Lettre International Nr. 118 / Neue Ausgabe
Sehr geehrte Damen und
Herren, liebe Leserinnen und Leser, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir
freuen uns, Ihnen das Herbstheft von Lettre International, Nr. 118,
vorstellen zu können, das ab heute im Buchhandel, am Kiosk oder ab Verlag für
Sie bereitliegt. Gestaltet haben es die spanische Künstlerin Marina Roca Die mit ihren in organischer
Lust explodierenden Lebewesen und der französische Photograph Guillaume Zuili, der Objekte in abstrakter
Schönheit poetisch erstrahlen läßt: „Photogramme“.
HAMLET, MÜLLER & CO. – BRENNPUNKT THEATER
Zur Spielzeiteröffnung 2017/2018 richten sich alle Scheinwerfer auf die Bühnenwelt: Essays, Gespräche, Erinnerungen, Polemiken, ein ABC der Bühnenbegriffe, Porträts und Liebeserklärungen. Wir lösen das Rätsel um Hamlet in der Mausefalle und erkennen: Jeder handelt als Schauspieler; wir setzen uns der Zumutung Oper aus, enträtseln Heiner Müllers Vermächtnis und entziffern das Serielle Bühnenbild. Wir verfluchen das Rampentheater, tasten uns durch die Bühne als Hospital, buchstabieren ein kleines ABC des Theaters und blicken zurück auf ein Schauspielerleben.
100
JAHRE RUSSISCHE REVOLUTION
Das 100jährige „Jubiläum“ der Oktoberrevolution 1917 nehmen wir zum Anlaß, auf Glanz und Elend dieses Ereignisses zurückzublicken: Wir analysieren mit Alexander Solschenizyn das Rote Rad der Revolution, erkunden die Überlagerung der Zeiten und das Leben der Dinge; mit der russischen Avantgarde katapultieren wir uns ins All und werden kosmisch; und wir Warten auf Blücher, einen mysteriösen Marschall der Sowjetunion.
Das 100jährige „Jubiläum“ der Oktoberrevolution 1917 nehmen wir zum Anlaß, auf Glanz und Elend dieses Ereignisses zurückzublicken: Wir analysieren mit Alexander Solschenizyn das Rote Rad der Revolution, erkunden die Überlagerung der Zeiten und das Leben der Dinge; mit der russischen Avantgarde katapultieren wir uns ins All und werden kosmisch; und wir Warten auf Blücher, einen mysteriösen Marschall der Sowjetunion.
Wir
denken nach über die Beziehungen der Generationen, über Afrika als Grenze und
als Objekt der Begierde und über Europas viele Heimaten. Wir erlernen das Genaue Hinschauen; wir schwimmen und träumen in Zeichenmeeren; Zarentochter Anastasia taucht auf aus den Tiefen
der Zeit. Wir konfrontieren uns mit dem Atheismus der Philosophie und dem A-Atheismus. Bastian Schneider, ein Virtuose des literarischen Plagiats,
ergreift als Intertextueller das Wort am letzten Rand
der Klippe:
Wir
besuchen Künstlerateliers und machen uns vertraut mit den Werken von Luc Tuymans, Jean
Siméon Chardin und Jannis Kounellis.
Ein
Neunauge
in weißer Butter zergeht uns auf der Zunge;
wir hören in Himmelreich und Höllensteig
vom
tragischen Verlöschen eines talentierten Achtundsechzigers und mit der
Suezkrise von 1956 erklären wir die Demontage einer Weltmacht
Wir
beschäftigen uns mit dem Sieg der Militärs im Weißen Haus, betrachten mit Baudrillard und Buddenbrooks
die
Ereignisse um den Hamburger G20-Gipfel und erinnern an Juan Goytisolo.
Kraftvolle
Malerei und subtile Zeichnungen, künstlerische und historische Photographie wie
auch ingeniöse Bühnenbilder machen das Heft zu einem ästhetischen Vergnügen.
SCHWERE Vermächtnisse
Die Berliner Afrika-Konferenz 1884-1885 war Auftakt zur Kolonisierung noch unaufgeteilter Regionen des Schwarzen Kontinents. Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Portugal reklamierten Land. Kolonisierung wurde als Zivilisierung legitimiert und der Bau von Infrastrukturen sollte Zeugnis der guten Absichten ablegen. 1896 begannen die Briten mit dem Bau der über tausend Kilometer langen Uganda Railway vom Indischen Ozean zum Victoriasee. Schwellen und Gleise der Eisenbahn bissen sich ins Buschland und mit dem Vortrieb der eisernen Rippen ins Landesinnere eignete man sich das Land um die Trassen herum an. Die Massai mußten ihre Enteignung zumeist ohnmächtig erleiden. Auf den Spuren der Vergangenheit folgt Priya Basil in einem kunstvollen Essay der Geschichte des Eisenbahnbaus, der Landnahme und der Besiedelung Britisch-Ostafrikas. Die Schienen selbst erinnern sich dabei an die Ereignisse. Heutzutage befördern chinesische Unternehmen den Bau von Häfen, Highways, Flughäfen, Bahntrassen in Afrika, und die Afrikaner stimmen zu, denn sie wollen auf eigenen Füßen stehen, sie wollen eine andere Zukunft für ihren Kontinent: Stahl, der die Erde beißt.
