Sonntag, 10. September 2017

Zeitgemäße Lektüre



Was soll man (noch) lesen? Wie steht es mit den Klassikern oder einfach „alter Literatur“? Lohnt es sich, überhaupt Altes zu lesen, Zeit dafür aufzuwenden? Was hat einem Deutschsprachigen heute ein Goethe zu sagen oder Wieland, Schiller oder Heine, Hofmannsthal oder Hesse, Grass oder Karl May, Borchardt oder Heyse, Keller oder Spitteler, Wassermann, Raabe oder Walser, der
Deutsche oder der  Schweizer, gleichwie, Frisch oder Dürrenmatt, wie bei den Weimarern fast immer im Duo genannt, aber auch Matt oder Ingold oder Krüger oder Kafka oder Tucholsky zu sagen?.

Hat irgendwer von ihnen unsereinem noch etwas zu sagen? Soll man sich mit ihrer altertümlichen Sprache abmühen? Müsste man nicht, wie es die smarten Regisseure und Neudeuter unternehmen, die Stoffe sprachlich umarbeiten, dem heutigen Stil oder Jargon anpassen, damit wenigstens irgendetwas rüberkommt von ihren Geschichten?

Bei den Wissenschaftlern oder Philosophen ist es noch brisanter, noch ärger. Wer verträgt das Gesülze eines Adornos gleichermaßen wie jenes des von ihm ob seines Eigentlichkeitsjargons gescholtenen Heidegger? Wer verträgt die Schwulst des einsamen Nietzsche, das Altkluge eines Freud oder das bemühte Gelehrtendeutsch eines Habermas, nicht zu sprechen vom Gestammel eines Luhmann und Konsorten?

Sollen die misanthropen Schimpfkanonaden des „Übertreibungskünstlers“  Bernhard uns genügen?, Mitfreude an seinen Verleumdungen und Hetztiraden, weil man’s zwischenzeitlich so gewohnt ist von den braunen Horden? Soll die Bachmann zum Maßstab und zur Orientierungsmarke werden? Wirklich nichts Gehaltvolleres da?

Sind aber die Heutigen besser in Sprache und Stil, in Denkschärfe und Formulierung? Soll das Geschreibe eines Kehlmann, Geiger, einer Goby oder Janesch genügen, sollen wir einen Schmalz ernst nehmen? Darf man immer noch einer Eva Menasse vertrauen und einem Jan Wagner, der Lange-Müller oder dem  berühmten Hein oder dem Trojanow oder dem Alemannen Köhlmeier, dem Altmeister Ransmayr oder dem Grieser, der Rinderer oder der Zeh? Ach, so viele, überviele gute, ganz gute, außerordentlich gute Autorinnen und Autoren tragen am flinken Markt effektvoll zur rasanten Alterung durch Neuerung und neueste Neuerung bei. Weshalb also nach hinten oder unten blicken? Zurückblicken, als ob man rücksichtsvoll sei? Reicht es nicht schon, rechts und links zu schauen und nach vorne? Sollten wir nicht endlich die neuesten Literaturen, die allerneuesten Philosophien auf unsere smart phones und tabletts laden, jene, die noch nicht geschrieben sind, aber als formierte Zeichenensembles schon im Kosmos schweben, nur darauf warten, von den Managern des zeitgenössischen Denkens und Literarisierens aufgefangen und umgewandelt zu werden, damit die Stoffe systemgerecht uns häppchenweise, wie wir‘s in den Abrichtungen lernen durften, verabreicht werden?

Goethe light, ähnlich den neuesten Lightversionen eines Shakespeare, den auch niemand mehr im Original liest! Oder, zum aktuellen Beispiel, Horvaths „Jugend ohne Gott“ adaptiert, damit die jugendlichen Kinogeher abgeholt werden, wo sie dahinvegetieren, damit sie in ihrem Wertsystems Horvath mitkriegen, wie es sich der Gsponer vorstellt: Horvaths Sprache taugt nichts, der Stoff ist altertümlich. Er putzt ihn auf. Warum sucht er ihn überhaupt aus? Weil er vom Namen profitieren will, weil er nichts Eigenes zu kreieren vermag. Weil er fleddert. Weil sein Unvermögen als zeitgenössische Interpretation hingenommen und angenommen wird. Weil er damit Erfolg hat.

Das Pochen auf Neudeutsch oder Neusprech, Aktualität und Modernität hilft der purifizierenden Strukturierung, einer Lenkung und Zensur von Altem und Lästigem. Bald werden die Jungen keine Alten mehr lesen können, weil ihnen die Sprache jenseits ihres Jargons zu komplex, zu fremd geworden sein wird. Schopenhauer? Igitt! Heidegger? Ja nicht! Sartre? Aus und vorbei. Kein Peirce, kein Mill, kein Weber oder Bordieu, kein Whitman oder Thoreau, kein Racine oder Gide. Schauen Sie mal in die Liste der bisherigen Nobelpreisträger fürLiteratur. Wer von den Gepriesenen wird heute noch gelesen, ist noch bekannt? Ganz, ganz wenige. Also, was soll das Theater?

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