Freitag, 29. September 2017

470. Geburtstag von Miguel de Cervantes

Miguel de Cervantes Saavedra (* vermutlich 29. September 1547 in Alcalá de Henares, getauft am 9. Oktober 1547 in Alcalá de Henares; † 22. April 1616 in Madrid) war ein spanischer Schriftsteller. Der Autor des Don Quijote gilt als Spaniens Nationaldichter.
Wikipedia







Donnerstag, 28. September 2017

Yi Sha (伊沙): ÜBERQUERUNG DES GELBEN FLUSSES

Ich erhalte eine Verlagsnachricht von fabrik.transit, dass

Yi Sha (伊沙): ÜBERQUERUNG DES GELBEN FLUSSES
(車過黄河) Band 2 Gedichte (2010-2017), übersetzt von Martin Winter,  

soeben erschienen sei. Im Prospekt steht unter anderem:
詩可以群 sagte Konfuzius. Gedichte und Lieder sind für die Gemeinschaft. 詩终不群 schreibt Yi Sha. Poesie ist letzlich nicht kollektivierbar. Das war ein Motto auf der Jahresausstellung der Universität für Angewandte Kunst in Wien von 2015. Yi Sha 伊沙 war schon fünf Mal in der NZZ, seit 2013. Er war auch in der FAZ und in vielen anderen Medien, ist in Arizona und in Vermont, in Schweden und England, in Rotterdam, Wien und Graz aufgetreten. 
Ich habe den ersten Band erworben und gelesen. Er hat mich nicht gerade vom Stockerl gerissen. Entspricht dem Durchschnitt, dem Massengesschmack, der politischen Korrektheit, dem Kalkül, dem annehmbaren Protest, dem zirkusähnlichen Getue der Poetry-Slam-Generation, einer gewissen Oberflächlichkeit, wie sie das schnelle Vielschreiben bedingt (er, 1966 geboren, habe ca. 100 Bücher im, In- und Ausland publiziert). 

Die werbenden Hinweise, oben zitiert, vervollständigen für mich dieses Bild der Dürftigkeit und Anbiederung. "Gedichte sind für die Gemeinschaft." Was für ein Gemeinplatz. Nein, sie sind zum Tapezieren in verlassenen Hochhäusern, wo die Kreativen krank darniederliegen. "Poesie ist letztlich nicht kollektivierbar." Na sowas. Letzlich nicht. Aber irgendwie doch. Sonst müsste es nicht so ewig lang dauern, bis schlussendlich, letztlich, zu schlechter Letzt, die Kollektivierung nicht funktioniert. Was statt dessen? Der Individualismus? Welcher? Der koreanischer, chinesischer, japanischer, indischer Art? Moslemischer? Westlicher (als ob der einheitlich wäre!)? Es lebe also die nicht kollektivierbare Poesie. Weshalb ähneln sich aber dann die Rapper beiderlei Geschlechts, pardon, ich habe die Zwitterwesen missachtet, also dreierlei Geschlechts, die Slammer so chic, so stereotyp, so eingepasst, so angepasst sogart im vermeintlichen Protest? Ist DAS das Nichtkollektivierte? Und was soll die peinliche Aufzählung wo überall Yi Sha erwähnt wurde? Da reicht es als Qualitätsurteil schon, dass er öfters Eingang in die Seiten der NZZ fand, dass er in X Städten weilte. Ja, das ist natürlich individuell und von besonderer Güte, höchster Qualität, wenn einer in soo berühmten Städten wie Wien und Graz auftritt, in Arizona, Vermont, Schwenden und England (da werden nur die Länder genannt, nicht die Städte, schon gar nicht die "Location"). Die tapferen Kulturbarden berufen sich, ganz wie die anders  Erfolgreichen, die auch nicht kollektivierbar sind, auf Symbole, auf Kürzel, um das undifferenzierte Quotendenken, von dem Wichtigkeit, Bedeutsamkeit, Erfolg und Qualität abgelesen wird, zu teilen und zu befriedigen. Ganz individuell.



Lettre International 3/2017, Nr. 118



 Lettre International Nr. 118 / Neue Ausgabe


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser, liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir freuen uns, Ihnen das Herbstheft von Lettre International, Nr. 118, vorstellen zu können, das ab heute im Buchhandel, am Kiosk oder ab Verlag für Sie bereitliegt. Gestaltet haben es die spanische Künstlerin Marina Roca Die mit ihren in organischer Lust explodierenden Lebewesen und der französische Photograph Guillaume Zuili, der Objekte in abstrakter Schönheit poetisch erstrahlen läßt: Photogramme“.

HAMLET, MÜLLER & CO. – BRENNPUNKT THEATER
Zur Spielzeiteröffnung 2017/2018 richten sich alle Scheinwerfer auf die Bühnenwelt: Essays, Gespräche, Erinnerungen, Polemiken, ein ABC der Bühnenbegriffe, Porträts und Liebeserklärungen. Wir lösen das Rätsel um Hamlet in der Mausefalle und erkennen: Jeder handelt als Schauspieler; wir setzen uns der Zumutung Oper aus, enträtseln Heiner Müllers Vermächtnis und entziffern das Serielle Bühnenbild. Wir verfluchen das Rampentheater, tasten uns durch die Bühne als Hospital, buchstabieren ein kleines ABC des Theaters und blicken zurück auf ein Schauspielerleben.

100 JAHRE RUSSISCHE REVOLUTION
Das 100jährige „Jubiläum“ der Oktoberrevolution 1917 nehmen wir zum Anlaß, auf Glanz und Elend dieses Ereignisses zurückzublicken: Wir analysieren mit Alexander Solschenizyn das Rote Rad der Revolution, erkunden die Überlagerung der Zeiten und das Leben der Dinge; mit der russischen Avantgarde katapultieren wir uns ins All und werden kosmisch; und wir Warten auf Blücher, einen mysteriösen Marschall der Sowjetunion.