Die Berliner Afrika-Konferenz 1884-1885 war Auftakt zur Kolonisierung noch unaufgeteilter Regionen des Schwarzen Kontinents. Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Portugal reklamierten Land. Kolonisierung wurde als Zivilisierung legitimiert und der Bau von Infrastrukturen sollte Zeugnis der guten Absichten ablegen. 1896 begannen die Briten mit dem Bau der über tausend Kilometer langen Uganda Railway vom Indischen Ozean zum Victoriasee. Schwellen und Gleise der Eisenbahn bissen sich ins Buschland und mit dem Vortrieb der eisernen Rippen ins Landesinnere eignete man sich das Land um die Trassen herum an. Die Massai mußten ihre Enteignung zumeist ohnmächtig erleiden. Auf den Spuren der Vergangenheit folgt Priya Basil in einem kunstvollen Essay der Geschichte des Eisenbahnbaus, der Landnahme und der Besiedelung Britisch-Ostafrikas. Die Schienen selbst erinnern sich dabei an die Ereignisse. Heutzutage befördern chinesische Unternehmen den Bau von Häfen, Highways, Flughäfen, Bahntrassen in Afrika, und die Afrikaner stimmen zu, denn sie wollen auf eigenen Füßen stehen, sie wollen eine andere Zukunft für ihren Kontinent: Stahl, der die Erde beißt.
Geboren
werden heißt, einer Abstammungslinie anzugehören, einer Familie, einem
Verwandtschaftssystem, einem System von Regeln und Verboten, welche in der
Abfolge von Generation zu Generation weitergegeben werden, so wie symbolische
oder materielle Güter, Traditionen, Wissen, Werte, Glaubensüberzeugungen. Die
aufeinanderfolgenden Generationen sind sich wechselseitig verpflichtet und so
tauschen sie Gaben und Anerkennungen aus. Heute jedoch hat die Verwandtschaft
ihre soziale Funktion weitgehend verloren; der ökonomische Markt wird zur
zentralen Instanz bei der Markierung von Altersgruppen. Der französische
Philosoph Marcel
Hénaff beschreibt traditionelle und zeitgenössische
Generationenbeziehungen, neue Formen der Gemeinschaft und der Solidarität: Die Schuld der Zeit
Europa
kann niemals auf gleiche Weise Heimat für seine Bürger werden, wie es
Nationalstaaten wie Schweden, Dänemark oder Italien sind, die sich als
imaginierte Gemeinschaften aus ethnischen, kulturellen und sprachlichen Wurzeln
herausgebildet haben. Eine Europäische Union, welche sich nach dem Vorbild des
auf dem Staatsvolk basierenden Nationalstaats konstruieren würde, könnte nur zu
einem abstoßenden Europäischen Superstaat mit einem eingebauten Konflikt
zwischen nationalstaatlich organisierter Demokratie und Europäischer
Entscheidungsfindung werden. Europa sollte nicht anstreben, Gemeinschaft zu
werden, sondern eine Gesellschaft, die ihre soziale und kulturelle Diversität
im Rahmen einer politischen Föderation entfalten sollte. Der schwedische
Essayist Göran
Rosenberg plädiert für Europas viele Heimaten.
ZEICHENMEERE
Mit dreißig Jahren verliebt sich Nicholas Shakespeare ins Angeln, in eine Tätigkeit, deren Ziel simpel ist: sich zu entwirren und dem Geist zu ermöglichen, fortgetragen zu werden, sich zu reinigen, um neue Verbindungen einzugehen. Über Schnüre, Lachsforellen und Fasanenschwanzfedern, über Trophäen, Puristen und Verzicht, über die Kunst des Sehens, das Staunen, Entdecken und Finden und über die Ähnlichkeiten zwischen Anglern und Autoren. „Der Angler wählt eine Fliege aus und seine Methode, die Angel auszuwerfen – die Art, wie die Wurfschnur zurückschnellt oder auch nicht – hat etwas mit einer Zeile Prosa gemein (...) Auf der Suche nach dem einen Fisch findet man einen anderen – und vielleicht findet man am Ende alles.“ Gut hinschauen!
Mit dreißig Jahren verliebt sich Nicholas Shakespeare ins Angeln, in eine Tätigkeit, deren Ziel simpel ist: sich zu entwirren und dem Geist zu ermöglichen, fortgetragen zu werden, sich zu reinigen, um neue Verbindungen einzugehen. Über Schnüre, Lachsforellen und Fasanenschwanzfedern, über Trophäen, Puristen und Verzicht, über die Kunst des Sehens, das Staunen, Entdecken und Finden und über die Ähnlichkeiten zwischen Anglern und Autoren. „Der Angler wählt eine Fliege aus und seine Methode, die Angel auszuwerfen – die Art, wie die Wurfschnur zurückschnellt oder auch nicht – hat etwas mit einer Zeile Prosa gemein (...) Auf der Suche nach dem einen Fisch findet man einen anderen – und vielleicht findet man am Ende alles.“ Gut hinschauen!
Gwenaëlle
Aubry genügt der Himmel nicht. Ihre elementare und
biographische Geographie teilt sich in Orte, an denen man tauchen kann und die
anderen. Ein Wasserloch zieht sie jeder Wüste vor, signalisiert es doch
Aufbruch. Die Welt der Wasser, die Kunst der Zwischenräume, Seen, Sturzbäche,
Flüsse und Ströme, tote oder lebende Gewässer: sie alle stehen miteinander in
Verbindung, dort braucht der Mensch nicht weiter zu gehen. Sein schwerer,
abgenutzter Teil wird zurückgelassen, die Masken auch, Gleichgewicht ist nicht
vonnöten: Schwimmen.
