Freitag, 20. Juli 2012

Die Rolle der Literatur und die Führungscliquen

Eine Bemerkung von Victor Serge im Brief an André Gide vom Mai 1936 zeigt auf, dass die Einschätzung der Rolle und  Funktion der Literatur damals wie heute problematisch war, nicht nur hinsichtlich der Autoren, der Stoffe, sondern vor allem der Leute im Hintergrund, der Führungsqlicken.


Auszüge aus

Victor Serge

Brief an André Gide

(Mai 1936)

(Aus Victor Serge, Für eine Erneuerung des Sozialismus: Unbekannte Aufsätze, Verlag Association, Hamburg 1975, S.128-31; Übersetzung aus dem Französischen: Marita Molitor.)

Ich erinnere mich an Stellen in Ihrem Tagebuch, wo Sie 1932 aufzeichneten, wie Sie zum Kommunismus gestoßen sind, weil er freie Entfaltung der Persönlichkeit bedeutet. (Ich kann Ihre Gedanken nur der Erinnerung nach wiedergeben, da ich keines meiner Bücher mehr besitze und auch nicht die Zeit habe, die entsprechende Stelle wiederaufzusuchen.) Ich las diese Seiten in Moskau mit ziemlich gemischten Gefühlen.
Zum einen war ich glücklich, Ihre Annäherung an den Sozialismus festzustellen, da ich Ihre geistige Entwicklung – wenn auch von weitem – seit den Begeisterungsstürmen meiner Jugend verfolgt hatte. Zum anderen aber war ich traurig über den Widerspruch zwischen Ihren Aussagen und der Wirklichkeit, in der ich mich fand. Ich stieß auf Ihr Tagebuch zu einer Zeit, in der niemand in meiner Umgebung gewagt hätte, ein Tagebuch zu führen, wohlwissend, daß die politische Polizei es mit Sicherheit eines nachts abgeholt hätte ... ich konnte nicht umhin, bei der Lektüre ähnliche Gefühle zu haben wie Soldaten, die im Schützengraben Zeitungen aus der Heimat erhalten und dort auf lyrische Prosa über den letzten Rechtsstreit stoßen.

Hier wird die Einschätzung der Rolle und Funktion von Literatur deutlich: Beste Literatur wird am falschen Ort zur falschen Zeit zum Ärgernis. Wann aber ist rechte Zeit und wo rechter Ort? Wo kein existenziell gefährdender Druck und Zwang herrscht, wo freie Wahlmöglichkeit besteht.

Zur geistigen Situation der SU heißt es:

Die Situation des Schriftstellers, das heißt letzten Endes desjenigen, der die Aufgabe hat, für viele andere zu sprechen, die stumm sind? Wir mußten zusehen, wie Gorki seine Erinnerungen an Lenin überarbeitete und zwar so, daß Lenin in der neuesten Ausgabe genau das Gegenteil von dem sagt, was an manchen Stellen der ersten seine Meinung ist ... Die Literatur wird selbst in ihren geringsten Äußerungen gegängelt, und es existiert eine literarische Führungsclique, die bewundernswert organisiert ist, fett bezahlt wird und, ganz wie es sich gehört, konformistisch denkt ...

Das liest sich fast wie eine Beschreibung der heutigen literarischen Messe- und Wettbewerbsveranstalter, der Großverleger, der Agenturen und Vermittler, der Redaktionen wichtiger Zeitungen und Sendeanstalten, kurz, der Medienindustrie, die lenkt und formt und aufbaut oder auch verhindert und abbaut. Mit dem Unterschied, dass sie es privatwirtschaftlich macht und ohne alle staatlichen Hilfsmittel staatlicher Sanktion, höchstens unterstützt mit staatlicher Hilfe für Gratifikationen.

Denn wo herrscht nicht die „Führungsclique, die bewundernswert organisiert ist, fett bezahlt wird und, ganz wie es sich gehört, konformistisch denkt“? Oder ist so eine Feststellung Ausdruck einer unhaltbaren Verschwörungstheorie? Hat sie damals gegolten, heute aber nicht? Für die Vergangenheit kann der Wahrheitsbeweis erbracht werden. Für die Gegenwart nicht. Die Führungscliquen zeichnen sich durch Undurchsichtigkeit aus. Man kann nur indirekt auf ihr Walten schließen. Es ist wie mit dem Phänomen ZEIT: Wir haben keine Sinne, kein Organ für ihre eigentliche, wirkliche Wahrnehmung. Sie selbst ist auch kein empirisch festmachbares Objekt, sondern nur indirekt messbar, beschreibbar, fühlbar. Ein anderes Beispiel ist die PSYCHE. Ganze Wissenschaften (und viel mehr Pseudowissenschaften) arbeiten mit ihr, für und gegen sie. Aber niemand hat sie je gesehen oder direkt gemessen. Sie wird vermutet – und das reicht aus.
Aber die Schlussfolgerungen über die repressiven, gängelnden, betrügerischen, kriminellen Machenschaften der Führungscliquen reichen NICHT aus. Hier verlangt man Beweise. Für Nazi-Deutschland als auch die Sowjetunion sind sie lieferbar. Nicht aber für heutige Gesellschaften und Märkte. Trotz hochentwickelter Messgeräte und bester Kommunikationsmittel. Alles scheint innerhalb des Zirkels der Konformität zu schwimmen, sogar das vordergründig sich kritisch Gebende.

Ohne Schamröte reden Profane von Literaturpäpsten oder Kaisern oder Königen, beugen sich erfolgssüchtige Novizen den Diktaten von Kuratorinnen und Juroren, entblößen sich in Medien willig, greifen zu üblen Plagiatspraktiken. Nicht alle, aber immer mehr. Es ist wie in einem Prostitutionszirkus. Klar gibt es Ausnahmen. Aber wie kommt man ins öffentliche Aufmerksamkeitsfeld, wenn nicht durch spektakuläre Aktionen, entsprechende Kontakte oder beidem? Haben doch die Chefdeuter keine Zeit mehr (man erinnere sich an die Mahnung des Time Managements der Zürcher Jurorin Caduff beim Bachfrauwettlesen, pardon, Bachmann-Wettlesen!), um Qualität (nach welchen Kriterien? denen des Marktes, der Literratur, der Literaturwissenschaft?) zu kennen, zu erkennen, zu  bewerten. Alles viel zu umständlich, obsolt, vorbei. Heute geht es um etwas ganz Anderes. Worum? jedenfalls nicht um so weltfremde Ansichten wie von Victor Serge. Er hätte sich an Gorki ein Beispiel nehmen und von Andrei Alexandrowitsch Schdanow lernen sollen, was Realismus ist und bedeutet. 

Die Erfolgsgeneration in unseren Landen, im freien Westen, hat das, wie der Markt und sein Geschäft es beweist, gelernt.



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