Haimo L. Handl
In meiner Jugendzeit grassierte die
eigentümliche Epidemie der Schundliteratur, vor der die Lehrer und Pädagogen
warnten. Schundhefte deckten vom Landser-, Horror-, Krimi-, bis zu den Liebesschmonzes
alles ab, und zwar in einfachster Sprache und nach fixen, stereotypen
Erzählmustern, die ihren ungeheuren Erfolg begründeten, da die Mehrheit der
Bevölkerung damals noch ungebildeter war, als sie es heute noch ist.
Es war auch die Zeit die „Wiederaufbaus“, der
erwachenden Konsumkultur, der gesellschaftlichen Umwälzungen und der
historischen Verdrängungen. Die Illustrierten widmeten sich wieder dem Abbau
der Privatsphären, gaben sich aufdeckerisch, wiewohl meist nur
„systemaffirmierend“, wie es in den späten Sechzigern hieß, und verkauften mit
Sexappeal alles, was zu verhökern war. Die Macht des Mannes, der grad im
zweiten Weltkrieg sein tiefes Versagen, seine inhumane Bestialität unter Beweis
gestellt hatte, war noch nicht gebrochen: als Mann und Haushaltsvorstand durfte
er herrschen wie ein Pascha; er prügelte die Frau und die Kinder, war er
weniger brutal, brüllte er und ließ sich bedienen. Die Frauen, die die erste
Drecksarbeit nach den verheerenden Bombenangriffen „erledigt“ hatten, die oft
einsam, aber ausdauernd die Versorgung sichergestellt hatten, traten wieder ins
zweite Glied des Dienens zurück, bückten und beugten sich wieder, damit der
geschlagene Mann, dieses Elend, dieser Hund, der ewig leben wollte, wieder
bellen und beißen konnte. Spät, sehr spät, fiel dann die Macht dieser
Vorstände; sie schrumpfte mit der versagenden Virilität und dem wachsenden
Bierbauch der hässlichen Mannsbilder, der fiesen Schmierer und Opportunisten.
Bis 1977 musste eine Frau die Erlaubnis des Ehemanns einholen, um arbeiten zu
dürfen. Das ausbeuterische Arbeitssystem schuf aber einen Druck, der die
ungeliebte Halbemanzipation der Frauen unumgänglich werden ließ. Der
Kulturapparat, die Bewusstseinsindustrie lieferte die entsprechenden Bilder und
Filme zur allgemeinen Einübung, die Literatur hatte sich, für die Mehrheit der
Leserschaft zumindest, auch angepasst und Radio und Fernsehen wurden zu den
eigentlichen und effektiven Lehrmeistern der Nation; wer heute Dokumentationen
ansieht, wie böse, und voller Hass die „Staatsorgane“ gegen Demonstrierende
vorgingen (unterm Hitler hätts des net gebn!), wie die rohe Prügelgewalt
herrschte und ein Ordnungsdenken, das seine Herkunft aus der Nazizeit nicht
verstecken konnte, wie heute wieder, kriegt eine ungefähre Ahnung von der
Unkultur und vom Ungeist, der nur militärisch gebrochen worden war.
Die Kurzromane der Heftchen, die begierig
gelesen wurden (im fast nicht alphabetisierten Italien der Unterschichten waren
es vor allem die einfachen Bildergeschichten und Fotoromane, die die
Massenverbildung sicher stellten), lieferten die ersehnten Traumkulissen,
lieferten die Stoffe zur Realitätsbewältigung. In den Schulen vernahmen wir die
Aburteilungen oder Warnungen. Zwar schien das Meiste, wenn von Autoritäten
vorgebracht oder eingefordert, verdächtig und fragwürdig, aber im Falle der
Schundliteratur war ich selbst über die Lektüre zum Schluss gekommen, dass sie
zu dürftig, zu simpel, einfach Abfall war. Ich hatte einige wenige Krimis
gelesen und bemerkt, dass die Sprache so einfach gestrickt war, dass sie mir
weder Stoff noch Nahrung bot. Ich war anderes gewohnt. Ich bin auch nie zum Fan
(„Fan“ ist die Abkürzung von „Fanatic“ oder Fanatiker, damals, nach dem Krieg
mit den vielen Fanatikern, eine befremdlich eigentümliche Verlagerung
amerikanischer Werbemaßnahmen und Verbildungen, diese Untypen als positiv
hinzustellen, was die Europäer, besonders die folgsamen Deutschen, bereitwillig
aufnahmen) von Micky Mouse geworden; mich langweilten ziemlich rasch die
billigen Heftchen.