Enrique
Vila-Matas’ Held Bastian Schneider ist als Assistent eines
Autors Lieferant literarischer Zitate. Er plündert Kafka und Gombrowicz,
Dickens und den Talmud. Er verrät, wie Dichter bewußt und unbewußt auf andere
Bücher und Konzepte zurückgreifen, diese aufnehmen, umformen, travestieren,
ironisieren und mit ihnen spielen. Sein Lieblingsbuch war dereinst Hugo von
Hofmannsthals Buch der Freunde, komponiert aus aphoristischen
Freundesstimmen, doch Originalität konnte er dort nirgendwo entdecken. Also
entschloß er sich, radikal unoriginell zu sein. Er macht sich alles zunutze,
nimmt, was dienlich ist. Ist in der Kunst alles Kreislauf und Umschreibung seit
Anbeginn der Zeiten?
Bora
Ćosić folgt in Ich, Anastasia den Spuren der legendären Zarentochter und stellt beunruhigende
Übereinstimmungen fest. „Manchmal frage ich mich,
ob es das mysteriöse Fräulein Anastasia in der kurzen Geschichte ihres Lebens
direkt vor dem Massaker überhaupt gegeben hat, wie auch alles um sie herum und
die ganze Geschichte, die passierte, bevor ich geboren wurde? Welche Art von
Gewißheit gibt es in mir, an das zu glauben, was war; all die Photos, Filme und
bedruckten Papiere sind nutzlos, ich muß auch nicht daran glauben, was gestern
passiert ist (...) Ich bin möglicherweise nur eine Variante jener fragilen
Prinzessin, die sie angeblich getötet haben, wenn auch nicht ganz, und die,
ebenfalls angeblich, hier wie dort gesehen wurde. (...) So wie alle Menschen
auf dieser Erde weilen und glauben, sie seien echte und normale Menschen, während
sie nur symbolische Erscheinungen sind und reine Allegorien.“
Der
Philosoph Jean-Luc
Nancy hinterfragt Gottesglauben und Atheismus in
der heutigen Welt. „Der Atheismus ist in dem Maße, in dem unsere –
westliche/globale – Kultur sowohl in ihrer Struktur als auch in ihrem Verhalten
durchgehend ohne wirklichen, aktiven, organisierenden und kollektiven Bezug zu
einer Vorstellung des Göttlichen auskommt, die einzige Denkhaltung. In dieser
modernen Haltung kommt aber nur ein Keim zur Reife, der seinem Wesen nach
bereits in den Anfängen der abendländischen Wende der Welt angelegt war. Die
bestimmendste Eigenschaft dieser Wende war nämlich das Entschwinden der
Götter“. A-Atheismus
russische Revolution 1917
Nach der Oktoberrevolution überboten sich russische Denker, Schriftsteller und Künstler mit Ideen für einen radikalen Neubeginn. Visionen von kollektiver und individueller Befreiung, Utopien vom neuen Menschen brachten die Luft zum Brennen. Die Geschichte sollte einen neuen Anfang finden. Die „Biokosmisten“ oder „Immortalisten“ waren eine dieser Gruppen – mit Wurzeln im Anarchismus und Nietzscheanismus. „Wir fordern, daß das Recht auf Existenz (Unsterblichkeit, Auferstehung, Verjüngung) und die Freiheit, den Raum des Kosmos zu besiedeln, essentielles und reales Menschenrecht ist.“ Unsterblichkeit wurde zum höchsten Ziel der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft; wahre Solidarität könne nur unter Unsterblichen herrschen, die kommunistische Gesellschaft müsse „interplanetar“ organisiert sein und das gesamte Universum regulieren. Boris Groys vergegenwärtigt tollkühne Visionen der russischen Avantgarde von der Besiedelung des Universums, von der Wiederauferstehung aller Verstorbenen, technologisch herstellbarer Unsterblichkeit, und einer kommunistischen Organisation des gesamten Universums. Kosmisch werden.
Nach der Oktoberrevolution überboten sich russische Denker, Schriftsteller und Künstler mit Ideen für einen radikalen Neubeginn. Visionen von kollektiver und individueller Befreiung, Utopien vom neuen Menschen brachten die Luft zum Brennen. Die Geschichte sollte einen neuen Anfang finden. Die „Biokosmisten“ oder „Immortalisten“ waren eine dieser Gruppen – mit Wurzeln im Anarchismus und Nietzscheanismus. „Wir fordern, daß das Recht auf Existenz (Unsterblichkeit, Auferstehung, Verjüngung) und die Freiheit, den Raum des Kosmos zu besiedeln, essentielles und reales Menschenrecht ist.“ Unsterblichkeit wurde zum höchsten Ziel der kommunistischen Gesellschaft der Zukunft; wahre Solidarität könne nur unter Unsterblichen herrschen, die kommunistische Gesellschaft müsse „interplanetar“ organisiert sein und das gesamte Universum regulieren. Boris Groys vergegenwärtigt tollkühne Visionen der russischen Avantgarde von der Besiedelung des Universums, von der Wiederauferstehung aller Verstorbenen, technologisch herstellbarer Unsterblichkeit, und einer kommunistischen Organisation des gesamten Universums. Kosmisch werden.
Georges
Nivat schildert das Entstehen von Alexander
Solschenizyns 6.000 Seiten umfassenden Roman Das rote Rad. „Knoten für Knoten“ wollte der Autor die Geschichte der Russischen
Revolution bis zum Oktober 1917 erzählen, doch brach er ab mit der Erzählung
der Aprilereignisse 1917. Mit dem Scheitern der bürgerlichen Februarrevolution
des Jahres waren alle Würfel zur bolschewistischen Machtergreifung bereits
gefallen. Andersdenkende wurden ausgeschaltet, man schürte sozialen Haß. Der
Freund Solschenizyns erzählt von der titanenhaften Arbeit an diesem (ins
Deutsche nur teilweise übersetzten) Mammutwerk und von der Selbstverwandlung
seines Autors dabei.
