Sonntag, 29. Juli 2018

Lese- & Denkabenteuer: The Moviegoer


Haimo L. Handl

Lese- & Denkabenteuer: The Moviegoer


1973 bereiste ich das erste Mal die USA und hielt mich dort gut ein halbes Jahr auf. Im Gepäck hatte ich „Kunst und Revolution“ von Herbert Marcuse (1898-1979); als geistige Vorbereitung hatte ich Noam Chomskys (*1928) Buch „Amerika und die neuen Mandarine“, das 1969 bei Suhrkamp als Paperback herausgekommen war, gelesen. Ebenso das faszinierende Buch von L. L. Matthias (1893-1970), „Die Kehrseite der USA“, das von Rowohlt trotz des sehr kritischen, damals schier unmöglichen antiamerikanischen Tons schon 1964 publiziert worden war. So gewappnet kam ich ins Land der Verheißung.

Dort erwarb ich mir nach genussvollem Stöbern in den vielen, riesigen Buchhandlungen, die es damals vielerorts gab, unter anderem weitere Bücher von Chomsky, oder von George Steiner (*1929) seinen Essay „Notes Towards the Redefinition of Culture“, der eine Art Antwort und Kritik an T. S. Eliots (1888-1965) „Notes towards  the definition of culture“ ist. Dann fand ich in einem der typischen Neuantiquariate von Carlos Castaneda (1925-1998) einige Bände, die sehr in Mode gewesen waren, weil sie mir während meiner Reise oft von Hippies oder „Alternativen“ warm empfohlen wurden. Meine Begeisterung ließ aber nach dem 2. Buch nach und ich verstaute die abgegriffenen Taschenbücher im Rucksack. Ich war kein Esoteriker und wollte keiner werden; das Geschwätz der Bewusstseinserweiterung ödete mich an. Aber ich fand einen Roman, der mich fesselte: „The Moviegoer“ von Walker Percy (1916-1990), einem Südstaatenautor, der seinen medizinischen Beruf aus Krankheitsgründen aufgab, zum Katholizismus konvertierte, Schriftsteller wurde und, ganz faszinierend, Semiotiker. Mit seinem Debut 1961 wurde er berühmt; er erhielt dafür den National Book Award 1962.

Ich überwand meine Skepsis gegen Konvertiten oder religiöse Schriftsteller und las den Roman während meiner Reise. Das Buch begeisterte mich. Später folgten dann neben anderen Romanen von ihm vor allem seine semiotischen Arbeiten, die ich heute noch schätze. Aber zurück zum Moviegoer, der sogar als Lesestoff für High School Kids dient und viele Analysen und Deutungen nach sich zog.

Damals gab es noch kein Internet und ich fand durch die Lektüre raus, was heute Unbedarfte in Sekundenschnelle im Netz finden können. In Wikipedia zum Beispiel:

Plot summary
The Moviegoer tells the story of Binx Bolling, a young stock-broker in postwar New Orleans. The decline of tradition in the Southern United States, the problems of his family and his traumatic experiences in the Korean War have left him alienated from his own life. He day-dreams constantly, has trouble engaging in lasting relationships and finds more meaning and immediacy in movies and books than in his own routine life.

Eine typische Alltagsgeschichte der typischen amerikanischen Alltagsgesellschaft in einem deutenden Blick, der nicht schnöde denunziert oder entlarvt, sondern, fast ganz nebenbei, jedenfalls selbstverständlich, die Gegebenheiten schildert, als ob sie normal wären, was sie ja sind, aber abnormal erscheinen, je nachdem, welche Perspektive der Sicht oder des Denkens man wählt oder gewählt hat.

Percy macht sich über seine Figur, seinen Antihelden oder Verlierer auf die Suche. The search, die Suche bestimmt sein problematisches Leben, dessen Chaos nach Bewältigung verlangt, nach Positionsbezug in den Beziehungen privater und geschäftlicher Art, im Denken und Glauben. Es geht um Entfremdung und Einsamkeit in einer hektisch betriebsamen Welt, die kaum Gelegenheit zum Rückzug, zur Kontemplation gewährt, zum Nachdenken und Klarwerden. Die Filme, die er wie ein Süchtiger im Kino ansieht, bieten ihm nicht nur Flucht, Zeitvertreib, sondern bieten Sinnstiftung und Unmittelbarkeit, wie sie sein reales, echtes Leben nie bieten. Ihm geht es wie den Kindern, die sich in Märchen verlieren und die Phantastik realer einschätzen als ihren wirklichen Alltag, als die krude Konfrontation mit der Realität oder den Realitäten. Geschichten in Büchern, mehr noch aber in Filmen, sind der Stoff, den er sucht, damit die Alltagssuche auszuhalten ist, erträglich wird.

Es war dieser Mix aus Alltäglichkeit, Beiläufigkeit und tieferes Nachsinnen und Nachdenken eines philosophisch geschulten Romanciers, der zudem die Zeichentheorie kannte, die mich gefangen nahm. Der Reiz und Effekt steigerte sich noch durch meine Reise, die wie eine Bestätigung des American way of life von der unteren Warte her betrachtet sich wahrnehmend, deutend erweiterte. Gewisse Abschnitte und Ereignisse gewannen dadurch eine zusätzliche Bedeutung, als ob eine Metaebene wahrnehmbar geworden wäre, reale Eindrücke mit vorgestellten mischte zu einem dichten Gewebe komplexer Realitätsausschnitte, die mir nachträglich die Lektüre aufwerteten.