In der Schweiz, wo ich in meiner Kindheit und
Jugend immer wieder weilte, kamen mir so einfache Heftchen unter dem Titel
„Wahre Geschichten“ unter die Augen. Sie waren so einfach, so stereotyp, so
dürftig oberflächlich und vordergründig, wie alle andern auch. Aber sie gaben
vor, wahr zu sein, als ob der Rekurs auf Erlebtes diesen Schund, die
Täuschungskonstruktionen aufwertete. Die einfachen Menschen, die sie lasen,
durften darin also den schriftlichen Spiegel ihrer ureigenen Welt erkennen,
sich freuen, dass es andern ebenfalls dreckig ging, dass manchmal Träume sich
bewahrheiteten, dass das Glück nicht nur bei den Oberschichtlern, die sie
anbeteten, zu Hause war, sondern auch bei den „Gewöhnlichen“. Diese wahren
Geschichten wirkten wahrscheinlich wie eine Vergewisserung einerseits, eine
Lebensorientierung andererseits. Wenn DAS wahr war, bestätigte es auch das
eigene Leben, das uneigentlich, entfremdet, fremdbestimmt gefristet wurde, als
wahr. Der Kreis schloss sich und die Unteren, die Geschundenen konnten ihren
eigenen Stolz entwickeln, in einer Art Trotz sich bestätigt fühlen und die
große Täuschung in der Fremdbestimmung und Ausbeutung, der „Verwaltetheit“ des
Menschen“, den tiefen gesellschaftlichen Betrug übersehen und damit als
Stimmvieh, als blökende Mitläufer, ihre eigene Depravierung perpetuieren.
Das Hohe Lied der Einfachheit hat sich damals
schon in der reduzierten Sprache vorbereitet: einfache Menschen leben einfach,
teilen eine einfache Sprache; die Eliten sind Fremdkörper, die sie demütigen.
In der Pflege des Einfachen, des Simplen, des Reduzierten, verbirgt sich das
Volkstum, das Volk, die Bewegung und Gemeinschaft, die es zu stärken gilt (und
das wenige Jahre nach dem Krieg, als das Volk mit seinem gelenkten Volkstum
fast alles vernichtet hatte, als der Ungeist der rabiaten Spießer, der stets
Zukurzgekommenen sich in Mord und Totschlag, in Krieg und Kriegsverbrechen
entlud, von denen man aber keine wahren Geschichten berichten wollte … Heute
rappelt dieser Ungeist sich wieder hoch, nicht nur in Österreich oder
Deutschland, überall in Europa und auch den USA: der hässliche, faschistische
Kern der Rabiaten Täter will toben und wüten).
Jene Autoren, die sich der neuen Leichtsprache
bedienen, werden gepriesen. Die Welt ist einfach: hell und dunkel, hoch und
tief, wahr und unwahr. Nichts ist fix, was nicht approbiert ist von den
Mächtigen oder der Mehrheit, weil es dann „fake news“ ist gegenüber
„alternative facts“. Orwell und sein Vertrauen in 2x2=4 ist von gestern,
obsolet und vorbei. Heute gilt Trump und Lakaienhaltung, der Terror der
Tugendhaften gleich welcher Couleurs, nicht nur in Charlottsville, sondern auch
in Wien, wo die Burschenschafter endlich zeigen, wo der Bartl das Bier holt
(Most saufen die ja nicht). Und diese Unverbindlichkeit, die sich als Toleranz
ausgibt, widerspiegelt das einfache Leben, den einfachen Glauben, das dumme
Credo „Eure Rede sei ja, ja, nein, nein.“ Als ob’s so einfach wär‘ (je gewesen
sei).
Der Verweis auf Tatsachen erhöht, verleiht
Weihe und Authentizität. Das allgemeine Misstrauen gilt der Fiktion, dem
Kreativen, dem Freidenken. Literatur heute liest sich wie Geschäftsberichte,
Bilanzen, Inventurlisten, Behördentexte. Kafka passt mit seinem Amtsdeutsch in
diese Landschaft und liefert die gängigen Ängste für die Durchschnittlichen. Es
herrscht der Bericht,. der Rapport, das Dokument und Dokumentarische. Jeder ein
kleiner Archäologe, ein Historiker, jeder kompetent im Wenigwissen und
Zitatenschatz, den Belegen. Eine Archivkultur des (vermeintlich) Faktischen.
Die Berichtsliteratur ist nur eine halbe.
Stoff für Ungebildete und Halbgebildete. Die vermeintliche Überprüfbarkeit des
Faktischen scheint Sicherheit zu verbürgen. Der Schriftsteller als Rapporteur
geriert sich wie der fantasielose Tagebuchautor, der Ereignisse festhält und
davon seine Wertigkeit, seinen Dienst an der Wahrheit ableitet. Er oder sie,
die Autorin, und die Leser teilen sich Wirklichkeiten. Es geht nicht mehr um
Konstruktion, Kreativität oder Imagination, es geht primär ums Beobachten. Es
regiert die Beobachterin, der Zeuge, das Voyeurhafte. Man liest nicht mehr in
Auseinandersetzung und aktivem Weiterdenken, man überfliegt, registriert,
beobachtet die Beobachterin, den Berichterstatter.
Ein Autor namens Stephan Wackwitz fragt in
einem Artikel (in der NEUEN RUNDSCHAU 127/2016) ernsthaft, ob es
nichtfiktionale Literatur gebe und mokiert sich über Iris Radisch, die eine
Lanze für die fiktionale Literatur brach. In seinem „Erkundungsspaziergang“,
wie der Untertitel seines Elaborats lautet, wertet er Radischs Position ab als
„Vorurteil zeitgenössischer Literaturinteressierter besonders in Deutschland:
Literatur unterscheide sich von Nichtliteratur durch Fiktionalität – und das
vorzugsweise im Roman“. Wie kann man nur! Er, der Moderne, der auf der Höhe der
Zeit und ihrer Faktenorientierung (wir leben ja in Zeiten von alternative facts
und fake news) lebt, verweist aber kundig auf die Literatur- und
Kulturgeschichte, die massenhaft Beweise für die Vorherrschaft des Faktischen,
Dokumentarischen, Biographischen, Authentischen liefere. Er verweist auf die
Tradition des Essays und seine immer noch höchste Bedeutung. Er ruft als Zeugen
alte und weniger alte Berühmte als Zeugen auf (Montaigne; Nietzsche, Adorno
etc.), führt Friedrich Schlegel und Johann Georg Hamann an, Ralph Waldo Emerson
und Richard Rorty. In seinem Raritätenladen wimmelt es nur so von
tatsachenverpflichteten Philosophen und Literaten Er muss natürlich die Poesie
auslassen, weil die nun mal in den meisten Fällen, wenn sie „berichtet“ und
dokumentiert, keine ist, aber er fokussiert auf die Essays von Gottfried Benn,
um seine These zu stützen. Dass gerade unter diesen aber so mancher
bedenkliche, bornierte, kurzsichtige Text zu finden ist, worin der Poet als
Nichtpoet seine dunkle, hässliche Ideologie nicht zu maskieren vermochte, wird
nicht erörtert. Es würde zu weit führen und seinen Aufsatz, der vielen jungen
Germanisten als Handreiche dienen mag, ungebührlich aufwerten, wollte ich en
detail zitieren, wiederholen und kritisch ein- und abwenden. Wir sind ja nicht
im naturwissenschaftlichen Bereich überprüfbarer Wahrheiten, wollen es auch
nicht sein und behalten unsere eigene Interpretation.