Als
Hitlers Panzer am 22. Juni 1941 über die Grenze der Sowjetunion vordrangen und
die auf 2.000 Kilometern von der Ostsee zum Schwarzen Meer positionierten
Truppen im Eiltempo nach Osten vorstießen, war das sowjetische Oberkommando in
die Enge getrieben. Am 111. Tag der Wehrmachtsoffensive tobte die Schlacht um
Moskau. Quellen in Schanghai, Rom und Ankara verkündeten, Stalin werde nun sein
Trumpf-As ausspielen und Marschall Blücher an die Spitze der Roten Armee
berufen: Warten
auf Blücher.
Wer war dieser legendäre, mysteriöse Blücher? Er hatte in China
und Japan, in Sibirien und der äußeren Mongolei gekämpft und Siege für die
Sowjetunion errungen und war zum Mythos geworden. Doch wartete man vergebens.
Der Held der Sowjetunion war seit drei Jahren tot. Der Chef der sowjetischen
Geheimdienste Lawrenti Beria hatte ihn als japanischen Spion verhaften lassen
und zu Tode gefoltert. Eine Geheimgeschichte der Russischen Revolution von Philippe Videlier. Karl
Schlögel, Intimus der russischen Revolutionsgeschichte,
widmet sich erneut der Oktoberrevolution. Welches Narrativ könnte diese „Zeit
der Wirren“ so darstellen, daß es Siegern und Opfern, Roten und Weißen, der
inneren Macht und der Diaspora gleichermaßen gerecht würde? Wie verflechten
sich Ereignisgeschichte und Strukturgeschichte? Nach der Machtergreifung muß
sich die Revolution in vorrevolutionären Umgebungen zurechtfinden,
Hinterlassenschaften der alten Ordnung: „Der Kampf zwischen alt und neu wird
überall ausgetragen: in den Interieurs, der Mode, der Körpersprache, im Design,
im Tanz, in der Welt der Düfte, der Welt der Töne. Es gilt, die Register historischer
Wahrnehmung zu erweitern; neben der Dokumentensammlung brauchen wir ein Archiv
der Akustik, ein Archiv der Gerüche, ein Archiv der Dinge ...“
Wissenschaftliche Rezepte für eine „Archäologie der Sowjetzivilisation“.
BRENNPUNKT
THEATER
Über einer zerklüfteten, babylonischen Theaterlandschaft thront Katrin Brack. Die Bühnenbildnerin, 2017 für ihr Lebenswerk ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen in Venedig, spricht über das Singuläre ihres Verfahrens. Sie erklärt, warum sie zumeist nur mit einem Element – Regen, Nebel, Konfetti, Schnee – arbeitet, wie die von ihr erzeugten Atmosphären serielle Sequenzen aktivieren. Eingesetzte Mittel werden extrem reduziert verwendet, kommen aber massenhaft zum Zuge. Dadurch entstehen Räume ohne festgelegte Bedeutung, die zu sprechen beginnen, wenn Schauspieler sie betreten und szenisch Themen verhandeln. Die Semantik, die der Rezipient erzeugt, gilt für ihn allein: Das serielle Bühnenbild
Über einer zerklüfteten, babylonischen Theaterlandschaft thront Katrin Brack. Die Bühnenbildnerin, 2017 für ihr Lebenswerk ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen in Venedig, spricht über das Singuläre ihres Verfahrens. Sie erklärt, warum sie zumeist nur mit einem Element – Regen, Nebel, Konfetti, Schnee – arbeitet, wie die von ihr erzeugten Atmosphären serielle Sequenzen aktivieren. Eingesetzte Mittel werden extrem reduziert verwendet, kommen aber massenhaft zum Zuge. Dadurch entstehen Räume ohne festgelegte Bedeutung, die zu sprechen beginnen, wenn Schauspieler sie betreten und szenisch Themen verhandeln. Die Semantik, die der Rezipient erzeugt, gilt für ihn allein: Das serielle Bühnenbild
„Die Welt ist eine Bühne“ – diese Sentenz
Shakespeares markierte ein ganzes Weltbild. Nach den Katastrophen des 20.
Jahrhunderts bildete sich ein bittererer Denkrahmen auf den Theaterbühnen
heraus, der den illusorischen „Seelenfrieden“ konformistischer Lösungen für
tief beunruhigende Probleme verunmöglichen sollte: „Die Welt ist ein Krankenhaus.“
Krankenhaus und Irrenhaus verkörpern die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung
der Gegenwart, deren Protagonisten rettungslos einer Vernebelung des Geistes,
dem Unglück der Krankheiten, existentieller Vereinsamung ausgesetzt sind. Es
gibt keinen Notausgang. Der französische Theaterkritiker Georges Banu analysiert dieses Leitmotiv bei Dramatikern und Regisseuren wie
Jerzy Grotowski, Peter Weiss, Krzysztof Warlikowski, Dmitri Tschernjakow: Die Bühne als Hospital
Nicht
nur das Außen, auch der Form immanente Kräfte drängen zu immer radikaleren
Operationen, wie Alexander Garcia Düttmann mit stupender Sachkenntnis
an der Geschichte der Oper des 20. Jahrhunderts aufzeigt. Zu den ästhetischen
Axiomen der Kunstform Oper zählt, daß musikalische wie dramatische Elemente
ebenbürtig sind. Die Doppelung der ästhetischen Motoren konstituiert ein
bipolares Spannungsfeld, das die einzelnen Bestandteile in die Extreme treibt,
bis sie an jenen Punkt rühren, an dem Vergangenheit und Zukunft
zusammenfließen. Es entstehen gefährliche Konstruktionen des Neuen, die
für einen permanenten Ausnahmezustand sorgen, der die eigentliche politische
Botschaft dieser Kunstform ist. Ihre Grundspannung animiert das Musiktheater zu
immer neuen Wagnissen, die, wenn auch mit dem Massenbewußtsein kaum kompatibel,
das Genre zu immer neuen, grenzüberschreitenden Abenteuern treiben: Zumutung Oper.
