Auszüge aus
Victor Serge
Brief an André Gide(Mai 1936)
(Aus Victor Serge, Für eine
Erneuerung des Sozialismus: Unbekannte Aufsätze, Verlag Association,
Hamburg 1975, S.128-31; Übersetzung aus dem Französischen: Marita Molitor.)
Ich
erinnere mich an Stellen in Ihrem Tagebuch, wo Sie 1932 aufzeichneten, wie Sie
zum Kommunismus gestoßen sind, weil er freie Entfaltung der Persönlichkeit
bedeutet. (Ich kann Ihre Gedanken nur der Erinnerung nach wiedergeben, da ich
keines meiner Bücher mehr besitze und auch nicht die Zeit habe, die
entsprechende Stelle wiederaufzusuchen.) Ich las diese Seiten in Moskau mit
ziemlich gemischten Gefühlen.
Zum
einen war ich glücklich, Ihre Annäherung an den Sozialismus festzustellen, da
ich Ihre geistige Entwicklung – wenn auch von weitem – seit den
Begeisterungsstürmen meiner Jugend verfolgt hatte. Zum anderen aber war ich
traurig über den Widerspruch zwischen Ihren Aussagen und der Wirklichkeit, in
der ich mich fand. Ich stieß auf Ihr Tagebuch zu einer Zeit, in der niemand in
meiner Umgebung gewagt hätte, ein Tagebuch zu führen, wohlwissend, daß die
politische Polizei es mit Sicherheit eines nachts abgeholt hätte ... ich konnte
nicht umhin, bei der Lektüre ähnliche Gefühle zu haben wie Soldaten, die im
Schützengraben Zeitungen aus der Heimat erhalten und dort auf lyrische Prosa
über den letzten Rechtsstreit stoßen.
Hier wird die Einschätzung der Rolle und
Funktion von Literatur deutlich: Beste Literatur wird am falschen Ort zur
falschen Zeit zum Ärgernis. Wann aber ist rechte Zeit und wo rechter Ort? Wo
kein existenziell gefährdender Druck und Zwang herrscht, wo freie
Wahlmöglichkeit besteht.
Zur geistigen Situation der SU heißt es:
Die Situation
des Schriftstellers, das heißt letzten Endes desjenigen, der die Aufgabe hat,
für viele andere zu sprechen, die stumm sind? Wir mußten zusehen, wie Gorki
seine Erinnerungen an Lenin überarbeitete und zwar so, daß Lenin in der
neuesten Ausgabe genau das Gegenteil von dem sagt, was an manchen Stellen der
ersten seine Meinung ist ... Die Literatur wird selbst in ihren geringsten
Äußerungen gegängelt, und es existiert eine literarische Führungsclique, die
bewundernswert organisiert ist, fett bezahlt wird und, ganz wie es sich gehört,
konformistisch denkt ...
Das liest sich fast wie eine Beschreibung
der heutigen literarischen Messe- und Wettbewerbsveranstalter, der Großverleger, der
Agenturen und Vermittler, der Redaktionen wichtiger Zeitungen und
Sendeanstalten, kurz, der Medienindustrie, die lenkt und formt und aufbaut oder
auch verhindert und abbaut. Mit dem Unterschied, dass sie es
privatwirtschaftlich macht und ohne alle staatlichen Hilfsmittel staatlicher
Sanktion, höchstens unterstützt mit staatlicher Hilfe für Gratifikationen.
Denn wo herrscht nicht die „Führungsclique,
die bewundernswert organisiert ist, fett bezahlt wird und, ganz wie es sich
gehört, konformistisch denkt“? Oder ist so eine Feststellung Ausdruck einer
unhaltbaren Verschwörungstheorie? Hat sie damals gegolten, heute aber nicht?
Für die Vergangenheit kann der Wahrheitsbeweis erbracht werden. Für die
Gegenwart nicht. Die Führungscliquen zeichnen sich durch Undurchsichtigkeit
aus. Man kann nur indirekt auf ihr Walten schließen. Es ist wie mit dem
Phänomen ZEIT: Wir haben keine Sinne, kein Organ für ihre eigentliche,
wirkliche Wahrnehmung. Sie selbst ist auch kein empirisch festmachbares Objekt,
sondern nur indirekt messbar, beschreibbar, fühlbar. Ein anderes Beispiel ist
die PSYCHE. Ganze Wissenschaften (und viel mehr Pseudowissenschaften) arbeiten
mit ihr, für und gegen sie. Aber niemand hat sie je gesehen oder direkt
gemessen. Sie wird vermutet – und das reicht aus.
Aber die Schlussfolgerungen über die
repressiven, gängelnden, betrügerischen, kriminellen Machenschaften der
Führungscliquen reichen NICHT aus. Hier verlangt man Beweise. Für
Nazi-Deutschland als auch die Sowjetunion sind sie lieferbar. Nicht aber für
heutige Gesellschaften und Märkte. Trotz hochentwickelter Messgeräte und bester
Kommunikationsmittel. Alles scheint innerhalb des Zirkels der Konformität zu
schwimmen, sogar das vordergründig sich kritisch Gebende.
Ohne Schamröte reden Profane von Literaturpäpsten oder Kaisern oder Königen, beugen sich erfolgssüchtige Novizen den Diktaten von Kuratorinnen und Juroren, entblößen sich in Medien willig, greifen zu üblen Plagiatspraktiken. Nicht alle, aber immer mehr. Es ist wie in einem Prostitutionszirkus. Klar gibt es Ausnahmen. Aber wie kommt man ins öffentliche Aufmerksamkeitsfeld, wenn nicht durch spektakuläre Aktionen, entsprechende Kontakte oder beidem? Haben doch die Chefdeuter keine Zeit mehr (man erinnere sich an die Mahnung des Time Managements der Zürcher Jurorin Caduff beim Bachfrauwettlesen, pardon, Bachmann-Wettlesen!), um Qualität (nach welchen Kriterien? denen des Marktes, der Literratur, der Literaturwissenschaft?) zu kennen, zu erkennen, zu bewerten. Alles viel zu umständlich, obsolt, vorbei. Heute geht es um etwas ganz Anderes. Worum? jedenfalls nicht um so weltfremde Ansichten wie von Victor Serge. Er hätte sich an Gorki ein Beispiel nehmen und von Andrei Alexandrowitsch Schdanow lernen sollen, was Realismus ist und bedeutet.
Die Erfolgsgeneration in unseren Landen, im freien Westen, hat das, wie der Markt und sein Geschäft es beweist, gelernt.
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