Mir scheint der Wackwitz keinen Witz zu
kennen, nur wacker drauflos zu schwabbern und jene Sätze zu formulieren, die
ihm Sicherheit bieten. Es ist, als ob er, stellvertretend für die vielen,
vielen Autoren, die gleich ihm sich engstirnig an die Dürftigkeit des
Faktischen halten, eine eigentümliche Angst vor der Fiktion, dem Fiktionalen habe,
an ihr leide und deshalb als Leidvoller abwehre. Hätte er Adorno aufmerksam
gelesen, könnte die Erinnerung an Aussagen von ihm ihn vielleicht ins Zweifeln
oder Grübeln bringen:
Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist
kein unmittelbar zu Identifizierendes. Wie er einzig vermittelt erkannt wird,
ist er vermittelt in sich selbst. Was das Faktische am Kunstwerk transzendiert,
sein geistiger Gehalt, ist nicht festzunageln auf die einzelne sinnliche
Gegebenheit, konstituiert sich durch diese hindurch. Darin besteht der
vermittelte Charakter des Wahrheitsgehalts. Der geistige Gehalt schwebt nicht
jenseits der Faktur, sondern die Kunstwerke transzendieren ihr Tatsächliches
durch ihre Faktur, durch die Konsequenz ihrer Durchbildung. Der Hauch über
ihnen, das ihrem Wahrheitsgehalt Nächste, tatsächlich und nichttatsächlich in
eins, ist grundverschieden von Stimmung, wie die Kunstwerke sie ausdrückten;
der formende Prozeß zehrt eher jene auf um jenes Hauchs willen. Sachlichkeit
und Wahrheit sind in den Kunstwerken in einander. Durch ihren Hauch in sich
selber – Komponisten ist der ›Atem‹ einer Musik vertraut – nähern sie sich der
Natur, nicht durch deren Imitation, zu deren Bann Stimmung rechnet. (Adorno,
Ästhetische Theorie, GS 7:195)
Musterung.
– Wer, wie das so heißt, in der Praxis steht, Interessen zu verfolgen, Pläne zu
verwirklichen hat, dem verwandeln die Menschen, mit denen er in Berührung
kommt, automatisch sich in Freund und Feind. Indem er sie daraufhin ansieht,
wie sie seinen Absichten sich einfügen, reduziert er sie gleichsam vorweg zu
Objekten: die einen sind verwendbar, die andern hinderlich. Jede abweichende
Meinung erscheint auf dem Bezugssystem je einmal vorgegebener Zwecke, ohne
welches keine Praxis auskommt, als lästiger Widerstand, Sabotage, Intrige; jede
Zustimmung, und käme sie aus dem gemeinsten Interesse, wird zur Förderung, zum
Brauchbaren, zum Zeugnis der Bundesgenossenschaft. So tritt Verarmung im
Verhältnis zu anderen Menschen ein: die Fähigkeit, den andern als solchen und
nicht als Funktion des eigenen Willens wahrzunehmen, vor allem aber die des
fruchtbaren Gegensatzes, die Möglichkeit, durch Einbegreifen des
Widersprechenden über sich selber hinauszugehen, verkümmert. Sie wird ersetzt
durch beurteilende Menschenkenntnis, für die schließlich noch der Beste das
kleinere Übel ist und der Schlechteste nicht das größte. Diese Reaktionsweise
aber, das Schema aller Administration und »Personalpolitik«, tendiert bereits
von sich aus, vor aller politischen Willensbildung und aller Festlegung auf
ausschließende Tickets, zum Faschismus. (Adorno, Minima Moralia, GS 4:149)
Und weiter Adorno:
Wishful Thinking.
– Intelligenz ist eine moralische Kategorie. Die Trennung von Gefühl und
Verstand, die es möglich macht, den Dummkopf frei und selig zu sprechen,
hypostasiert die historisch zustandegekommene Aufspaltung des Menschen nach
Funktionen. Im Lob der Einfalt schwingt die Sorge darum mit, daß nur ja das
Getrennte nicht zueinander finde und das Unwesen stürze. »Hast du Verstand und
ein Herz«, lautet ein Distichon Hölderlins, »so zeige nur eines von beiden, /
Beides verdammen sie dir, zeigest du beides zugleich.« (Adorno, Minima Moralia, GS 4:225)
Zur Verantwortungslosigkeit der Unbedarften,
der Einfachen, falsch Simplen notiert Adorno:
Moral und Stil.
