Alias Bronstein
Wie jüdisch war Leo Trotzki? Anmerkungen zu Robert Services neuer Biografie.
Samuel Cloots, Jüdische Allgemeine, 19.07.2012
Dort wird der gängige und bequeme Antisemitismusvorwurf zurückgewiesen, die Biografie allerdings negativ als schwach bewertet. Bemängelt wird der strapazierte Psychologismus. Unter anderem heißt es: "... agiert Service phasenweise wie ein schlechter Psychotherapeut, der zwanghaft auf verdrängte Probleme hinweist, wo der Patient nur Selbstverständlichkeiten sehen kann."
Nun, das Beispiel ist selbst fragwürdig und untauglich für eine schlüssige Folgerung, denn es könnte leicht auf den Autor zurückfallen: Es ist meist Teil der Krankheit, dass der Kranke das, worauf der Therapeut als Verdrängtes hinweist, just nur als "Selbstverständlichkeit" sieht oder sehen will. Zudem liefert das Beispiel, wohl unfreiwillig, einen weiteren Aspekt zur Problematik des Zwanghaften, womit sich wiederum Kollegen aus der Psychologen- oder Psychotherapeutenzunft aufregen könnten.
Interessant aber der Hinweis auf die Wurzeln der überhöhten Wertschätzung Trotzkis, denen auch das altbekannte Phänomen unterliegt: "Der Feind meines Feindes ist mein Freund." Weiters führt Cloots das Moment der "Identifikationserleichterung der gemeinsamen Herkunft" an. Ein schwerwiegendes Argument. Dann wird in und durch Trotzky die "urbane, intellektuelle und kosmopolitische Alternative" gesehen. Übersehen wird dabei das, was Robert Service entzaubernd herauszukehren versuchte, und dabei ebenso grob verzerrend vorging, wie ehedem die Hagiographen und Verklärer, nur von der anderen Skalenseite. Denn Trotzky war, was man gemeinhin "kalt" und zynisch nennt, rücksichtslos und menschenverachtend. Wie sonst hätte er den Terror erfolgreich zum Ziel führen können? In den Verklärungen wird der Versuch unternommen, beide Seiten, die persönlich gebildete, intellektuelle, "urbane", mit der inhumanen des kaltschnäuzigen Strategen und Militaristen. Das kann nicht gut gehen. Das bleibt auf verschobener Moralebene. Robert Service ist darin ebenso befangen, wie frühere Autoren, die eine Gegenposition vertraten. Das Geplänkel wegen vermeintlichen Antisemitismus' soll wohl ablenken.
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See also:
“Of course, Trotsky was an alternative to Stalin”
An interview with Professor Mario Kessler on the Trotsky biography by Robert Service—Part one
By Wolfgang Weber, WSWS, 21 May 2012
“Of course, Trotsky was an alternative to Stalin”
An interview with Professor Mario Kessler on the Trotsky biography by Robert Service—Part two
By Wolfgang Weber, WSWS, 22 May 2012
Nachtrag:
Eine umstrittene Trotzki-Biografie
U. Sm., Neue Zürcher Zeitung, 21.8.2012
Kurze, bündige Rezension der deutschen Ausgabe Robert Services Trotzki-Biografie.
Ein frühes TV-Inteview mit Robert Service und Christopher Hitchens, kurz vor Erscheinen der Trotzki-Biographie von Service (2009):
Trotsky with Hitchens and Service (2009):
Als ich in Youtube Videos zu/über Leo Trotzki suchte und ansah, bin ich erschrocken über die vielen gehässigen, dummen, bösen, und vor allem: antisemitischen Kommentare. Da schwelt also immer noch die Krankheit des Antisemitismus! Von daher kann ich die Sorge vieler mit der Biografie von Service verstehen, auch wenn er selbst nicht Antisemit ist. Aber er bedient offenbar ein begieriges Publikum. Dem kommt man zwar nicht mit Zensur bei. Aber, für die Nichtverbohrten, mit entschiedener Positionierung und fündiger Argumentation.
AntwortenLöschenAm 25.7.2012 erschien im Berliner TAGESSPIEGEL von Hannes Schwenger ein Artikel zu Robert Services Trotzki-Biografie:
AntwortenLöschenhttp://www.tagesspiegel.de/kultur/leo-trotzki-hammer-sichel-eispickel/6916078.html
Klaus Rainer
Neueintrag wegen Tippfehler:
AntwortenLöschenReiner Tosstorff publizierte bereits letztes Jahr in MITTELWEG 36, 1/2010, S. 33-43, seine Rezension zur Trotzki-Biographie von Robert Service "Es gibt noch Leben in dem alten Kerl Trotzki". Eine nüchterne, fundierte Kritik mit vielen Verweisen.
(Im Netz als pdf abrufbar!)
Darin erwähnt er unter anderem auch den Aufsatz "Trotzki und die tragische Einbildung" von George Steiner (aus: Sprache und Schweigen, 1973, Original 1967), worin der bekannte Literaturkritiker auf die Trotzki-Biografie von Isaac Deutscher profunde eingeht und einige Retuschen bekräftigt, die den Hagiografen unangenehm sind; sein Ton ist allerdings ganz anders als der des einseitigen Service, der ein persönliches Bedürfnis an der gezielten Demontage verfolgt und seinen Bias nicht unter Kontrolle zu haben scheint.
Steiner folgert nach Deutschers Lektüre: "The legend of a liberal, pro-Western Trotsky under whose rule the Soviet Union would have evolved along consultative lines, of a great revolution gone wrong through the sinister accident of Stalin's presence, will not hold."
Die Lektüre dieser Arbeit und der von Deutscher, neben anderen erwähnten Schriften, könnte die Debatte auf ein anderes Niveau heben, als es den konservativen Ideologen entspricht, die in Services Arbeit eine willkommene Entmythologisierung nach IHREM Geschmack erkennen. Auch wenn Steiner kritisch versucht Trotzkis Rolle realistisch einzuschätzen, verkommt bei ihm die Deutung nie zur hämischen Denunziation. Im Gegenteil, wie er das Erbe abendländischen Denkens und seiner Mythen bemüht, um das Phänomen Lenin - Trotzki - Stalin zu erfassen, ist beeindruckend.