Benjamin
Korn huldigt jenen Zeiten, als das Literaturtheater eine Macht war und
das Skript unantastbar. Das Wort eines Molière kam einem heiligen Text gleich.
Unvorstellbar erschien den Gralshütern der Bühnenkunst eine Epoche, in der
Texteingriffe und neue Technologien die Inszenierungen prägen würden, wie im
ubiquitären Rampentheater.
„Die Frontstellung zum Zuschauerraum zerstört die
Binnenwirklichkeit der Bühne und macht jede seelische Beteiligung unmöglich,
sie zerstört auch die aufklärerische Kraft des Theaters. Das „Erkenne Dich
selbst“ des Theaters kommt beim Zuschauer nicht durch
puren Verstandesvorgang zustande, sondern durch Erschütterung, „innere
Reinigung“: Katharsis. „Was diese Erschütterung auslöst? Das stellvertretende
Miterleben, das es uns erlaubt, an all den wunderbaren, finsteren und
zwielichtigen Existenzen des Theaters zu partizipieren, mit ihnen zu töten, zu
lieben, zu leiden und zu sterben, ohne uns selbst in physische Gefahr zu
begeben, durch eine Geisterfahrt ins Innere jenes Dschungels, den wir die
menschliche Seele nennen, um so, vorübergehend befreit von den kleinlichen
Beweggründen, die unser Leben bestimmen, auf die Straße vor dem Theater
hinauszutreten, tief durchzuatmen und den Sternenhimmel über uns zu spüren.“
Das
Theater-Abc des Roberto Ciulli, Leiter des einzigartigen
Modells des Theaters an der Ruhr, denkt die Begriffe der
Bühne aus Ursprüngen, die weit hinter Aristoteles und dessen Tragödienlehre
zurückreichen. Ciulli legt die Vertikale des Theaters frei, indem er das
deutsche Wort Schauspieler, ein relativ junges Wort, suspendiert, weil
es Zusammenhänge verstellt. Das italienische Attore oder englische Actor führen etymologisch auf
die Spur des Handelns, wie es das Deutsche mit der Bezeichnung „Akt“ für eine
verklammerte Szenenfolge wiedergibt. Wird der Schauspieler als der Handelnde
begriffen, setzen Theorie und Praxis der Bühne neue Sinnzusammenhänge frei; und
es erschließen sich unentdeckte Möglichkeiten des szenischen Spiels und
unbetretene narrative Pfade. Ein archäologisches Lexikon der Bühnenbegriffe.
Daß
ein Beben mit unabsehbaren Ausläufern eingesetzt hatte, bekam auch Heiner
Müller zu spüren, dessen Verse zunehmend ins Stocken gerieten, wenn er sich dem
Theater mit Texten näherte. Während er seiner Schreibstörung grandiose Poeme
abringt wie MOMMSENS BLOCK und Ajax zum Beispiel,
in denen er den Ursachen für das Stocken der Versifikation auf den Grund zu
gehen versucht, postuliert er zugleich einen subversiven Weg für das Theater:
Der Weg ist nicht zu Ende, wenn das Ziel explodiert.
In Müllers Vermächtnis analysiert Frank M. Raddatz, wie die Implosion der
Geschichte als operatives Konzept neue Möglichkeiten für ein vertikales Theater
der Zukunft eröffnet. Sattelnd auf einem prähistorischen Ritual, das Tote und
Lebende versammelt, bündelt das Theater die geschichtlichen Streufelder,
behauptet die Anwesenheit des Vergangenen jenseits linearer und chronologischer
Ordnungen, und tritt mit dem Gewesenen in eine Kommunikation, die lange
Verschüttetes freilegt und dadurch die Gegenwart verändert. „Vergangenheit ist
Zukunft!“ lautet die Devise des Theaters der Vertikale.
Thomas
Ostermeier, Leiter der Berliner Schaubühne, nimmt den Eröffnungsvers aus Hamlet „Who’s there?“ / „Wer da?“ zum Ausgangspunkt seiner von Shakespeare
durchdrungenen Reflexionen. Wer ist die Person, die mir gegenübersteht? Wer ist
der oder das andere? Wer spricht uns an? Wer sind wir? Was ist der Mensch?
Warum machen wir Theater? Was liegt hinter der Maske unserer physischen
Erscheinung? Was liegt hinter einem Namen? Wer bin ich
selbst? Wer sind wir? Spielen wir Rollen, um die Wahrheit herauszufinden? Hamlet in der Mausefalle
Die
Titelrolle soll er spielen: King Lear. Er hatte sie sich gewünscht, seit
Jahren, und nun verläßt ihn der Gedanke nicht, daß er versagen könnte, ihm
plötzlich die Worte fehlen, er schon den ersten Satz nicht herausbringt. Er
besieht sich im Spiegel, kommt sich fremd vor mit dieser faltenhängenden Larve,
den schmutzigen Bartstoppeln, den trüben grauen Augen im fahlen Gesicht, diesem
Gebilde aus Altersrunzeln, Müdigkeit und gefrorener Melancholie. Ist er das?