– Man wird als Schriftsteller die Erfahrung machen, daß, je präziser,
gewissenhafter, sachlich angemessener man sich ausdrückt, das literarische
Resultat für um so schwerer verständlich gilt, während man, sobald man lax und
verantwortungslos formuliert, mit einem gewissen Verständnis belohnt wird. Es
hilft nichts, alle Elemente der Fachsprache, alle Anspielungen auf die nicht
mehr vorgegebene Bildungssphäre asketisch zu vermeiden. Vielmehr bewirken
Strenge und Reinheit des sprachlichen Gefüges, selbst bei äußerster
Einfachheit, ein Vakuum. Schlamperei, das mit dem vertrauten Strom der Rede
Schwimmen, gilt für ein Zeichen von Zugehörigkeit und Kontakt: man weiß, was man
will, weil man weiß, was der andere will. Beim Ausdruck auf die Sache schauen,
anstatt auf die Kommunikation, ist verdächtig: das Spezifische, nicht bereits
dem Schematismus Abgeborgte erscheint rücksichtslos, ein Symptom der
Eigenbrötelei, fast der Verworrenheit. Die zeitgemäße Logik, die auf ihre
Klarheit so viel sich einbildet, hat naiv solche Perversion in der Kategorie
der Alltagssprache rezipiert. Der vage Ausdruck erlaubt dem, der ihn vernimmt,
das ungefähr sich vorzustellen, was ihm genehm ist und was er ohnehin meint. Der strenge erzwingt Eindeutigkeit der
Auffassung, die Anstrengung des Begriffs, deren die Menschen bewußt entwöhnt
werden, und mutet ihnen vor allem Inhalt Suspension der gängigen Urteile, damit
ein sich Absondern zu, dem sie heftig widerstreben. Nur, was sie nicht erst zu
verstehen brauchen, gilt ihnen für verständlich; nur das in Wahrheit
Entfremdete, das vom Kommerz geprägte Wort berührt sie als vertraut. Weniges
trägt so sehr zur Demoralisierung der Intellektuellen bei. Wer ihr entgehen
will, muß jeden Rat, man solle auf Mitteilung achten, als Verrat am
Mitgeteilten durchschauen. (Adorno, Minima Moralia, GS 4:114)
Und
als Schlusszitat, sozusagen der Hammer gegen die Faktenapostel, noch ein Satz:
Unterm Denkverbot sanktioniert Denken,
was bloß ist. (Adorno, Negative Dialektik, GS 6:93)
Der
Freund und Mentor Adornos, Max Horkheimer, notierte in den Sechzigerjahren des
vorigen Jahrhunderts (in „Der Mensch in der Wandlung seit der
Jahrhundertwende“):
Mit dem Schrumpfen der Innerlichkeit
entschwindet auch die Freude an der eigenen Entscheidung, an Bildung und
Phantasie. Andere Neigungen und Ziele kennzeichnen die Menschen dieser Zeit:
technische Geschicklichkeit, Geistesgegenwart, Lust an der Herrschaft über
Apparaturen, das Bedürfnis nach Eingliederung, nach Übereinstimmung mit der
großen Mehrheit oder einer als Modell gewählten Gruppe, deren Regel an die
Stelle eigenen Urteils tritt. Anweisungen, Rezepte, Leitbilder treten anstelle
der moralischen Substanz.
Der
Rekurs auf die verbriefte Wahrheit des Berichteten wird nicht nur von vielen
arrivierten Autorinnen und Autoren unternommen, sondern vor allem von
Aspiranten und Neulingen, die Fuß fassen möchten. Von den vielen Anfragen um
Buchveröffentlichungen an unseren Kleinverlag zitiere ich einen Satz einer
Autorin stellvertretend für das allgemeine Missverständnis: „Ich garantiere
einen Wahrheitsgehalt meiner Geschichten von mindestens 90%. Bei den restlichen
10% habe ich meiner Phantasie einen gewissen Freiraum eingeräumt.“ So beteuert
die Lieferantin ihrer WAHREN GESCHICHTE als
Reporter
eigener Eindrücke.
Der
Kritiker und Literat Hans Weigel reflektierte diese Problematik, den
Wechselbezug von gesellschaftlichen Wertsystemen und „eigener“ Lektüre bzw.