Wir denken nach über die Beziehungen der Generationen, über Afrika als Grenze und als Objekt der Begierde und über Europas viele Heimaten. Wir erlernen das Genaue Hinschauen; wir schwimmen und träumen in Zeichenmeeren; Zarentochter Anastasia taucht auf aus den Tiefen der Zeit. Wir konfrontieren uns mit dem Atheismus der Philosophie und dem A-Atheismus. Bastian Schneider, ein Virtuose des literarischen Plagiats, ergreift als Intertextueller das Wort am letzten Rand der Klippe:
Wir besuchen Künstlerateliers und machen uns vertraut mit den Werken von Luc Tuymans, Jean Siméon Chardin und Jannis Kounellis.

Ein Neunauge in weißer Butter zergeht uns auf der Zunge; wir hören in Himmelreich und Höllensteig vom tragischen Verlöschen eines talentierten Achtundsechzigers und mit der Suezkrise von 1956 erklären wir die Demontage einer Weltmacht
Wir beschäftigen uns mit dem Sieg der Militärs im Weißen Haus, betrachten mit Baudrillard und Buddenbrooks die Ereignisse um den Hamburger G20-Gipfel und erinnern an Juan Goytisolo.

Kraftvolle Malerei und subtile Zeichnungen, künstlerische und historische Photographie wie auch ingeniöse Bühnenbilder machen das Heft zu einem ästhetischen Vergnügen.

SCHWERE Vermächtnisse
Die Berliner Afrika-Konferenz 1884-1885 war Auftakt zur Kolonisierung noch unaufgeteilter Regionen des Schwarzen Kontinents. Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Portugal reklamierten Land. Kolonisierung wurde als Zivilisierung legitimiert und der Bau von Infrastrukturen sollte Zeugnis der guten Absichten ablegen. 1896 begannen die Briten mit dem Bau der über tausend Kilometer langen Uganda Railway vom Indischen Ozean zum Victoriasee. Schwellen und Gleise der Eisenbahn bissen sich ins Buschland und mit dem Vortrieb der eisernen Rippen ins Landesinnere eignete man sich das Land um die Trassen herum an. Die Massai mußten ihre Enteignung zumeist ohnmächtig erleiden. Auf den Spuren der Vergangenheit folgt Priya Basil in einem kunstvollen Essay der Geschichte des Eisenbahnbaus, der Landnahme und der Besiedelung Britisch-Ostafrikas. Die Schienen selbst erinnern sich dabei an die Ereignisse. Heutzutage befördern chinesische Unternehmen den Bau von Häfen, Highways, Flughäfen, Bahntrassen in Afrika, und die Afrikaner stimmen zu, denn sie wollen auf eigenen Füßen stehen, sie wollen eine andere Zukunft für ihren Kontinent: Stahl, der die Erde beißt.

Geboren werden heißt, einer Abstammungslinie anzugehören, einer Familie, einem Verwandtschaftssystem, einem System von Regeln und Verboten, welche in der Abfolge von Generation zu Generation weitergegeben werden, so wie symbolische oder materielle Güter, Traditionen, Wissen, Werte, Glaubensüberzeugungen. Die aufeinanderfolgenden Generationen sind sich wechselseitig verpflichtet und so tauschen sie Gaben und Anerkennungen aus. Heute jedoch hat die Verwandtschaft ihre soziale Funktion weitgehend verloren; der ökonomische Markt wird zur zentralen Instanz bei der Markierung von Altersgruppen. Der französische Philosoph Marcel Hénaff beschreibt traditionelle und zeitgenössische Generationenbeziehungen, neue Formen der Gemeinschaft und der Solidarität: Die Schuld der Zeit

Europa kann niemals auf gleiche Weise Heimat für seine Bürger werden, wie es Nationalstaaten wie Schweden, Dänemark oder Italien sind, die sich als imaginierte Gemeinschaften aus ethnischen, kulturellen und sprachlichen Wurzeln herausgebildet haben. Eine Europäische Union, welche sich nach dem Vorbild des auf dem Staatsvolk basierenden Nationalstaats konstruieren würde, könnte nur zu einem abstoßenden Europäischen Superstaat mit einem eingebauten Konflikt zwischen nationalstaatlich organisierter Demokratie und Europäischer Entscheidungsfindung werden. Europa sollte nicht anstreben, Gemeinschaft zu werden, sondern eine Gesellschaft, die ihre soziale und kulturelle Diversität im Rahmen einer politischen Föderation entfalten sollte. Der schwedische Essayist Göran Rosenberg plädiert für Europas viele Heimaten.

ZEICHENMEERE
Mit dreißig Jahren verliebt sich Nicholas Shakespeare ins Angeln, in eine Tätigkeit, deren Ziel simpel ist: sich zu entwirren und dem Geist zu ermöglichen, fortgetragen zu werden, sich zu reinigen, um neue Verbindungen einzugehen. Über Schnüre, Lachsforellen und Fasanenschwanzfedern, über Trophäen, Puristen und Verzicht, über die Kunst des Sehens, das Staunen, Entdecken und Finden und über die Ähnlichkeiten zwischen Anglern und Autoren. „Der Angler wählt eine Fliege aus und seine Methode, die Angel auszuwerfen – die Art, wie die Wurfschnur zurückschnellt oder auch nicht – hat etwas mit einer Zeile Prosa gemein (...) Auf der Suche nach dem einen Fisch findet man einen anderen – und vielleicht findet man am Ende alles.“ Gut hinschauen!

Gwenaëlle Aubry genügt der Himmel nicht. Ihre elementare und biographische Geographie teilt sich in Orte, an denen man tauchen kann und die anderen. Ein Wasserloch zieht sie jeder Wüste vor, signalisiert es doch Aufbruch. Die Welt der Wasser, die Kunst der Zwischenräume, Seen, Sturzbäche, Flüsse und Ströme, tote oder lebende Gewässer: sie alle stehen miteinander in Verbindung, dort braucht der Mensch nicht weiter zu gehen. Sein schwerer, abgenutzter Teil wird zurückgelassen, die Masken auch, Gleichgewicht ist nicht vonnöten: Schwimmen.

Enrique Vila-Matas’ Held Bastian Schneider ist als Assistent eines Autors Lieferant literarischer Zitate. Er plündert Kafka und Gombrowicz, Dickens und den Talmud. Er verrät, wie Dichter bewußt und unbewußt auf andere Bücher und Konzepte zurückgreifen, diese aufnehmen, umformen, travestieren, ironisieren und mit ihnen spielen. Sein Lieblingsbuch war dereinst Hugo von Hofmannsthals Buch der Freunde, komponiert aus aphoristischen Freundesstimmen, doch Originalität konnte er dort nirgendwo entdecken. Also entschloß er sich, radikal unoriginell zu sein. Er macht sich alles zunutze, nimmt, was dienlich ist. Ist in der Kunst alles Kreislauf und Umschreibung seit Anbeginn der Zeiten?

Bora Ćosić folgt in Ich, Anastasia den Spuren der legendären Zarentochter und stellt beunruhigende Übereinstimmungen fest. Manchmal frage ich mich, ob es das mysteriöse Fräulein Anastasia in der kurzen Geschichte ihres Lebens direkt vor dem Massaker überhaupt gegeben hat, wie auch alles um sie herum und die ganze Geschichte, die passierte, bevor ich geboren wurde? Welche Art von Gewißheit gibt es in mir, an das zu glauben, was war; all die Photos, Filme und bedruckten Papiere sind nutzlos, ich muß auch nicht daran glauben, was gestern passiert ist (...) Ich bin möglicherweise nur eine Variante jener fragilen Prinzessin, die sie angeblich getötet haben, wenn auch nicht ganz, und die, ebenfalls angeblich, hier wie dort gesehen wurde. (...) So wie alle Menschen auf dieser Erde weilen und glauben, sie seien echte und normale Menschen, während sie nur symbolische Erscheinungen sind und reine Allegorien.“

Der Philosoph Jean-Luc Nancy hinterfragt Gottesglauben und Atheismus in der heutigen Welt. „Der Atheismus ist in dem Maße, in dem unsere – westliche/globale – Kultur sowohl in ihrer Struktur als auch in ihrem Verhalten durchgehend ohne wirklichen, aktiven, organisierenden und kollektiven Bezug zu einer Vorstellung des Göttlichen auskommt, die einzige Denkhaltung. In dieser modernen Haltung kommt aber nur ein Keim zur Reife, der seinem Wesen nach bereits in den Anfängen der abendländischen Wende der Welt angelegt war. Die bestimmendste Eigenschaft dieser Wende war nämlich das Entschwinden der Götter“. A-Atheismus

russische Revolution 1917
Nach der Oktoberrevolution überboten sich russische Denker, Schriftsteller und Künstler mit Ideen für einen radikalen Neubeginn. Visionen von kollektiver und individueller Befreiung, Utopien vom neuen Menschen brachten die Luft zum Brennen. Die Geschichte sollte einen neuen Anfang finden. Die „Biokosmisten“ oder „Immortalisten“ waren eine dieser Gruppen – mit Wurzeln im Anarchismus und Nietzscheanismus. „Wir fordern, daß das Recht auf Existenz (Unsterblichkeit, Auferstehung, Verjüngung) und die Freiheit, den Raum des Kosmos zu besiedeln, essentielles und reales Menschenrecht ist.“ Unsterblichkeit wurde zum höchsten Ziel der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft; wahre Solidarität könne nur unter Unsterblichen herrschen, die kommunistische Gesellschaft müsse „interplanetar“ organisiert sein und das gesamte Universum regulieren. Boris Groys vergegenwärtigt tollkühne Visionen der russischen Avantgarde von der Besiedelung des Universums, von der Wiederauferstehung aller Verstorbenen, technologisch herstellbarer Unsterblichkeit, und einer kommunistischen Organisation des gesamten Universums. Kosmisch werden.

Georges Nivat schildert das Entstehen von Alexander Solschenizyns 6.000 Seiten umfassenden Roman Das rote Rad.Knoten für Knoten“ wollte der Autor die Geschichte der Russischen Revolution bis zum Oktober 1917 erzählen, doch brach er ab mit der Erzählung der Aprilereignisse 1917. Mit dem Scheitern der bürgerlichen Februarrevolution des Jahres waren alle Würfel zur bolschewistischen Machtergreifung bereits gefallen. Andersdenkende wurden ausgeschaltet, man schürte sozialen Haß. Der Freund Solschenizyns erzählt von der titanenhaften Arbeit an diesem (ins Deutsche nur teilweise übersetzten) Mammutwerk und von der Selbstverwandlung seines Autors dabei.
Als Hitlers Panzer am 22. Juni 1941 über die Grenze der Sowjetunion vordrangen und die auf 2.000 Kilometern von der Ostsee zum Schwarzen Meer positionierten Truppen im Eiltempo nach Osten vorstießen, war das sowjetische Oberkommando in die Enge getrieben. Am 111. Tag der Wehrmachtsoffensive tobte die Schlacht um Moskau. Quellen in Schanghai, Rom und Ankara verkündeten, Stalin werde nun sein Trumpf-As ausspielen und Marschall Blücher an die Spitze der Roten Armee berufen: Warten auf Blücher.  

Wer war dieser legendäre, mysteriöse Blücher? Er hatte in China und Japan, in Sibirien und der äußeren Mongolei gekämpft und Siege für die Sowjetunion errungen und war zum Mythos geworden. Doch wartete man vergebens. Der Held der Sowjetunion war seit drei Jahren tot. Der Chef der sowjetischen Geheimdienste Lawrenti Beria hatte ihn als japanischen Spion verhaften lassen und zu Tode gefoltert. Eine Geheimgeschichte der Russischen Revolution von Philippe Videlier. Karl Schlögel, Intimus der russischen Revolutionsgeschichte, widmet sich erneut der Oktoberrevolution. Welches Narrativ könnte diese „Zeit der Wirren“ so darstellen, daß es Siegern und Opfern, Roten und Weißen, der inneren Macht und der Diaspora gleichermaßen gerecht würde? Wie verflechten sich Ereignisgeschichte und Strukturgeschichte? Nach der Machtergreifung muß sich die Revolution in vorrevolutionären Umgebungen zurechtfinden, Hinterlassenschaften der alten Ordnung: „Der Kampf zwischen alt und neu wird überall ausgetragen: in den Interieurs, der Mode, der Körpersprache, im Design, im Tanz, in der Welt der Düfte, der Welt der Töne. Es gilt, die Register historischer Wahrnehmung zu erweitern; neben der Dokumentensammlung brauchen wir ein Archiv der Akustik, ein Archiv der Gerüche, ein Archiv der Dinge ...“ Wissenschaftliche Rezepte für eine „Archäologie der Sowjetzivilisation“.

BRENNPUNKT THEATER
Über einer zerklüfteten, babylonischen Theaterlandschaft thront Katrin Brack. Die Bühnenbildnerin, 2017 für ihr Lebenswerk ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen in Venedig, spricht über das Singuläre ihres Verfahrens. Sie erklärt, warum sie zumeist nur mit einem Element – Regen, Nebel, Konfetti, Schnee – arbeitet, wie die von ihr erzeugten Atmosphären serielle Sequenzen aktivieren. Eingesetzte Mittel werden extrem reduziert verwendet, kommen aber massenhaft zum Zuge. Dadurch entstehen Räume ohne festgelegte Bedeutung, die zu sprechen beginnen, wenn Schauspieler sie betreten und szenisch Themen verhandeln. Die Semantik, die der Rezipient erzeugt, gilt für ihn allein: Das serielle Bühnenbild

Die Welt ist eine Bühne“ – diese Sentenz Shakespeares markierte ein ganzes Weltbild. Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts bildete sich ein bittererer Denkrahmen auf den Theaterbühnen heraus, der den illusorischen „Seelenfrieden“ konformistischer Lösungen für tief beunruhigende Probleme verunmöglichen sollte: „Die Welt ist ein Krankenhaus.“ Krankenhaus und Irrenhaus verkörpern die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung der Gegenwart, deren Protagonisten rettungslos einer Vernebelung des Geistes, dem Unglück der Krankheiten, existentieller Vereinsamung ausgesetzt sind. Es gibt keinen Notausgang. Der französische Theaterkritiker Georges Banu analysiert dieses Leitmotiv bei Dramatikern und Regisseuren wie Jerzy Grotowski, Peter Weiss, Krzysztof Warlikowski, Dmitri Tschernjakow: Die Bühne als Hospital

Nicht nur das Außen, auch der Form immanente Kräfte drängen zu immer radikaleren Operationen, wie Alexander Garcia Düttmann mit stupender Sachkenntnis an der Geschichte der Oper des 20. Jahrhunderts aufzeigt. Zu den ästhetischen Axiomen der Kunstform Oper zählt, daß musikalische wie dramatische Elemente ebenbürtig sind. Die Doppelung der ästhetischen Motoren konstituiert ein bipolares Spannungsfeld, das die einzelnen Bestandteile in die Extreme treibt, bis sie an jenen Punkt rühren, an dem Vergangenheit und Zukunft zusammenfließen. Es entstehen gefährliche Konstruktionen des Neuen, die für einen permanenten Ausnahmezustand sorgen, der die eigentliche politische Botschaft dieser Kunstform ist. Ihre Grundspannung animiert das Musiktheater zu immer neuen Wagnissen, die, wenn auch mit dem Massenbewußtsein kaum kompatibel, das Genre zu immer neuen, grenzüberschreitenden Abenteuern treiben: Zumutung Oper.

Benjamin Korn huldigt jenen Zeiten, als das Literaturtheater eine Macht war und das Skript unantastbar. Das Wort eines Molière kam einem heiligen Text gleich. Unvorstellbar erschien den Gralshütern der Bühnenkunst eine Epoche, in der Texteingriffe und neue Technologien die Inszenierungen prägen würden, wie im ubiquitären Rampentheater. 

Die Frontstellung zum Zuschauerraum zerstört die Binnenwirklichkeit der Bühne und macht jede seelische Beteiligung unmöglich, sie zerstört auch die aufklärerische Kraft des Theaters. Das „Erkenne Dich selbst“ des Theaters kommt beim Zuschauer nicht durch puren Verstandesvorgang zustande, sondern durch Erschütterung, „innere Reinigung“: Katharsis. „Was diese Erschütterung auslöst? Das stellvertretende Miterleben, das es uns erlaubt, an all den wunderbaren, finsteren und zwielichtigen Existenzen des Theaters zu partizipieren, mit ihnen zu töten, zu lieben, zu leiden und zu sterben, ohne uns selbst in physische Gefahr zu begeben, durch eine Geisterfahrt ins Innere jenes Dschungels, den wir die menschliche Seele nennen, um so, vorübergehend befreit von den kleinlichen Beweggründen, die unser Leben bestimmen, auf die Straße vor dem Theater hinauszutreten, tief durchzuatmen und den Sternenhimmel über uns zu spüren.“

Das Theater-Abc des Roberto Ciulli, Leiter des einzigartigen Modells des Theaters an der Ruhr, denkt die Begriffe der Bühne aus Ursprüngen, die weit hinter Aristoteles und dessen Tragödienlehre zurückreichen. Ciulli legt die Vertikale des Theaters frei, indem er das deutsche Wort Schauspieler, ein relativ junges Wort, suspendiert, weil es Zusammenhänge verstellt. Das italienische Attore oder englische Actor führen etymologisch auf die Spur des Handelns, wie es das Deutsche mit der Bezeichnung „Akt“ für eine verklammerte Szenenfolge wiedergibt. Wird der Schauspieler als der Handelnde begriffen, setzen Theorie und Praxis der Bühne neue Sinnzusammenhänge frei; und es erschließen sich unentdeckte Möglichkeiten des szenischen Spiels und unbetretene narrative Pfade. Ein archäologisches Lexikon der Bühnenbegriffe.

Daß ein Beben mit unabsehbaren Ausläufern eingesetzt hatte, bekam auch Heiner Müller zu spüren, dessen Verse zunehmend ins Stocken gerieten, wenn er sich dem Theater mit Texten näherte. Während er seiner Schreibstörung grandiose Poeme abringt wie MOMMSENS BLOCK und Ajax zum Beispiel, in denen er den Ursachen für das Stocken der Versifikation auf den Grund zu gehen versucht, postuliert er zugleich einen subversiven Weg für das Theater: Der Weg ist nicht zu Ende, wenn das Ziel explodiert. 

In Müllers Vermächtnis analysiert Frank M. Raddatz, wie die Implosion der Geschichte als operatives Konzept neue Möglichkeiten für ein vertikales Theater der Zukunft eröffnet. Sattelnd auf einem prähistorischen Ritual, das Tote und Lebende versammelt, bündelt das Theater die geschichtlichen Streufelder, behauptet die Anwesenheit des Vergangenen jenseits linearer und chronologischer Ordnungen, und tritt mit dem Gewesenen in eine Kommunikation, die lange Verschüttetes freilegt und dadurch die Gegenwart verändert. „Vergangenheit ist Zukunft!“ lautet die Devise des Theaters der Vertikale.

Thomas Ostermeier, Leiter der Berliner Schaubühne, nimmt den Eröffnungsvers aus HamletWho’s there?“ / „Wer da?“ zum Ausgangspunkt seiner von Shakespeare durchdrungenen Reflexionen. Wer ist die Person, die mir gegenübersteht? Wer ist der oder das andere? Wer spricht uns an? Wer sind wir? Was ist der Mensch? Warum machen wir Theater? Was liegt hinter der Maske unserer physischen Erscheinung? Was liegt hinter einem Namen? Wer bin ich selbst? Wer sind wir? Spielen wir Rollen, um die Wahrheit herauszufinden? Hamlet in der Mausefalle

Die Titelrolle soll er spielen: King Lear. Er hatte sie sich gewünscht, seit Jahren, und nun verläßt ihn der Gedanke nicht, daß er versagen könnte, ihm plötzlich die Worte fehlen, er schon den ersten Satz nicht herausbringt. Er besieht sich im Spiegel, kommt sich fremd vor mit dieser faltenhängenden Larve, den schmutzigen Bartstoppeln, den trüben grauen Augen im fahlen Gesicht, diesem Gebilde aus Altersrunzeln, Müdigkeit und gefrorener Melancholie. Ist er das? Lear, ja, so könnte er aussehen am Ende, aber ... Taumel. Ein Schauspielerleben. Eine Theaternovelle von Thomas Hodina.

BILDER MACHEN
Jurriaan Benschop spricht mit dem belgischen Künstler Luc Tuymans über Malerei und Politik. Dieser ist selbstkritisch und kritisch gegenüber der Welt, des Zivilisationsbruchs des Holocausts eingedenk und auf Bilder konzentriert, welche die Macht haben, Menschen für etwas zu mobilisieren. Als er in den neunziger Jahren mit bescheidenen Gemälden in Erscheinung trat, führte er eine neue Form von Authentizität in die Malerei ein, mit dem Phänomen des Scheiterns als Thema. „Vermag Kunst in der Gegenwart etwas zu bewirken? Wenn ein Journalist enthauptet wird, wenn die apokalyptischen Reiter des Islamischen Staats ihre Bildmacht demonstrieren? Wenn Männer abgeschlagene Köpfe herumfahren und in einem Rausch ihre Trophäen zeigen? Wenn die Barbarei vor der Tür steht, ist Kunst dann, im Sinne von Zivilisation, in der Lage, etwas zu bewirken oder ihr etwas entgegenzusetzen?“ Über Aktion, Engagement, Mißtrauen, Ohnmacht und den Verrat der Bilder. Ein flämischer Maler.

Patricia Görg porträtiert einen Maler des 18. Jahrhunderts, der die Zeit zum Stillstand bringt mit Walderdbeeren, einer Handvoll Pflaumen, einem Fell des Hasens: Jean Siméon Chardin. „Die Komposition wirkt monumental-schlicht. Sie erteilt Unterricht im Sehen. Für all dies hat der Maler sehr lange gebraucht. Draußen tritt seine Epoche von einem Fuß auf den anderen, rauft sich vor Ungeduld die Perücke. (...) Menschen werden unter seinen Augen Versunkene, die unter der Wasserlinie der Zeit leben. Ihre Zielstrebigkeit zerfließt. Ihr Schwung pausiert. Sie werden ergriffen von Verlangsamung, wie der von Bewegungen unter Wasser. Chardin beobachtet einen Schankknecht oder eine Wäscherin auf dem Meeresboden ihres Tuns. (...) Chardin malt die Zeit selbst. Unauffällig nähert er sich diesem ungeheuren Sujet, indem er seine Modelle entführt in seine eigene Langsamkeit. Vom ersten bis zum letzten Pinselstrich muß er sie vor Augen haben.“ Langer Augenblick

Eduard Winklhofer war Assistent von Jannis Kounellis und erinnert an den verstorbenen Künstler. Kounellis war ein auffallend stiller, zurückhaltender Mensch. Strenge gegen sich und gegen sein Werk bestimmten sein Leben und Handeln. Während ein gieriges Diktat der Zeit stetig neue Moden als Kunst in die Welt wirft, um sie dann gnadenlos wieder zu verschlingen, widmete sich sein Schaffen der Überzeugung, Sinnvolles in der Vertiefung der Motive zu finden. Er war in der Lage, einen Untergrund tiefer Erinnerungen – eigener wie sozialer – aufzureißen und wahrhaft Modernes offenzulegen. So gelang es ihm, den Begehrlichkeiten einer Öffentlichkeit zu trotzen, die hinter vorgespiegelten Begriffen wie Aktualität und Authentizität dem Kreislauf schnellebiger Aushöhlung ausgeliefert ist. Er hat der Kunst den Freiraum bewahrt, der notwendig ist, um Großartiges zu schaffen.“

BRIEFE & KOMMENTARE
Jean-Claude Pinson widmet sich in Neunauge in weißer Butter einem Ungeheuer aus Urzeiten, dessen schreckenerregender Anblick Gourmets nicht davon abhält, ihn als Delikatesse zu verehren: Der Lamprete. Diese auch am Loire-Ufer beheimatete Kreatur existierte bereits vor den Dinosauriern, war resistent gegenüber jedweder Art von Evolution und wurde – sagenumwoben – zur königlichen Trophäe, begehrten Beute, glanzvollen Sonntagsmahlzeit bei den Großeltern des kleinen Jean-Claude, der als Chorknabe zwischen Großvater Priester und Großmutter Köchin ihrer eigentümlichen Zubereitung beiwohnte und ihr Blut in einer Schüssel auffangen durfte.

Was mag in Anselm vorgegangen sein, als er zwei Tage vor Ostern im ersten Tageslicht auf dem höchsten Punkt der Teufels- oder Todesbrücke über dem dämmrigen Abgrund stand? Ein kühler Wind kam auf, ein verschreckter Vogel schrie vielleicht. Klare Luft, Bergluft; Heideggers Denkluft, seine Denkhütte. Der Brunnen mit dem Holzstern drauf; die sich im hohen Gras verlierenden Feldwege, Waldwasen, Knüppelpfade ...“  

Michael Buselmeier über die Selbstauslöschung eines an seinem Idealismus gescheiterten Achtundsechzigers: „Anselm litt an seiner jahrelangen Einsamkeit hinter afrikanischen Campusmauern und Universitätszäunen wie an der ständigen Leisetreterei, ja Heuchelei, zu der ihn sein Amt nötigte. Er konnte zu keinem offen reden, wenigstens andeuten, was er wußte und dachte, was er befürchtete, und knirschte vor unterdrückter Wut mit den Zähnen. Er erregte sich über die schwarzen Staatsführer. Sie waren für ihn nichts als erbärmliche Betrüger, die seit Jahrzehnten die sogenannte Entwicklungshilfe für sich abzweigten und die Ölquellen für sich und ihre Clans ausbeuteten, immerzu lächelnde Gangster (...) und Tränen schossen ihm in die Augen (...) So setzte sich ohnmächtiger Zorn in ihm fest, der Haß fraß sich ein und mit ihm vielleicht auch die tückische Krankheit, die ihn nicht mehr verließ.“ 

Himmelreich, Höllensteig
Als Präsident Trump seinen Amtseid schwor, hatten negative Trends dazu beigetragen, den US-amerikanischen Einfluß auf der Weltbühne einzuschränken. Eine schrumpfende Weltökonomie, eine Erosion der technischen Vorherrschaft, die Unfähigkeit, die eigene militärische Überlegenheit zur Erlangung politischer Ziele einzusetzen, unabhängigere politische Führungsgestalten in Europa, Asien und Lateinamerika wirkten dabei mit. Bislang trugen NATO oder ASEAN, Sicherheitsabkommen, Wissenschaftspotentiale oder eine Führungsrolle in der Klimapolitik zur Bekräftigung der amerikanischen Hegemonie bei. In wenigen Monaten hat die Regierung Trump diese Pfeiler ihrer Weltherrschaft bröckeln lassen. Der Geopolitiker Alfred W. McCoy zieht verblüffende Parallelen zwischen der desaströsen Suezkrise 1956, die Großbritannien seinen verbliebenen Weltmachtstatus kostete, und der heutigen internationalen Konstellation: Demontage einer Weltmacht

KORRESPONDENZEN
Tom Engelhardt beschreibt die Macht der Militärs in der US-Regierung. Reihenweise räumten Donald Trumps Berater ihre Stellung, freiwillig oder weil sie geschaßt wurden, mit Ausnahme der Generäle. Es sind ihrer drei: der Nationale Sicherheitsberater Lieutenant General H. R. McMaster, der Verteidigungsminister und General der Marineinfanterie a. D. James Mattis sowie der General des Marinecorps a. D. John Kelly, ehemals Minister für Innere Sicherheit, heute Stabschef im Weißen Haus. Sie stehen im Washington dieser Tage nahezu allein an der Spitze der Macht. Was ihnen weder in Bagdad, noch in Kabul, Tripolis oder im erweiterten Nahen Osten gelungen ist, in der Bundeshauptstadt haben sie es geschafft. Diese Feldherren aus Amerikas aussichtslosen Kriegen haben schwindelerregende Erfolge bei der Schlacht ums Budget, beim Gerangel um die Steuergelder der Nation erzielt. Was immer die Verfassung hinsichtlich der Kontrolle des Militärs durch Zivilisten besagt, im Augenblick kontrollieren in Washington die Generäle die Zivilisten und der tiefe Staat ist zum allzu sichtbaren Staat avanciert. Der Sieg ist unser, endlich!

Carl von Siemens beobachtete die Auseinandersetzungen um den Hamburger G20-Gipfel. „Ein Simulakrum ist ein Zeichen, das auf keinen übergeordneten Sinn verweist. Existiert Gott, dann verweist das christliche Kreuz auf ihn. Existiert Gott nicht, bleibt das Zeichen ohne Inhalt; es hat als Symbol keinen Wert, sondern verweist lediglich auf sich selbst. Ein G20-Gipfel ist ein Simulakrum, insofern er dem gemeinsamen Auftritt der Darstellung von Verhandlungen an einem Tisch voller Fähnchen, dem Phototermin und der Abschlußerklärung eine Bedeutung zuweist, die ihm tatsächlich nicht zukommt. Sinn und Zweck des Gipfels sind daher weder Dialog noch Ergebnis, es ist die große symbolische Inszenierung des Status Quo für eine medial produzierte Weltöffentlichkeit (...) Das Umleiten der Aufmerksamkeit vom Gipfel zum Krawall stellt den verzweifelten Versuch dar, das Reale aus der Geiselhaft der Simulakren zu befreien; man sucht es im Stein und im Schlagstock, im Blut der Verletzten und dem aufgerissenen Boden der Schanze. (...) Im Zentrum der Krawalle steht der Körper, nach all den Trugbildern das einzige, was man kennt, das einzige, worauf man sich verlassen, das einzige, das man, anders als das Weltgeschehen, unmittelbar verbessern kann.“

Eduardo Subirats erinnert an den großen spanischen Schriftsteller Juan Goytisolo: „Das Schicksal eines jeden spanischen Intellektuellen ist das Exil gewesen. (...) In der Geschichte Spaniens hat man alles exiliert, was von einem zur absoluten Wahrheit erhobenen dogmatischen Prinzip abweicht: Ein einziger Gott, ein Gesetz, fixiert für alle Ewigkeit, ein totaler Glaube und eine totale Identität, ein unfehlbares Prinzip patriarchaler Autorität. Diese Exile schließen Reflexion, Kritik und den Willen zur Reform als pure Dissidenz aus. (...) Das Werk von Juan Goytisolo war eine kontinuierliche Konfrontation mit den intellektuellen Ausdrucksformen und dem politischen Willen der in Spanien vorherrschenden Intoleranz. Eine Konfrontation mit dem spanischen Nationalkatholizismus des 20. Jahrhunderts und seinen aufeinanderfolgenden Reklamierungen kristalliner unbefleckter Identitäten (...) Eine Opposition gegen das Gebräu aus Arroganz und Provinzialismus, welche die spanische Rechte ebenso wie die Linke bis zum heutigen Tage ausgezeichnet haben.“ Erinnerung und Exil

KUNST
Marina Roca Die
Der Körper, unser Körper, ein Phänomen so fundamental wie grundlegend. Wir leben durch ihn, in ihm, mit ihm, manchmal gegen ihn. Ein Wahrnehmungsparadox: Ich bin nicht mein Körper, doch kann nicht ohne ihn existieren. Er ist das Gefäß, das alles enthält, was mein Ich ausmacht, doch überflutet dieses Ich die eigenen Grenzen. Der Körper erscheint verzerrt, vieldeutig, veränderbar. Er beginnt formlos, nimmt Struktur an, verleibt sich Charakteristika anderer Körper und Lebewesen ein. Farben und Formen bilden Strukturen von Körpern, die sich unkontrollierbar bewegen, aufgehalten nur von den Grenzen der Leinwand. Dies sind Elemente der Bildserie The Blush, die Innen- und Außenansicht, Lust und Scham verbinden.

Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre, einen goldenen Herbst und hoffen, Sie bleiben uns gewogen!
Mit den besten Grüßen,
Lettre International

PS. Wir freuen uns auf Ihren Besuch auf der Internationalen Frankfurter Buchmesse vom 11. bis 15. Oktober 2017, Halle 4.1. Gang F 77–81.

PPS. Unsere Website www.lettre.de bietet Informationen zur Zeitschrift, unseren Kunsteditionen und eine Archiv-Suchfunktion. Abonnements können dort schnell und praktisch mit Paypal bezahlt werden. Dort finden Sie auch aktuelle Mediadaten.

Das Winterheft Lettre International Nr. 119 erscheint am 7. Dezember 2017.

Dienstag, 26. September 2017

Fridolin bei Martin

Auf unsere Newsletter-Anzeige zur Heidegger-Rezitation in der Bibliothek GLEICHGEWICHT (7.10.2017, 17 h) schrieb der Schriftsteller Peter Paul Wiplinger, von dem wir in der Zeitschrift DRIESCH oft Kurzprosa oder Poems veröffentlichten, uns einen Hinweis auf seines Bruders letzten Besuch bei Martin Heidegger, worüber dieser auch einen Text verfasst hatte.

Ich kenne den Text, denn er befindet sich im selben Band, aus dem ich Heideggers Beitrag "Zur Erörterung der Gelassenheit" transkribierte (GA 13 "Aus der Erfahrung des Denkens"). Fridolin Wiplinger war ein Philosoph, der im 41. Lebensjahr einem Herzinfarkt erlag. 2012 veranstaltete das Institut für Philosophie der Universität Wien zu seinem 80. Geburtstag das Symposium "Authentisch Philosophieren".

