Mittwoch, 11. Juli 2012

Moby-Dick in der NEUEN RUNDSCHAU

Mit der jüngsten Ausgabe 123/2, "Moby-Dick" startet die NEUE RUNDSHAU     ein vielversprechendes, hoch interessantes Monsterprojekt: die historisch-spekulative Deutung aller 135 Kapitel des Romans von Herman Melville.

Eine Forschergruppe, die sich seit 2006 dem Projekt widmet, wird in einem Zeitraum von ca. 12 Jahren laufend Kommentare liefern und das Langzeitprojekt speisen.

Im Vorwort der NEUEN RUNDSCHAU heißt es dazu:

1. Das Projekt
Seit 2006 trifft sich eine Gruppe von Kulturwissenschaftlern jährlich mit dem ehrgeizigen Ziel, jedes der 135 Kapitel von Moby-Dick samt der Paratexte, also die Exzerpte zu Beginn des Romans, Epilog, Titel usw., einem geschichtlich ebenso gründlichen wie kulturtheoretisch aufschlussreichen Kommentar zu unterziehen. Das Projekt eines "historisch-spekulativen" Gesamtkommentars fragt dabei nach den Gründen für die enorme Bedeutung von Moby-Dick für die Selbstbeschreibungen unserer Kultur und nach den Ambiguitäten und der Zerrissenheit des Symbols in Form eines weißen Wals, den es in allen sieben Weltmeeren zu jagen gilt.

2. Die Methode
Im Gegensatz zu den bereits vorliegenden philologischen Kommentaren der Werke von Herman Melville (zum Beispiel die Northwestern-Newberry Edition), folgt unser Vorhaben einer komplementären Zielsetzung, was nicht zuletzt mit der Bezeichnung "historisch-spekulativ" markiert ist.

Gemäß der methodischen Herkünfte unserer Kommentatoren aus der Philologie, Philosophie und kulturwissenschaftlichen Medienforschung bezeichnet "historisch" zum einen selbstverständlich das tägliche Handwerkszeug, also die sorgfältige, historischreflektierende Lektüre der im Roman zu erschließenden Quellen.
Zum anderen, und darin liegt das "spekulative" Moment unseres Projekts, geht es mehr noch darum, einen anderen, indirekten Quellenkorpus und auch theoretisches Neuland zu erschließen, insofern die Deutungen analytisch wie ihrerseits theoretisierend ein Wagnis eingehen, zum Beispiel durch Hinzuziehung von Materialien und Theoremen, die Melville nicht zur Verfügung stehen konnten, sei es, weil sie ihm nicht bekannt waren, sei es, weil sie erst später entstanden.

Der hier angestrebte Kommentar geht zurück auf den lateinischen commentarius und möchte daher ganz wörtlich etwas ins kulturelle Gedächtnis rufen, einen vergessenen Zusammenhang aktualisieren oder eine Verbindung herstellen, die in einer ersten Lektüre nicht sichtbar ist.

Für eine kulturwissenschaftliche Analyse, die nicht vom Zentrum, sondern vom scheinbar Sekundären, vom Rand her auf die großen Texte blickt, stellt sich das Problem der Lektüre anders. Unser Kommentar verfolgt keine einheitliche Methode oder Theorie, dennoch greifen die Beiträge bevorzugt auf Wissensarchäologie, Literaturund Kulturgeschichte sowie Theorien des Politischen zurück.

3. Die Kommentare
Die nachfolgenden Kommentare beziehen sich allesamt auf zwei Ausgaben: Für das englischsprachige Original wird die von Hershel Parker und Harrison Hayford herausgegebene Norton Critical Edition (New York, London 2. Auflage 2002) herangezogen. Für die deutsche Übersetzung zitieren wir, sofern nicht explizit eine andere Ausgabe angegeben wird, die Neu-Übersetzung von Matthias Jendis, die 2001 im Carl Hanser Verlag, München, erschienen ist.

* * *

Dass sich die NEUE RUNDSCHAU für solch ein riesiges, lang dauerndes Projekt engagiert, hebt sicher ihre Bedeutung, die sie seit langem hat, noch mehr. Hoffentlich finden auch Studierende neben allgemein literarisch Interessierten Zugang zu diesem Projekt.

Für die Problematik Primäres vs. Sekundäres, Original vs. Kommentar, ergeben sich aus diesen Arbeiten neue Erkenntnisse bzw. Deutungsmöglichkeiten. Wie steht's um das Original? Ist es überhaupt ohne sekundäre Expertise lesbar? Was, wenn wir den professionellen Deutungen mehr Augenmerk, mehr Gewicht schenken, als dem Original? Wertet das das Original für den "naiven" Leser nicht ab, steigert es nicht die Abhängigkeit vom Vermittler, Exegeten, also Hohenpriester der Deutung? Gesetzt den Fall, die Konzentration auf Philologie, Anthropologie, Soziologie, Kulturwissenschaften, Linguistik und Semiotik nimmt noch stärker zu, als bisher geschehen werden dann Originale nur noch Studien- und Analyseobjekte für Experten, deren Erkenntnisse dann das Original substituieren, wie der billige Digest für viele mit seinem Vorgekautem, Vorverdauten genügt, weil es dem time management entspricht, weil man, ökonomisch gesehen, sich Zeit und Mühe spart?

Das muss nicht so sein. Reife, d. h., aufmerksame, wissende Leser, verwenden Kommentare nicht als Ersatz, eher als Zusatz. Kritik als Komplementäres. Das Verhältnis von Primärem und Sekundärem bleibt gewahrt. Das nicht zu verwischen, ist heute eine schwierigere Aufgabe, als früher. Aber sie ist lösbar. Und so wird der Roman durch tonnenweise Kommentare nicht überflüssig oder obsolet, sondern erhält neue Beleuchtungen, Belichtungen, Deutungen, die die Lektüre schlussendlich bereichern. Zumindest für jene, die den Weg gehen, die Reise unternehmen.


Verlagsanzeige Fischer Verlage zu "Moby-Dick" - Neue Rundschau

Ein Kommentar zu „Moby Dick“ Das Tier sind wir
Zwölf Jünger des Wals: Eine Gruppe von Kulturwissenschaftlern arbeitet an einem neuartigen großen „Moby-Dick“-Kommentar. Er erscheint nun sukzessive in der „Neuen Rundschau“. Markus Krajewski erläutert im Gespräch das Projekt.
FAZ, 10.07.2012 ·

Vorwort aus der NEUEN RUNDSCHAU 123/2 "Moby-Dick" (pdf)

Moby-Dick
Wikipedia

Hermann Melville
Wikipedia: deutsch / englisch

The Life and Works of Herman Melville



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen