Mittwoch, 20. September 2017

Der Wert eines Buches



Man möchte annehmen, ein wertvolles Buch sei zuerst eines, das wegen seines Inhalts wertgeschätzt, gepriesen und, vor allem, gelesen wird. Je geliebter, desto häufiger gelesen. Die andere Seite ist die materielle Wertschätzung: seltene Ausgabe, besonders aufwändig produziert, mit Widmung des Autors versehen oder mit sonstigen wertsteigernden Eigenheiten. Es soll in gutem Zustand sein. Es sollte keine Gebrauchsspuren zeigen. Der materielle Wert steht im Widerspruch zum immateriellen. Denn ein Buch, das keine Lesespuren zeigt, ist nicht gelesen worden. Weshalb nicht? Es hat offensichtlich nicht als Lesestoff gedient, sondern als Wertanlage, Spekulationsstück oder Prestigeobjekt. Es ist als Schrift entwertet worden zugunsten des materialen Marktwertes, eine zweite Verdinglichung, nach der Sammler als Besitzer gieren.

Diese Perversion zeigte sich mir überdeutlich in einem Video eines bekannten englischen Buchhändlers über eine seltene Erstausgabe von James Joyce’s ULYSSES, die nicht gelesen worden war, die man auch nicht lesen darf, weil das schlecht gebundene Buch dann bräche und den hohen Preis minderte. Was für eine Wertschätzung! Das Video dokumentiert die ritualisierte Preisung des Dings.

[Der materielle Aspekt, der so extrem hervorgehoben wird, ist auch im gemeinen Verhalten von James Joyce gegenüber Sylvia Beach enthalten. Er, dem geholfen worden war, vergaß alles und ließ seine Erstverlegerin abstürzen, wandte sich einem anderen Verlag zu. Geschäft ist Geschäft, Moral gibt es nicht (wie später der Kommunist Brecht so treffend festhielt: erst kommt das Fressen, dann die Moral…) In Wikipedia kann man darüber kurz lesen:

“Shakespeare and Company gained considerable fame after it published James Joyce's Ulysses in 1922, as a result of Joyce's inability to get an edition out in English-speaking countries.  Beach would later be financially stranded when Joyce signed on with another publisher, leaving Beach in debt after bankrolling, and suffering severe losses from, the publication of Ulysses.”

Joyce war ein skrupelloser Egoist, der, wenn es ihm besser ging, Hilfe und Unterstützung vergaß. Vielleicht ist das der eigentliche Maßstab für seinen Ruhm?]

Diese Haltungen gemahnen mich an die völlig perverse Besitzlust gewisser Persönlichkeitsgeschädigter, die millionenteure Kunstwerke in Depots wegsperren, weil der materielle Besitz so wertvoll, so teuer ist, dass der Artefakt nicht mehr „geteilt“ (kommuniziert) werden darf, weil die Risiken zu hoch sind für den Besitz und den Besitzer.

Nachbemerkung:

Soeben lese ich in der PRESSE:

Harry-Potter-Erstausgabe erzielt bei Auktion knapp 68 000 Euro

Bei einer Versteigerung in den USA wurde ein neuer Weltrekord für den Preis eines unsignierten, fiktionalen Werks erzielt.
DIE PRESSE ; 19.9.2017 

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