Lear, ja, so könnte er aussehen am Ende, aber ... Taumel. Ein Schauspielerleben. Eine Theaternovelle von Thomas Hodina.
BILDER
MACHEN
Jurriaan Benschop spricht mit dem belgischen Künstler Luc Tuymans über Malerei und Politik. Dieser ist selbstkritisch und kritisch gegenüber der Welt, des Zivilisationsbruchs des Holocausts eingedenk und auf Bilder konzentriert, welche die Macht haben, Menschen für etwas zu mobilisieren. Als er in den neunziger Jahren mit bescheidenen Gemälden in Erscheinung trat, führte er eine neue Form von Authentizität in die Malerei ein, mit dem Phänomen des Scheiterns als Thema. „Vermag Kunst in der Gegenwart etwas zu bewirken? Wenn ein Journalist enthauptet wird, wenn die apokalyptischen Reiter des Islamischen Staats ihre Bildmacht demonstrieren? Wenn Männer abgeschlagene Köpfe herumfahren und in einem Rausch ihre Trophäen zeigen? Wenn die Barbarei vor der Tür steht, ist Kunst dann, im Sinne von Zivilisation, in der Lage, etwas zu bewirken oder ihr etwas entgegenzusetzen?“ Über Aktion, Engagement, Mißtrauen, Ohnmacht und den Verrat der Bilder. Ein flämischer Maler.
Jurriaan Benschop spricht mit dem belgischen Künstler Luc Tuymans über Malerei und Politik. Dieser ist selbstkritisch und kritisch gegenüber der Welt, des Zivilisationsbruchs des Holocausts eingedenk und auf Bilder konzentriert, welche die Macht haben, Menschen für etwas zu mobilisieren. Als er in den neunziger Jahren mit bescheidenen Gemälden in Erscheinung trat, führte er eine neue Form von Authentizität in die Malerei ein, mit dem Phänomen des Scheiterns als Thema. „Vermag Kunst in der Gegenwart etwas zu bewirken? Wenn ein Journalist enthauptet wird, wenn die apokalyptischen Reiter des Islamischen Staats ihre Bildmacht demonstrieren? Wenn Männer abgeschlagene Köpfe herumfahren und in einem Rausch ihre Trophäen zeigen? Wenn die Barbarei vor der Tür steht, ist Kunst dann, im Sinne von Zivilisation, in der Lage, etwas zu bewirken oder ihr etwas entgegenzusetzen?“ Über Aktion, Engagement, Mißtrauen, Ohnmacht und den Verrat der Bilder. Ein flämischer Maler.
Patricia
Görg porträtiert einen Maler des 18. Jahrhunderts, der die Zeit zum
Stillstand bringt mit Walderdbeeren, einer Handvoll Pflaumen, einem Fell des
Hasens: Jean Siméon Chardin. „Die Komposition wirkt monumental-schlicht. Sie
erteilt Unterricht im Sehen. Für all dies hat der Maler sehr lange gebraucht.
Draußen tritt seine Epoche von einem Fuß auf den anderen, rauft sich vor
Ungeduld die Perücke. (...) Menschen werden unter seinen Augen Versunkene, die
unter der Wasserlinie der Zeit leben. Ihre Zielstrebigkeit zerfließt. Ihr
Schwung pausiert. Sie werden ergriffen von Verlangsamung, wie der von
Bewegungen unter Wasser. Chardin beobachtet einen Schankknecht oder eine
Wäscherin auf dem Meeresboden ihres Tuns. (...) Chardin malt die Zeit selbst.
Unauffällig nähert er sich diesem ungeheuren Sujet, indem er seine Modelle
entführt in seine eigene Langsamkeit. Vom ersten bis zum letzten Pinselstrich
muß er sie vor Augen haben.“ Langer Augenblick
Eduard
Winklhofer war Assistent von Jannis Kounellis und erinnert an den verstorbenen Künstler. „Kounellis war ein auffallend stiller, zurückhaltender Mensch.
Strenge gegen sich und gegen sein Werk bestimmten sein Leben und Handeln.
Während ein gieriges Diktat der Zeit stetig neue Moden als Kunst in die Welt
wirft, um sie dann gnadenlos wieder zu verschlingen, widmete sich sein Schaffen
der Überzeugung, Sinnvolles in der Vertiefung der Motive zu finden. Er war in
der Lage, einen Untergrund tiefer Erinnerungen – eigener wie sozialer – aufzureißen
und wahrhaft Modernes offenzulegen. So gelang es ihm, den Begehrlichkeiten
einer Öffentlichkeit zu trotzen, die hinter vorgespiegelten Begriffen wie
Aktualität und Authentizität dem Kreislauf schnellebiger Aushöhlung
ausgeliefert ist. Er hat der Kunst den Freiraum bewahrt, der notwendig ist, um
Großartiges zu schaffen.“
BRIEFE
& KOMMENTARE
Jean-Claude Pinson widmet sich in Neunauge in weißer Butter einem Ungeheuer aus Urzeiten, dessen schreckenerregender Anblick Gourmets nicht davon abhält, ihn als Delikatesse zu verehren: Der Lamprete. Diese auch am Loire-Ufer beheimatete Kreatur existierte bereits vor den Dinosauriern, war resistent gegenüber jedweder Art von Evolution und wurde – sagenumwoben – zur königlichen Trophäe, begehrten Beute, glanzvollen Sonntagsmahlzeit bei den Großeltern des kleinen Jean-Claude, der als Chorknabe zwischen Großvater Priester und Großmutter Köchin ihrer eigentümlichen Zubereitung beiwohnte und ihr Blut in einer Schüssel auffangen durfte.