„eigener“ Sprache:
„Dass einem, der sich aus Liebe zur
Literatur der Literatur verschrieben hat, das Schreiben schwerfällt und kaum je
Freude bereitet, ist unvermeidlich. Tragisch aber scheint es mir, dass auch das
Lesen fast immer mit professionellen Hypotheken belastet ist, dass sich
Reflexion und Nebenwirkungen dazwischenschalten, dass man nicht unmittelbar
genießen kann, sondern denken muss „Wie ist das gemacht?“, dass man zum
Reporter seiner Eindrücke werden muss.“
„Es geht ja oft so, dass man Dinge, die man
weiß, Erkenntnisse und Erlebnisse für nicht so besonders hält, weil man sie
weiß, weil man sie erlebt hat.“
(Hans Weigel im Beitrag „Marlen
Haushofer“ seines Buches „In Memoriam“ (Graz 1979))
Schriftsteller,
die als Rapporteure sich strikt an „die Wahrheit“ halten, an die empirische
Welt, wozu sie regelgerecht Belege und Berichte liefern, versagen sich die
Freiheit des freien, weil offenen Gedankens, das Hineinfallen in die Fantasie
und in die Sprache. Sie sind zu ängstlich für das Fiktionale, das
Eigen-Kreative und halten sich sklavisch, wie Buchhalter oder Inventurbeamte an
„Tatsachen“, real Geschehenes, obwohl vieles, dessen sie sich erinnern, zwar
auf Realem basiert, in der Erinnerung und ihrer Aktivierung aber unvermeidlich
doch geformt, verändert, gefiltert ist. Der Fetisch Authentizität wirkt,
ähnlich dem der Wahrheit als Scheuklappe, als Brett vor dem Kopf, was aber von
der Mehrheit der Gesellschaft als akkurat, korrekt, genau, passend etc.
anerkannt und belobigt wird.
Auch
peniblen Tagebuchschreibern haftet die spießige Kleinlichkeit an, der
untaugliche Versuch, das Leben in Worten festhalten und berichten zu wollen,
ganz gleich, ob sie Kafka heißen oder Kempowski oder Dostojewski usw. Was sie
maximal festhalten können, sind Eindrücke und Ausdrücke. Das reicht zwar,
entspricht aber nicht der Ideologie und den Vorzeichen des Unterfangens, die in
den Schriften, den Konstrukten, mehr sehen wollen.
Wir
meinen eine berechtigte Praxis bei politischen Tagebüchern festmachen zu
müssen. Hier wandelt sich das minutiöse Dokumentieren zur vermeintlich
wertvollen Historie, obwohl nichts verbürgt, dass die Schreiberin oder der
Schreiber „die“ Wahrheit erkannten oder erfuhren (Anne Frank, Victor Klemperer
etc.).
Aber
zwischen dem Erleben und Erfahren des Lebens im Vollzug, sozusagen als Seiendes
im Sein, und der Konstruktion von Tatsachen, den Fakten, und den Erinnerungen
daran, klafft eine unüberwindbare Kluft. Das Leben wirkt und scheint viel
einfacher, als selbst die Vereinfachung der Sprachfassung sie nachträglich bewirkt.
Sigmund Freud reflektierte die eigentümliche Naivität und die Komplexität des
Historischen in seinem Aufsatz „Zukunft einer Illusion (1927):
Endlich kommt die merkwürdige Tatsache zur Wirkung,
daß die Menschen im allgemeinen ihre Gegenwart wie naiv erleben, ohne deren
Inhalte würdigen zu können; sie müssen erst Distanz zu ihr gewinnen, d. h. die
Gegenwart muß zur Vergangenheit geworden sein, wenn man aus ihr Anhaltspunkte
zur Beurteilung des Zukünftigen gewinnen soll.
Lange
vor Freud formulierte der psychologische, literarische Philosoph Friedrich
Nietzsche Sätze, deren sich gerade Sprachbeflissene erinnern sollten:
Wir stellen ein Wort hin, wo unsre
Unwissenheit anhebt, wo wir nicht mehr weiter sehn können, z. B., das „Ich“,
das Wort „tun“, das Wort „leiden“: – das sind vielleicht Horizontlinien unsrer
Erkenntnis, aber keine „Wahrheiten“.
Keine
Wahrheiten, keine Fakten. Konstruktionen. Die Kurzdenker, die social media
activists kümmert das gar nicht oder wenig. Sie schwelgen in ihrer
oberflächlichen Welt des Quantitativen. Auf der anderen Seite belegen die
Erfolge von Rapporteuren wie Knausgard, dass das freie Denken abgenommen hat,
die Bindung an die vermeintliche Faktizität, das Authentische in dem Maße
zunahm, wie die Werte als Inhalte abhanden kamen und leere Formen, Klischees,
den Rest von Denkvermögen vernebeln in einer nervösen Geschäftigkeit von
kurzsichtigen Nutzendenkern, von Pseudos.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen