechtsstreit stoßen.

Hier wird die Einschätzung der Rolle und Funktion von Literatur deutlich: Beste Literatur wird am falschen Ort zur falschen Zeit zum Ärgernis. Wann aber ist rechte Zeit und wo rechter Ort? Wo kein existenziell gefährdender Druck und Zwang herrscht, wo freie Wahlmöglichkeit besteht.

Zur geistigen Situation der SU heißt es:

Die Situation des Schriftstellers, das heißt letzten Endes desjenigen, der die Aufgabe hat, für viele andere zu sprechen, die stumm sind? Wir mußten zusehen, wie Gorki seine Erinnerungen an Lenin überarbeitete und zwar so, daß Lenin in der neuesten Ausgabe genau das Gegenteil von dem sagt, was an manchen Stellen der ersten seine Meinung ist ... Die Literatur wird selbst in ihren geringsten Äußerungen gegängelt, und es existiert eine literarische Führungsclique, die bewundernswert organisiert ist, fett bezahlt wird und, ganz wie es sich gehört, konformistisch denkt ...

Das liest sich fast wie eine Beschreibung der heutigen literarischen Messe- und Wettbewerbsveranstalter, der Großverleger, der Agenturen und Vermittler, der Redaktionen wichtiger Zeitungen und Sendeanstalten, kurz, der Medienindustrie, die lenkt und formt und aufbaut oder auch verhindert und abbaut. Mit dem Unterschied, dass sie es privatwirtschaftlich macht und ohne alle staatlichen Hilfsmittel staatlicher Sanktion, höchstens unterstützt mit staatlicher Hilfe für Gratifikationen.

Denn wo herrscht nicht die „Führungsclique, die bewundernswert organisiert ist, fett bezahlt wird und, ganz wie es sich gehört, konformistisch denkt“? Oder ist so eine Feststellung Ausdruck einer unhaltbaren Verschwörungstheorie? Hat sie damals gegolten, heute aber nicht? Für die Vergangenheit kann der Wahrheitsbeweis erbracht werden. Für die Gegenwart nicht. Die Führungscliquen zeichnen sich durch Undurchsichtigkeit aus. Man kann nur indirekt auf ihr Walten schließen. Es ist wie mit dem Phänomen ZEIT: Wir haben keine Sinne, kein Organ für ihre eigentliche, wirkliche Wahrnehmung. Sie selbst ist auch kein empirisch festmachbares Objekt, sondern nur indirekt messbar, beschreibbar, fühlbar. Ein anderes Beispiel ist die PSYCHE. Ganze Wissenschaften (und viel mehr Pseudowissenschaften) arbeiten mit ihr, für und gegen sie. Aber niemand hat sie je gesehen oder direkt gemessen. Sie wird vermutet – und das reicht aus.
Aber die Schlussfolgerungen über die repressiven, gängelnden, betrügerischen, kriminellen Machenschaften der Führungscliquen reichen NICHT aus. Hier verlangt man Beweise. Für Nazi-Deutschland als auch die Sowjetunion sind sie lieferbar. Nicht aber für heutige Gesellschaften und Märkte. Trotz hochentwickelter Messgeräte und bester Kommunikationsmittel. Alles scheint innerhalb des Zirkels der Konformität zu schwimmen, sogar das vordergründig sich kritisch Gebende.

Ohne Schamröte reden Profane von Literaturpäpsten oder Kaisern oder Königen, beugen sich erfolgssüchtige Novizen den Diktaten von Kuratorinnen und Juroren, entblößen sich in Medien willig, greifen zu üblen Plagiatspraktiken. Nicht alle, aber immer mehr. Es ist wie in einem Prostitutionszirkus. Klar gibt es Ausnahmen. Aber wie kommt man ins öffentliche Aufmerksamkeitsfeld, wenn nicht durch spektakuläre Aktionen, entsprechende Kontakte oder beidem? Haben doch die Chefdeuter keine Zeit mehr (man erinnere sich an die Mahnung des Time Managements der Zürcher Jurorin Caduff beim Bachfrauwettlesen, pardon, Bachmann-Wettlesen!), um Qualität (nach welchen Kriterien? denen des Marktes, der Literratur, der Literaturwissenschaft?) zu kennen, zu erkennen, zu  bewerten. Alles viel zu umständlich, obsolt, vorbei. Heute geht es um etwas ganz Anderes. Worum? jedenfalls nicht um so weltfremde Ansichten wie von Victor Serge. Er hätte sich an Gorki ein Beispiel nehmen und von Andrei Alexandrowitsch Schdanow lernen sollen, was Realismus ist und bedeutet. 