Jean-Claude Pinson widmet sich in Neunauge in weißer Butter einem Ungeheuer aus Urzeiten, dessen schreckenerregender Anblick Gourmets nicht davon abhält, ihn als Delikatesse zu verehren: Der Lamprete. Diese auch am Loire-Ufer beheimatete Kreatur existierte bereits vor den Dinosauriern, war resistent gegenüber jedweder Art von Evolution und wurde – sagenumwoben – zur königlichen Trophäe, begehrten Beute, glanzvollen Sonntagsmahlzeit bei den Großeltern des kleinen Jean-Claude, der als Chorknabe zwischen Großvater Priester und Großmutter Köchin ihrer eigentümlichen Zubereitung beiwohnte und ihr Blut in einer Schüssel auffangen durfte.
„Was mag in Anselm vorgegangen sein, als er
zwei Tage vor Ostern im ersten Tageslicht auf dem höchsten Punkt der Teufels-
oder Todesbrücke über dem dämmrigen Abgrund stand? Ein kühler Wind kam auf, ein
verschreckter Vogel schrie vielleicht. Klare Luft, Bergluft; Heideggers
Denkluft, seine Denkhütte. Der Brunnen mit dem Holzstern drauf; die sich im
hohen Gras verlierenden Feldwege, Waldwasen, Knüppelpfade ...“
Michael Buselmeier über die Selbstauslöschung eines an seinem Idealismus
gescheiterten Achtundsechzigers: „Anselm litt an seiner jahrelangen Einsamkeit
hinter afrikanischen Campusmauern und Universitätszäunen wie an der ständigen
Leisetreterei, ja Heuchelei, zu der ihn sein Amt nötigte. Er konnte zu keinem
offen reden, wenigstens andeuten, was er wußte und dachte, was er befürchtete,
und knirschte vor unterdrückter Wut mit den Zähnen. Er erregte sich über die
schwarzen Staatsführer. Sie waren für ihn nichts als erbärmliche Betrüger, die
seit Jahrzehnten die sogenannte Entwicklungshilfe für sich abzweigten und die
Ölquellen für sich und ihre Clans ausbeuteten, immerzu lächelnde Gangster (...)
und Tränen schossen ihm in die Augen (...) So setzte sich ohnmächtiger Zorn in
ihm fest, der Haß fraß sich ein und mit ihm vielleicht auch die tückische
Krankheit, die ihn nicht mehr verließ.“
Himmelreich, Höllensteig
Als
Präsident Trump seinen Amtseid schwor, hatten negative Trends dazu beigetragen,
den US-amerikanischen Einfluß auf der Weltbühne einzuschränken. Eine
schrumpfende Weltökonomie, eine Erosion der technischen Vorherrschaft, die
Unfähigkeit, die eigene militärische Überlegenheit zur Erlangung politischer
Ziele einzusetzen, unabhängigere politische Führungsgestalten in Europa, Asien
und Lateinamerika wirkten dabei mit. Bislang trugen NATO oder ASEAN, Sicherheitsabkommen,
Wissenschaftspotentiale oder eine Führungsrolle in der Klimapolitik zur
Bekräftigung der amerikanischen Hegemonie bei. In wenigen Monaten hat die
Regierung Trump diese Pfeiler ihrer Weltherrschaft bröckeln lassen. Der
Geopolitiker Alfred W. McCoy zieht verblüffende
Parallelen zwischen der desaströsen Suezkrise 1956, die Großbritannien seinen
verbliebenen Weltmachtstatus kostete, und der heutigen internationalen
Konstellation: Demontage einer Weltmacht
KORRESPONDENZEN
Tom Engelhardt beschreibt die Macht der Militärs in der US-Regierung. Reihenweise räumten Donald Trumps Berater ihre Stellung, freiwillig oder weil sie geschaßt wurden, mit Ausnahme der Generäle. Es sind ihrer drei: der Nationale Sicherheitsberater Lieutenant General H. R. McMaster, der Verteidigungsminister und General der Marineinfanterie a. D. James Mattis sowie der General des Marinecorps a. D. John Kelly, ehemals Minister für Innere Sicherheit, heute Stabschef im Weißen Haus. Sie stehen im Washington dieser Tage nahezu allein an der Spitze der Macht. Was ihnen weder in Bagdad, noch in Kabul, Tripolis oder im erweiterten Nahen Osten gelungen ist, in der Bundeshauptstadt haben sie es geschafft. Diese Feldherren aus Amerikas aussichtslosen Kriegen haben schwindelerregende Erfolge bei der Schlacht ums Budget, beim Gerangel um die Steuergelder der Nation erzielt. Was immer die Verfassung hinsichtlich der Kontrolle des Militärs durch Zivilisten besagt, im Augenblick kontrollieren in Washington die Generäle die Zivilisten und der tiefe Staat ist zum allzu sichtbaren Staat avanciert. Der Sieg ist unser, endlich!
Tom Engelhardt beschreibt die Macht der Militärs in der US-Regierung. Reihenweise räumten Donald Trumps Berater ihre Stellung, freiwillig oder weil sie geschaßt wurden, mit Ausnahme der Generäle. Es sind ihrer drei: der Nationale Sicherheitsberater Lieutenant General H. R. McMaster, der Verteidigungsminister und General der Marineinfanterie a. D. James Mattis sowie der General des Marinecorps a. D. John Kelly, ehemals Minister für Innere Sicherheit, heute Stabschef im Weißen Haus. Sie stehen im Washington dieser Tage nahezu allein an der Spitze der Macht. Was ihnen weder in Bagdad, noch in Kabul, Tripolis oder im erweiterten Nahen Osten gelungen ist, in der Bundeshauptstadt haben sie es geschafft. Diese Feldherren aus Amerikas aussichtslosen Kriegen haben schwindelerregende Erfolge bei der Schlacht ums Budget, beim Gerangel um die Steuergelder der Nation erzielt. Was immer die Verfassung hinsichtlich der Kontrolle des Militärs durch Zivilisten besagt, im Augenblick kontrollieren in Washington die Generäle die Zivilisten und der tiefe Staat ist zum allzu sichtbaren Staat avanciert. Der Sieg ist unser, endlich!