In Heideggers Reminiszenz findet man die Sätze:

"Ich gab ihm zu bedenken, er habe bei seinem Alter noch eine lange Zeit der Reifung und Klärung vor sich; er dürfe sich nicht überstürzen; wir wüßten noch nicht genug von dem Geheiß, unter dem das Denken steht; wir hätten noch nicht genügend bedacht, daß und inwiefern das Denken als Denken schon ein Handeln ist", ...
"Monate später kam die Nachricht von seinem plötzlichen Tod. Fridolin Wiplinger hat sich in der Leidenschaft seines Denkens verzehrt."
"Indes – langsam wandelt und mildert der Schmerz sich zum Dank an den Abgeschiedenen.
Die ins Danken  gelangen, erfahren die geheimnisvolle Kraft der Vergegenwärtigung, die der Dank in sich birgt."





Montag, 25. September 2017

120. Geburtstag von William Faulkner

William Cuthbert Faulkner (* 25. September 1897 in New Albany, Union County, Mississippi; † 6. Juli 1962 in Byhalia, Mississippi; eigentlich William Cuthbert Falkner) war ein US-amerikanischer Schriftsteller. Er erhielt 1950 – nachträglich für 1949 – den Nobelpreis für Literatur. Faulkner gilt als bedeutendster US-amerikanischer Romancier des 20. Jahrhunderts.
Wikipedia

Abbildung aus Wikipedia (Foto Carl van Vechten, 1954)








Samstag, 23. September 2017

Sprachveränderung : Abflachung als Modernisierung

Richtiges Deutsch: Heute falsch, morgen richtig

Ist ein «Bericht zur Lage der deutschen Sprache» überhaupt noch möglich oder zeitgemäss? Dass er kaum schlüssige Resultate ausweisen kann, wundert nicht – eher schon die verblüffend simple Bilanz.
Benedict Neff, NZZ  22.9.2017

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Wird die gleiche Haltung hinsichtlich gesellschaftlicher, ethischer Werte gepflegt, wird morgen das heutige Unrecht, z.B. Mord, Recht, also richtig sein. Handelt es sich dann auch um eine korrekte, anzuerkennende Entwicklung, wie wir sie in der allgemeinen Abstumfpung schon ablesen können, in welcher staatliche Kontrolle, Verfolgung und Terror "gutgeheißen" werden, in der Krieg wieder als vernünftige ultima ratio erscheint?


Mittwoch, 20. September 2017

Rilkes Briefe faksimiliert online lesen

Jetzt kann jeder Rilkes Briefe lesen

Das Schweizerische Literaturarchiv hat alle Handschriften des Dichters Rainer Maria Rilke digitalisiert. Der Wissenschaft eröffnen sich neue Wege.

Tages Anzeiger Zürich, 19.9.2017

 

Der Wert eines Buches



Man möchte annehmen, ein wertvolles Buch sei zuerst eines, das wegen seines Inhalts wertgeschätzt, gepriesen und, vor allem, gelesen wird. Je geliebter, desto häufiger gelesen. Die andere Seite ist die materielle Wertschätzung: seltene Ausgabe, besonders aufwändig produziert, mit Widmung des Autors versehen oder mit sonstigen wertsteigernden Eigenheiten. Es soll in gutem Zustand sein. Es sollte keine Gebrauchsspuren zeigen. Der materielle Wert steht im Widerspruch zum immateriellen. Denn ein Buch, das keine Lesespuren zeigt, ist nicht gelesen worden. Weshalb nicht? Es hat offensichtlich nicht als Lesestoff gedient, sondern als Wertanlage, Spekulationsstück oder Prestigeobjekt. Es ist als Schrift entwertet worden zugunsten des materialen Marktwertes, eine zweite Verdinglichung, nach der Sammler als Besitzer gieren.

Diese Perversion zeigte sich mir überdeutlich in einem Video eines bekannten englischen Buchhändlers über eine seltene Erstausgabe von James Joyce’s ULYSSES, die nicht gelesen worden war, die man auch nicht lesen darf, weil das schlecht gebundene Buch dann bräche und den hohen Preis minderte. Was für eine Wertschätzung! Das Video dokumentiert die ritualisierte Preisung des Dings.

[Der materielle Aspekt, der so extrem hervorgehoben wird, ist auch im gemeinen Verhalten von James Joyce gegenüber Sylvia Beach enthalten. Er, dem geholfen worden war, vergaß alles und ließ seine Erstverlegerin abstürzen, wandte sich einem anderen Verlag zu. Geschäft ist Geschäft, Moral gibt es nicht (wie später der Kommunist Brecht so treffend festhielt: erst kommt das Fressen, dann die Moral…) In Wikipedia kann man darüber kurz lesen:

“Shakespeare and Company gained considerable fame after it published James Joyce's Ulysses in 1922, as a result of Joyce's inability to get an edition out in English-speaking countries.  Beach would later be financially stranded when Joyce signed on with another publisher, leaving Beach in debt after bankrolling, and suffering severe losses from, the publication of Ulysses.”

Joyce war ein skrupelloser Egoist, der, wenn es ihm besser ging, Hilfe und Unterstützung vergaß. Vielleicht ist das der eigentliche Maßstab für seinen Ruhm?]

Diese Haltungen gemahnen mich an die völlig perverse Besitzlust gewisser Persönlichkeitsgeschädigter, die millionenteure Kunstwerke in Depots wegsperren, weil der materielle Besitz so wertvoll, so teuer ist, dass der Artefakt nicht mehr „geteilt“ (kommuniziert) werden darf, weil die Risiken zu hoch sind für den Besitz und den Besitzer.

Nachbemerkung:

Soeben lese ich in der PRESSE:

Harry-Potter-Erstausgabe erzielt bei Auktion knapp 68 000 Euro

Bei einer Versteigerung in den USA wurde ein neuer Weltrekord für den Preis eines unsignierten, fiktionalen Werks erzielt.
DIE PRESSE ; 19.9.2017