Die Erfolgsgeneration in unseren Landen, im freien Westen, hat das, wie der Markt und sein Geschäft es beweist, gelernt.



Max Liebermanns 165. Geburtstag

Max Liebermann, 20. 7.1847 - 8. 2.1935, war ein deutscher Maler und Grafiker. Er gehört zu den bedeutendsten Vertretern des deutschen Impressionismus.

Wikipedia


Zitat aus Wikipedia:
Im Februar 1936 veranstaltete der Kulturbund Deutscher Juden anlässlich Liebermanns ersten Todestages eine Gedächtnisausstellung in den Räumlichkeiten der Neuen Synagogen-Gemeinde. Innerhalb von sechs Wochen zog sie rund 6.000 Besucher an. Als schließlich 1943 auch Martha Liebermann verstarb, wurde der gesamte Nachlass „zugunsten des Deutschen Reiches“ eingezogen. Davon betroffen waren nicht nur Gemälde, die er selbst geschaffen hatte, sondern auch weite Teile der Sammlung Liebermann: Max Liebermann hatte zeit seines Lebens eine der bedeutendsten privaten Kunstsammlungen Berlins zusammengetragen, die auch einige Werke Manets aufwies. Mit der Beschlagnahmung der Sammlung riss das NS-Regime eine einzigartige Kollektion auseinander, die in dieser Form nie wieder zusammengetragen werden konnte.

* * *

Die Rezeptionsgeschichte nach dem 2. WK zeigt die Eigentümlichkeiten der zwei deutschen Kulturen in den zwei deutschen Deutschlanden. Ein Lehrstück!











Max Liebermann

Zwei Holzschnitte von Manet

»Kunst und Künstler«, 1905

... einen erläuternden Text zu den wunderschönen Reproduktionen nach Manet? Cui bono? Wer Manet versteht – und ihn daher liebt – braucht keine Erläuterungen, und wer ihn nicht versteht, noch viel weniger.
Auch Holzstöcke scheinen ihr Schicksal zu haben. Während der Holzschnitt der Olympia erst wieder durch Duret ans Tageslicht gezogen wurde, ist das Porträt der Dame, die den Kopf auf die Hand stützt, verschwunden gewesen: ebenso wie die Olympia hatte Manet das Porträt für ein Journal gezeichnet, das vor der Veröffentlichung der Zeichnung einging. Der Holzstock ist verloren gegangen und nur ein Probedruck hatte sich erhalten und nach ihm hat derselbe Xylograph, der seinerzeit Manets Zeichnung geschnitten, einen zweiten Holzstock hergestellt. Beide Holzschnitte sind im Original wiedergegeben: wir haben also Manets Handschrift vor uns. –
Wenn ich früher einmal Zeichnen als die Kunst wegzulassen definiert habe, so könnte ich keine besseren Beispiele für diese Definition auswählen, als die vorliegenden beiden Holzschnitte.
Alle Kunst ist Form und alle Form: Vereinfachung.
Wie die tausend Formen und Flächen des Gegenstandes, den der Künstler darstellen will, sich in seinem Kopfe zu wenigen, charakterischen vereinfachen, während seine Hand sie niederschreibt: das bildet den Zeugungsprozeß eines jeden Kunstwerkes. Weder der Kopf allein, noch die Hand ohne Kopf können ein Kunstwerk hervorbringen; beides ist, wie die Seele mit dem Körper, verbunden. Der Kopf ist der Vater, die Hand die Mutter und nur die aus dieser Ehe hervorgegangenen Kinder sind legitim, das heißt echte Kunstwerke.
Aber in den bildenden Künsten sind Inhalt und Form nicht nur, wie in den andern Künsten, untrennbar, sie sind auch in der philosophischen Bedeutung des Wortes identisch; ihr Inhalt ist die Form.
Natürlich können Malerei, Plastik oder Architektur – die man sogar gefrorene Musik genannt hat – poetische oder musikalische Gefühle in uns hervorrufen, aber sie dürfen sie nur durch die einer jeden der bildenden Künste eignen Ausdrucksmittel hervorrufen wollen. Sonst macht der Maler oder Bildhauer bei der Poesie oder Musik Anleihen, die er mit den rechtmäßigen Mitteln seiner Kunst nicht bezahlen kann.
Manet ist »Nur-Maler«. Er malt ebensowenig Poesie wie Musik, worüber die sogenannten Gebildeten aller Nationen quittierten, indem sie ihn gleichermaßen verabscheuten, und wohl immer noch verabscheuen, wenn sie sich jetzt auch schämen, es einzugestehn.
Manet so recht verstehn kann wohl nur der Maler, und auch nur der, welcher in der Wiedergabe der Natur das A und O der Malerei sieht; was freilich der moderne Maljüngling, und noch mehr der moderne Kunstskribifax für einen überwundenen Standpunkt hält. Wie jener Maler, den einer fragte, warum er aus einem Naturalisten ein Symbolist geworden, antwortete: »nach der Natur malen ist zu leicht«. Ja! nach der Natur malen kann heutzutage fast jeder Malklassenschüler, beinahe so gut wie Manet, jedenfalls viel zu viel à la Manet.
Und sind doch keine Manets worden!
Bei der Wahl seiner Themata – er malt einen Schinken oder ein Blumenbukett, Pfirsiche oder eine Melone, Fische oder eine Brioche, Porträts, männliche und weibliche, oder einen Akt wie die Olympia – ist es klar, daß das Außergewöhnliche nicht in seinen Sujets liegt. Manets Kunst beruht also, wie die eines jeden echten Malers, in seiner neuen Auffassung. Der eigentliche Maler sucht nichts Neues zu malen, sondern das Alte neu zu malen. Überhaupt ist es ganz gleichgültig, ob der Künstler ein schon tausendmal dargestelltes Thema behandelt oder ein funkelnagelneues – was übrigens schwer zu finden sein dürfte –, da es in der Kunst nur darauf ankommt, daß das Thema in persönlicher und daher neuer Weise dargestellt wird. Wenn einer einen Rosenstrauß oder einen Schinken so persönlich wie Manet zur Darstellung bringen kann, so ist er, wie es in der Kunstgeschichte heißt, ein bahnbrechendes Genie: denn indem er neue Reize an dem Schinken entdeckt und dargestellt hat, hat er das Bereich der Malerei erweitert.
Der Maler sucht überhaupt nicht, sondern er findet. Er empfängt, wie Schiller von Goethe sagt, sein Gesetz vom Objekt. Tausend Maler haben einen liegenden Akt oder ein Damenporträt gemalt; daß Manet den Akt oder das Porträt in dieser Einfachheit sah und für diese Vereinfachung die adäquate Form fand, darin liegt sein Genie.
Nicht in seiner Malfaust, sondern in seiner malerischen Phantasie liegt seine Größe. Er sieht malerisch; er weiß aus dem Frauenkörper das Typische herauszuholen, ohne die momentanen und zufälligen Reize, die die Natur bietet, einzubüßen. Er malt nicht nur, wie der »akademische Maler«, was er gelernt hat, was er kann, sondern wie der wahre geborene Maler, was er sieht. Aber er ist auch ein Poet dazu, denn die Idee »verdichtet« sich unter seinem Pinsel zur plastischen Form. Daher das Verblüffende des Eindrucks eines jeden Striches Manetscher Kunst; die Form, die er uns zeigt, hat nur er gesehen. Es ist daher der größte Unsinn, Manets Bedeutung in seiner Technik zu sehen, wie wir's täglich zu lesen bekommen, – und welcher Unsinn würde nicht gedruckt! – als wäre er ein virtuoser Maler gewesen, nur ein äußerlicher Kopist der Natur. Man vergleiche nur einen nach der Natur photographierten Akt mit der Olympia, um – was aus dem Bilde natürlich noch viel deutlicher als aus dem Holzschnitte hervorgeht – zu erkennen, daß nie ein Maler einen Frauenkörper weniger von der Natur »abgeschrieben« hat: weder Tizian noch Rembrandt noch Velazquez hat einen Akt persönlicher aufgefaßt.
Aber ebenso wenig wie die Natur hat Manet die Alten kopiert. Die liegende Venus des Velazquez in der Sammlung Morrit hat viel mehr Verwandtschaft mit Tizian, als die Olympia mit Velazquez.
Manet hat mehr als je ein Maler vor ihm oder nach ihm die konventionelle »schöne Form« vermieden: die ganze Pose, die Linie, der Rhythmus in der Bewegung – um von der Malerei ganz zu schweigen – sind in der Olympia ebenso wie in dem Damenporträt so momentan, so ungezwungen, als hätte er das Modell in einem unbelauschten Augenblicke gesehn und gemalt. Daher das Überraschende, das Frappierende, das wir beim ersten Anblick jeder Arbeit von Manets Hand, sei es Ölbild, Pastell, Aquarell, sei's Radierung, Lithographie oder Zeichnung, die Empfindung haben, als hätten wir ähnliches nie zuvor gesehn.
Und dieses Wunder sollte die Hand vollbringen können? Nein, nur der Geist vermag Geist zu erzeugen, nicht aber die Hand oder gar der Körperteil, der uns von der Natur zum Sitzen gegeben ist. Manets Technik, weit davon entfernt, Virtuosität zu sein, ist – wie es bei jedem echten Künstler sein muß – der Ausfluß und der Ausdruck des innerlich Geschauten. Nach der Vorschrift, die der alte Hippokrates dem Arzte gibt, läßt uns Manet aus dem Sichtbaren das Unsichtbare erkennen. Wie der wahre Maler geht er stets von der Erscheinung aus, nicht aber – wie das leider nicht nur bei deutschen Künstlern geschieht – umgekehrt, sucht er für den Gedanken die plastische Form. Er will nicht große, philosophische Gedanken in Malerei umsetzen, sondern er sucht das Einfachste, was freilich das Schwerste, – die Natürlichkeit und – mit einer leichten Umschreibung der Worte Mercks an Goethe – möcht ich sagen: er sucht nicht das sogenannt »Malerische«, sondern er faßt das Leben malerisch auf: die höchste Aufgabe des malenden Künstlers.
Es versteht sich von selbst, daß der Maler desto mehr die Ausdrucksmittel seiner Kunst beherrschen muß, je mehr er sich auf die Malerei beschränkt, d. h. je mehr er auf literarischen Inhalt verzichtet und wir müssen schon bis auf Velazquez und F. Hals zurückgehen, um einen »Malermeister« wie Manet zu finden.
Aber selbst Justi, der berühmte Verfasser des Velazquez, nennt noch Manet in seinem Pamphlet gegen die moderne Kunst (das, obgleich, oder richtiger, weil es nur als Manuskript gedruckt ist, in aller Händen ist) einen geistreichen Skizzisten. Was freilich nicht geschimpft ist, wenn damit gesagt sein soll, daß Manets Bilder die Frische der Skizze, die leider im Bilde fast immer verloren geht, bewahren.
In der Skizze feiert der Künstler die Brautnacht mit seinem Werke; mit der ersten Leidenschaft und mit der Konzentration aller seiner Kräfte ergießt er in die Skizze, was ihm im Geiste vorgeschwebt hat, und er erzeugt im Rausche der Begeisterung, was keine Mühe und Arbeit ersetzen können. Im längeren Zusammenleben mit seinem Werke erkaltet die Liebe und der Künstler sieht zu seinem Schrecken, daß das Bild nicht hält, was die Skizze versprochen hat.
Aber Justi verbindet mit dem Worte »Skizze« einen Vorwurf: er meint: daß Manet – und die moderne Kunst überhaupt – keine vollendeten Werke geschaffen hat. Freilich hat Manet seine Bilder nicht vollendet wie Metsu, Mieris oder Meissonier. Aber hat er deshalb weniger vollendet? Ist etwa die berühmte Kürassier-Attacke von Meissonier durchgeführter? Allerdings sieht man jedes Hufeisen der Pferde, jedes Glanzlicht auf der Nase der Reiter, jeden Strohhalm des Kornfeldes. Nur leider fehlt die Hauptsache: das Stürmen und Dahersausen der Kürassiere, es fehlt das »hurre, hurre, hopp, hopp, hopp, ging's fort im sausenden Galopp«. Wie Manet ebenso treffend wie boshaft vor dem Bilde sagte: alles ist wie aus Erz, bis auf die – Kürasse. In einem Bildchen, nicht größer als ein viertel Quadratmeter hat Manet ein Wettrennen gemalt. Drei oder vier Jokeys, ganz von vorn gesehen, die auf den Beschauer losjagen. Man fühlt das Vorbeisausen der Pferde, wie die Jokeys sie zur höchsten Schnelligkeit im Laufe anspornen und obgleich man kaum die Beine der Pferde oder die Köpfe der Reiter sieht, ist Manets Bild im Eindruck viel vollendeter als das Meissoniers, wo jeder Pferdehuf, ja fast jeder Nagel im Hufe zu sehen ist.
Freilich malt Manet nicht wie Velazquez, und das ist ein Glück, denn sonst hätten wir ein Genie weniger und nur einen lumpigen Nachahmer mehr. Manet hat uns etwas Eignes zu sagen: daher hat er seine eigne Sprache, die zu verstehen wir erst lernen müssen, denn nur das Gemeine wird allgemein und sogleich verstanden. Er malt keine Kunststücke, sondern Kunstwerke; keine Spur von Kalligraphie.
Ausführung heißt nicht Ausführlichkeit. Kunst gibt nicht breite Bettelsuppe, sondern Extrakt. Manet macht keinen Strich zu viel, aber auch keinen zu wenig, ein jeder ist notwendig. Man betrachte die beiden Holzschnitte: jeder Strich »zieht«; er modelliert mit dem Kontur, mit der Linie weiß er das Schwellende des Körpers wiederzugeben, mit zwei dunklen Punkten das Funkelnde der Augen. Der Körper leuchtet. Und die Verteilung von Schwarz und Weiß: der ganze Raum ist angefüllt von »Licht und Luft und bewegendem Leben« – daher die Größe des Eindruckes auch bei dem kleinsten Format.
Darin beruht die Poesie der wahren Malerei: mit den ihr eignen Ausdrucksmitteln, d. h. mit der Zeichnung und Farbe das Gefühl von Licht und Luft uns vorzuzaubern; sonst ist sie vielleicht Poesie oder Musik, keinesfalls aber Malerei.
Wie jeder wahre Maler, ist Manet vom höchsten sinnlichen Reize. Die Mathematik in seiner Kunst ist völlig versteckt. Aber hinter der scheinbaren Zufälligkeit verbirgt sich die vollkommenste Kunst der Komposition und die Kultur der Holländer, Spanier und – last not least – der Japaner.
Was er macht, ist eine Freude, anzuschauen; jedem Material weiß er seinen geheimsten Zauber zu entlocken: welche Sattheit der Farbe, welche Fülle des Tons selbst in diesen kleinen Schwarz-Weiß-Blättchen; diese Kraft und dabei die Zartheit! Die wunderbaren Aktzeichnungen Rembrandts im Amsterdamer Kupferstichkabinett fallen mir ein: nur Rembrandt wußte mit so wenigem so viel zu geben!
Und das sollte keine Kunst sein? Weil die Alten es anders gemacht haben?
Wer das behauptet, beweist nur, daß er von alter Kunst ebenso wenig versteht wie von moderner.
Denn es gibt nur eine Kunst: die lebt, ob sie alt ist oder modern. Was jung geblieben an der alten Kunst, wird an der modernen Kunst jung bleiben. Das übrige veraltet.
Wer aber an der alten Kunst anderes schätzt als das Leben, läuft Gefahr, nicht das Werk der alten Meister zu schätzen, sondern in den meisten Fällen nur das Werk des Restaurators.

Donnerstag, 19. Juli 2012

Nochmals zur Trotzki-Affäre & Robert Service

Heute las ich eine interessante - späte - Rezension der Trotzki-Biografie von Robert Service:

Alias Bronstein
Wie jüdisch war Leo Trotzki? Anmerkungen zu Robert Services neuer Biografie.
Samuel Cloots, Jüdische Allgemeine, 19.07.2012

Dort wird der gängige und bequeme Antisemitismusvorwurf zurückgewiesen, die Biografie allerdings negativ als schwach bewertet. Bemängelt wird der strapazierte Psychologismus. Unter anderem heißt es: "... agiert Service phasenweise wie ein schlechter Psychotherapeut, der zwanghaft auf verdrängte Probleme hinweist, wo der Patient nur Selbstverständlichkeiten sehen kann."

Nun, das Beispiel ist selbst fragwürdig und untauglich für eine schlüssige Folgerung, denn es könnte leicht auf den Autor zurückfallen: Es ist meist Teil der Krankheit, dass der Kranke das, worauf der Therapeut als Verdrängtes hinweist, just nur als "Selbstverständlichkeit" sieht oder sehen will. Zudem liefert das Beispiel, wohl unfreiwillig, einen weiteren Aspekt zur Problematik des Zwanghaften, womit sich wiederum Kollegen aus der Psychologen- oder Psychotherapeutenzunft aufregen könnten.

Interessant aber der Hinweis auf die Wurzeln der überhöhten Wertschätzung Trotzkis, denen auch das altbekannte Phänomen unterliegt: "Der Feind meines Feindes ist mein Freund." Weiters führt Cloots das Moment der "Identifikationserleichterung der gemeinsamen Herkunft" an. Ein schwerwiegendes Argument. Dann wird in und durch Trotzky die "urbane, intellektuelle und kosmopolitische Alternative" gesehen. Übersehen wird dabei das, was Robert Service entzaubernd herauszukehren versuchte, und dabei ebenso grob verzerrend vorging, wie ehedem die Hagiographen und Verklärer, nur von der anderen Skalenseite. Denn Trotzky war, was man gemeinhin "kalt" und zynisch nennt, rücksichtslos und menschenverachtend. Wie sonst hätte er den Terror erfolgreich zum Ziel führen können? In den Verklärungen wird der Versuch unternommen, beide Seiten, die persönlich gebildete, intellektuelle, "urbane", mit der inhumanen des kaltschnäuzigen Strategen und Militaristen. Das kann nicht gut gehen. Das bleibt auf verschobener Moralebene. Robert Service ist darin ebenso befangen, wie frühere Autoren, die eine Gegenposition vertraten. Das Geplänkel wegen vermeintlichen Antisemitismus' soll wohl ablenken.

* * *

See also:

“Of course, Trotsky was an alternative to Stalin”
An interview with Professor Mario Kessler on the Trotsky biography by Robert Service—Part one
By Wolfgang Weber, WSWS, 21 May 2012

“Of course, Trotsky was an alternative to Stalin”
An interview with Professor Mario Kessler on the Trotsky biography by Robert Service—Part two
By Wolfgang Weber, WSWS, 22 May 2012

Nachtrag:

Eine umstrittene Trotzki-Biografie
U. Sm., Neue Zürcher Zeitung, 21.8.2012

Kurze, bündige Rezension der deutschen Ausgabe Robert Services Trotzki-Biografie.

Ein frühes TV-Inteview mit Robert Service und Christopher Hitchens, kurz vor Erscheinen der Trotzki-Biographie von Service (2009):

Trotsky with Hitchens and Service (2009):




Wegzehrung - Zehrung

Kürzlich hörte ich in einem neuen Film den Protagonisten "Wegzehrung" sagen. Das frappierte mich, da dieses Wort veraltet und fast nicht mehr in Umlauf ist. Im süddeutschen Raum und im mittleren bzw. östlichen Österreich kennt man noch den Begriff "Zehrung". Bekannter hört sich "Auszehrung" an. Beeinflusst die etymologische Kenntnis die Begriffsdeutung?

Wegzehrung
Ernährung, Essen, Mundvorrat, Nahrung, Proviant, Speise und Trank, Verpflegung, Futter, Marschverpflegung, Reiseproviant, eiserne Ration, Vorrat, Vesper, Versorgung,

zehren
Ztw., aus mhd. zern (verzern) 'verzehren, verbrauchen'; ahd. firzean st. Ztw. hat nur die Bedeutung 'auflösen, zerströen, zerreißen' Diesem entsprechen got. gatairan 'zerstören, vernichten'; angls. teran, engl. to tear 'zerreißen'; dazhu ndl. teren 'verzehren', asächs. farterian 'vernichten' sowie nhd. zerren und zergen. Die germ. st. Verbalwz. ter 'zerreißen' entspricht dem gr. 'schinden', aflov. dera 'zerreißen', skr. Wz. dar 'bersten, zerstieben, zersprengen'. (Kluge)

Zehrung
etwas zum Essen, besonders auf einer Reise (Duden)
Totenmahl, Leichenschmaus (Österreich)
Brotzeit, Imbiss, Snack

Auszehrung
Schwindsucht


Die Nahrung, Mittel zum Verzehr, wird im Verzehren "vernichtet", "vertilgt" und hilft, als Lebensmittel, den Hunger zu stillen, Kräfte wiederherzustellen, Leben erhalten. Ohne Verzehr, ohne Vertilgung oder Vernichtung durch Einverleibung, kein Überleben. Man bricht das Brot, man reißt das Fleisch, man schlingt und verschlingt, beißt und kaut, zerkleinert, zermalmt, verdaut. Leidet jener, der zu lange zu wenig zur Zehrung hatte an Auszehrung? Nicht wirklich; es liegen andere Gründe vor. Aber die Sprache drängt einem das Bild auf. Und erst die Verbindung von Zehrung und Weg! Um vorwärts kommen zu können, um auf dem Weg und bei Kräften zu bleiben, gibts für die Zehrung die Wegzehrung, den Proviant zur Stärkung. Ein Mundvorrat, ein Futter auf dem Weg.

Einzig im Geistigen stimmen das Bild oder die Analogie nicht. Denn dort vermag man zu zehren, ohne zu vertilgen, zu vernichten. Das Geistige ist unendlich teilbar. Im Gegenteil, es wächst durch gemeinsame Zehrung, es vermehrt sich. Geistige Nahrung wird nie vertilgt, zerstört, zernichtet, zersprengt durch Zehrung. Dort gibts kein Reißen, Zerren, Zerreißen. Sie kann höchstens vergessen werden oder übersehen. Die geistige Kommunion ist kein Kannibalenakt, wie die eigentliche, die ein Verspeisen, Aufessen, Vertilgen ist.

Mittwoch, 18. Juli 2012

Annotation to "Gaiety"


In his introduction to „Hope Against Hope. A Memoir” by Nadezhda Mandelstam (translated by Max Hayward; Atheneum, NY 1970), Clarence Brown remarks on the specific gaiety of Osip Mandelstam:

“But the buoyancy … depends upon the central figure of Osip Mandelstam himself. Nadezhda Yakovlevna calls him in one place ‘endlessly zhizneradostny’. The words is usually rendered as ‘cheerful’ or ‘joyous’ – rather feeble counters for an original that means, in its two parts, ‘life-glad’. Those who seek the roots of poetry in a close equivalency with life will find it perfectly astonishing that there are so few sad poems in Mandelstam. But while this or that fact of his tragic existence can explain the brute meaning of many lines, nothing can explain the poetry of them other than the wild joy that he took in the Russian language. It is not astonishing, ‘Pechal moy svetla’, Pushkin wrote, ‘My sadness is luminous’; and Mandelstam not only could but did use the line. (…) In an early essay on Pushkin and Scriabin, of which only fragments remain, Mandelstam was evidently trying to find the source of this joy within the terms of Christianity. Christian art is joyous because it is free, and it is free because of the fact of Christ’s having died to redeem the world. One need not die in art nor save the world in it, those matters having been, so to speak, attended to. What is left? The blissful responsibility to enjoy the world. Such, I take it, was the argument, as one can see it, from what is left. Whether in later years Mandelstam would have sought quite this underpinning for his innate gladness in life, I cannot tell. Perhaps the missing segments of this same essay might have modulated the statement in some way. But that is beside the essential point, which is that Mandelstam habitually converted not only the prose of life but even its truly darker moments into poems from which a sense of pleasure, even beatitude, is seldom absent.”

If compared to Jorge Luis Borges one sees the essential difference of their respective gaiety: Mandelstam a religious poet, Borges a nonbeliever. Yet the one common aspect remains: the importance and source of beauty and joy of language.



Jorge Luis Borges - Gaiety of mind

An Unquenchable Gaiety of Mind
Book Essay - Summer 2012
By George Watson, The American Scholar

On visits to Cambridge University late in life, Jorge Luis Borges offered revealing last thoughts about his reading and writing

Notes taken 1984 in Cambridge reveal some noteworthy insights and might enlarge the image of the great Argentinian poet:
"I have no religion and no desire for immortality."
"It is by knowing a language that you come to know poems."
"Reading is felicity, and I hate the thought it should be forced on anyone."









Georg Kreislers 90. Geburtstag

Georg Franz Kreisler, 18. 7.1922 - 22. 11.201, war ein Komponist, Sänger und Dichter, der aus einer jüdischen österreichischen Familie stammte und als Emigrant 1943 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte.

Wikipedia

Abbildung aus Wikipedia





Dienstag, 17. Juli 2012

Ian Johnson on Yu Jie's New Biography of Liu Xiaobo


China’s ‘Fault Lines’: Yu Jie On His New Biography of Liu Xiaobo
Ian Johnson, NYR Blog, The New York Review of Books, July 14, 2012

Ian Johnson writes about Yu Jie’s latest book and writes in his interview with the author, who lives now in the US:
“In the West, if people know anything, they might think of him as conservative. For example, he supported Reagan and, later, George W. Bush’s Iraq War. He was very similar in many ways to the Republicans. I felt I had to write this and explain his thinking and show why he’s like that. Why did he support the Iraq war? You can’t just put him in the European environment and say that everyone who supported that war was a bad person.
He thought of the war as an extension of his opposition to dictatorships.
Yes, and he wasn’t alone. Havel also supported it, and Michnik too. So there are very confusing issues and they can’t be simplified.”
* * *

Several aspects are quite interesting:
Firstly, the old view “The enemy of my enemy is my friend.” Concerning Liu Xiaobo’s stand to the Iraq-war.
Secondly, the comparison and linking with two Europoean political figures to support Liu Xiaobo’s questionable war endorsements: Vaclav Havel and Adam Michnik.

But does this elevate Liu Xiaobo? No. It is too simple a manoeuvre to justify his war oriented  supportive position. Liu Xiaobo was supporting war. Period. The same is valid for many Western intellectuals and politicians, not only the mentioned Havel and Michnik.* We should remember that persons like the famous Ralf Dahrendorf were in line with the inhuman, self-righteous position led by the US and her puppets, the liberal philosopher Richard Rorty and so on. A big part of the Western intelligence surrendered under what seemed “rational” and “necessary”. These dark figures are of no weight to support a wrong position taken by the Chinese dissident.
  • * Adam Michnik über den Irak-Krieg: [Frage des Interviewers]„Sie haben vor einem Jahr über die amerikanische Irak-Politik gesagt: ‚Eine schlechte Regierung hat mit schlechten Argumenten eine sehr gute Intervention gemacht.‘ Was wollten Sie damit sagen?
    Antwort von A. M.: Dass man für den Sturz Saddam Husseins sein kann, obwohl auch Bush und Rumsfeld dieser Meinung sind. Dass dieser Krieg gerechtfertigt sein kann, obwohl auch Bush und Rumsfeld ihn befürworten." [In einem Interview in der Schweizer WELTWOCHE, Ausgabe 17/2004] 
Neben kriegsorienterten Intellektuellen, Politikern und Geschäftemachern waren auch viele westliche Staaten unterstützend tätig in der sogenannten Koalition derWilligen”.

Das Friedenstaubenimage, das der Westen dem braven Vaclav Havel verpasste, verlangt nach Korrektur, zumindest nach Gegenüberstellung mit anderen Deutungen. Eine findet sich in WSWS (World Socialist Web Site) in einem Beitrag von Peter Schwarz vom 21.12.2011. Vielleicht doch nicht überflüssig sie zu lesen? Das wiederum könnte einen hellhörig machen in der Beurteilung von vom Westen gepriesener Dissidenten. Was nicht heißt, dass ihre Positionen unannehmbar wären, sondern nur bedeutet, die instrumentalisierenden Begleitgeräusche zu dämmen und sich mehr den Personen und ihren Aussagen direkt zu widmen sowie Kontexte herzustellen.





Christina Stead's 110th obit


Christina Stead (17 July 1902 – 31 March 1983) was an Australian novelist and short-story writer acclaimed for her satirical wit and penetrating psychological characterisations. She was born in Rockdale, New South Wales, and died in Sydney. Her novel "The Man Who Loved Children", written 1940, has become known only after a reissue edition in 1965, introduced by Randall Jarrell.

Wikipedia



Sonntag, 15. Juli 2012

Nachtrag zu "Madame de Staël"


Zu Madame de Staël passt ein Zitat, das den geistig-historischen Hintergrund kurz beleuchtet; diese Person soll nicht nur literarisch verstanden und gedeutet werden; das Zitat ist aus Friedrich Heer: Europäische Geistesgeschichte. Kohlhammer, Stuttgart 1953, Seite 525

Eine andere Möglichkeit der Schwärmerbewegung zeigt Madame de Staël und ihre Umgebung auf Schloß Coppet an: diese Tochter des Finanzministers Necker, der sich ebenfalls mystizistischen Spekulationen ergibt, erhebt ihr Schloß zu einem permanenten „Kongreß der Religionen“; Katholiken, Böhmisten, Theosophen usw., vor allem aber die deutschen Schwärmer und Romantiker treffen sich hier mit ihren französischen Brüdern. Coppet wird so zum Zentrum des „Liberalismus“ und der Romantik; aus dem „Geist“, der in „Begeisterungen“ und Séancen erfahren wird, wird hier der Geist der Literatur und Literaturkritik. (Auch Frau von Krüdener [jene Baronin, die im Zaren Alexander den Heilsführer und Weltbefreier sah] hatte als Romanschreiberin und Verehrerin Jean Pauls begonnen.) In Coppet finden sich A. W. Schlegel und Zacharias Werner ein, bei dem man den ganzen Haß Goethes wider die Romantik verstehen lernen kann. Werner, der spätere Konservative und Konvertit, stammt aus Königsberg, der Heimat Hamanns und Hoffmanns; seine Mutter hält sich für die hl. Maria, er selbst verehrt Novalis als Heiligen und verkündet eine Union von Katholizismus, Freimaurerei, allen Wissenschaften und schönen Künsten. Alle Mythologien der Geschichte sollen in der Einen Kirche sich finden. Frau von Staël stellt in ihrem Buch „de l’Allemagne“ Werner dem französischen Publikum als Mystiker und großen Dichter vor. In Coppet läuft die Schwärmerbewegung in Rede, Schreibe, Literatur aus. Die Blut-, Todes- und Untergangsvisionen der deutschen Romantiker weisen aber noch auf den später sorgfältig verdeckten revolutionären Untergrund hin, der nun als „Unterbewußtsein“, als „Genie“ individualisiert und als „Heldentum“ egozentgrisch dramatisiert wird. Nicht sleten werden nun aus den „linksliberalen“ politischen Schwärmern und Utopisten der Revolution rechtsradikale Absolutisten, Theoretiker der Theokratie und des „Faschismus“.


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