Carl
von Siemens beobachtete die Auseinandersetzungen um den
Hamburger G20-Gipfel. „Ein Simulakrum ist ein Zeichen, das auf keinen
übergeordneten Sinn verweist. Existiert Gott, dann verweist das christliche
Kreuz auf ihn. Existiert Gott nicht, bleibt das Zeichen ohne Inhalt; es hat als
Symbol keinen Wert, sondern verweist lediglich auf sich selbst. Ein G20-Gipfel
ist ein Simulakrum, insofern er dem gemeinsamen Auftritt der Darstellung von
Verhandlungen an einem Tisch voller Fähnchen, dem Phototermin und der
Abschlußerklärung eine Bedeutung zuweist, die ihm tatsächlich nicht zukommt.
Sinn und Zweck des Gipfels sind daher weder Dialog noch Ergebnis, es ist die
große symbolische Inszenierung des Status Quo für eine medial produzierte
Weltöffentlichkeit (...) Das Umleiten der Aufmerksamkeit vom Gipfel zum Krawall
stellt den verzweifelten Versuch dar, das Reale aus der Geiselhaft der
Simulakren zu befreien; man sucht es im Stein und im Schlagstock, im Blut der
Verletzten und dem aufgerissenen Boden der Schanze. (...) Im Zentrum der
Krawalle steht der Körper, nach all den Trugbildern das einzige, was man kennt,
das einzige, worauf man sich verlassen, das einzige, das man, anders als das Weltgeschehen,
unmittelbar verbessern kann.“
Eduardo
Subirats erinnert an den großen spanischen
Schriftsteller Juan Goytisolo: „Das Schicksal eines jeden spanischen
Intellektuellen ist das Exil gewesen. (...) In der Geschichte Spaniens hat man
alles exiliert, was von einem zur absoluten Wahrheit erhobenen dogmatischen
Prinzip abweicht: Ein einziger Gott, ein Gesetz, fixiert für alle Ewigkeit, ein
totaler Glaube und eine totale Identität, ein unfehlbares Prinzip patriarchaler
Autorität. Diese Exile schließen Reflexion, Kritik und den Willen zur Reform
als pure Dissidenz aus. (...) Das Werk von Juan Goytisolo war eine
kontinuierliche Konfrontation mit den intellektuellen Ausdrucksformen und dem
politischen Willen der in Spanien vorherrschenden Intoleranz. Eine Konfrontation
mit dem spanischen Nationalkatholizismus des 20. Jahrhunderts und seinen
aufeinanderfolgenden Reklamierungen kristalliner unbefleckter Identitäten (...)
Eine Opposition gegen das Gebräu aus Arroganz und Provinzialismus, welche die
spanische Rechte ebenso wie die Linke bis zum heutigen Tage ausgezeichnet
haben.“ Erinnerung
und Exil
KUNST
Marina Roca Die
Der Körper, unser Körper, ein Phänomen so fundamental wie grundlegend. Wir leben durch ihn, in ihm, mit ihm, manchmal gegen ihn. Ein Wahrnehmungsparadox: Ich bin nicht mein Körper, doch kann nicht ohne ihn existieren. Er ist das Gefäß, das alles enthält, was mein Ich ausmacht, doch überflutet dieses Ich die eigenen Grenzen. Der Körper erscheint verzerrt, vieldeutig, veränderbar. Er beginnt formlos, nimmt Struktur an, verleibt sich Charakteristika anderer Körper und Lebewesen ein. Farben und Formen bilden Strukturen von Körpern, die sich unkontrollierbar bewegen, aufgehalten nur von den Grenzen der Leinwand. Dies sind Elemente der Bildserie The Blush, die Innen- und Außenansicht, Lust und Scham verbinden.
Marina Roca Die
Der Körper, unser Körper, ein Phänomen so fundamental wie grundlegend. Wir leben durch ihn, in ihm, mit ihm, manchmal gegen ihn. Ein Wahrnehmungsparadox: Ich bin nicht mein Körper, doch kann nicht ohne ihn existieren. Er ist das Gefäß, das alles enthält, was mein Ich ausmacht, doch überflutet dieses Ich die eigenen Grenzen. Der Körper erscheint verzerrt, vieldeutig, veränderbar. Er beginnt formlos, nimmt Struktur an, verleibt sich Charakteristika anderer Körper und Lebewesen ein. Farben und Formen bilden Strukturen von Körpern, die sich unkontrollierbar bewegen, aufgehalten nur von den Grenzen der Leinwand. Dies sind Elemente der Bildserie The Blush, die Innen- und Außenansicht, Lust und Scham verbinden.
Wir
wünschen Ihnen eine gute Lektüre, einen goldenen Herbst und hoffen, Sie bleiben
uns gewogen!
Mit
den besten Grüßen,
Lettre
International
PS.
Wir freuen uns auf Ihren Besuch auf der Internationalen Frankfurter
Buchmesse vom 11. bis 15. Oktober 2017, Halle 4.1. Gang
F 77–81.
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