Die trockenen Befunde des Linguisten Chomsky in seinen politischen Analysen wurden irgendwie belebt und anders beleuchtet. Chomsky war auch mit George Steiner im Disput. Steiners Kritik an Chomsky Generativer Grammatik leitete sozusagen über zu semiotischen Arbeiten von Percy, die ich in diversen Journalen fand (seine Publikation „The Message in the Bottle“ erschien erst 1975), womit sich das Textgewebe noch stärker verdichtete. An dieser Verdichtung hat nicht zuletzt ein Buch Anteil, das ich damals in einem Second Hand Bookshop erwarb und das ich immer noch, obwohl ziemlich mitgenommen und zerfleddert, in meiner Bibliothek halte: „Language in Thought and Action“ von S. I. Hayakawa (1906-1992). Später, als ich in Virginia Tech studierte, lernte ich, dass dieses Buch als Textbuch sehr beliebt war. Hayakawa geht anscheinend spielerisch leicht, aber gedanklich solide fundiert, auf die Probleme der Sprache und der Zeichen ein, wofür sie stehen, was sie bedeuten, wie wir mit ihnen umgehen. Ich merkte, dass Hayakawa wie die wissenschaftliche Begleitung der Everydayness von Percys Roman genommen werden kann, und so auf zwei Ebenen, der romanhaften und der wissenschaftlichen, die Ebenen, nein, die Räume, sich mengen oder abgrenzen und erweitern.

Gibt es eine Bedeutung, gibt es einen Sinn jenseits vom Sinn des Alltagslebens? Kann man mit der Realität, in der man lebt, „zufrieden sein“? Warum sind so viele, wenn nicht fast alle, unzufrieden in glücklichen Umständen, zufrieden in turbulenten, problematischen, düsteren? Warum ist mir die Routine meines Lebens unangenehm, auf den Nerv gehend, während Unvorhergesehenes auch nicht die Lösung darstellt? So und ähnlich lauten die Fragen von Binx Bolling. Es gilt, den Alltag, die Routine zu überwinden. Auf der Suche sein, alert sein, handlungsbereit. „The search is what anyone would undertake if he were not sunk in the everydayness of his own life.“ Man muss raus dem den Zirkel, aus dem Hamsterrad, aus dem verplanten Programm. Man muss werden, der man ist.

In dem Versprochenen Land (The Promised Land), wo es keine Individualität nach abendländischer Vorstellung gibt, sondern Personen, die als Eingepasste meinen, sie seien Individualisten, klingt solches Fragen beunruhigend. Etwas stimmt nicht im System, wenn man so fragt. Der Normale, der Funktionierende, der Gute, hat, was er braucht, weil er ist, was er sein soll. Nur Abweichler, Kranke, Schwache oder Bösartige scheren aus, zweifeln, stören oder leisten Widerstand. Die amerikanische Gesellschaft ist eine betreute, besonders nach dem erfolgreichen, gewinnbringenden 2. Weltkrieg hat sich die Konformität dieser Konsumproduzentengesellschaft erstarkt. Die Dystopie von Aldous Huxley (1894-1963), „Brave New World“ von 1932 hat auch ohne die nachgelieferte Kommentierung von Huxley in seinem 1958 erschienen Büchlein „Brave New World Revisited“ erschreckende Aussagekraft. Im Unterschied zu Huxley und seiner Dystopie liefert Percy einen Roman, den viele oberflächlich gesehen als Unterhaltungsstoff genießen, einige aber doch als Kommentar und Illustration des typischen American way of life, wie er seine Protagonisten aushöhlt, unterminiert, schwächt, auffrisst, weil die American values eigentlich keinen Individualismus gestatten und fördern, sondern einen Kollektivismus aggressiver, egoistischer Qualität.

„In the evenings I usually watch television or go to the movies. Week-ends I often spend on the Gulf Coast. Our neighborhood theater in Gentilly has permanent lettering on the front of the marquee reading: Where Happiness Costs Lo Little. The fact is I am quite happy in a movie, even a bad movie.”

Als ich 1973 tausende von Meilen mit dem Bus übers Land zog, notierte ich mir typische Sätze, wie ihn Percy seine Romanfigur erinnern lässt, „Where Happiness Costs So Little“, „We try harder“, „Love it or leave it“. Ich lernte, dass ich im Land der Freiheit nicht viel Wahl habe: entweder zu lieben, also anzunehmen, oder zu gehen, abzuhauen, bevor sie mich hauen. Mit „We try harder“ warben Dienstleister, seien es Tankstellen oder Werkstätten oder Reinigungen. In der gefeierten Popmusik war es der Aufschrei der Protestierenden, der Zukurzgekommenen, jener starken Frauen, die ihre Männer Schlappschwänze und Weicheier fanden, und deren Aufforderung „Try - Just a little bit harder“ (Janis Joplin, 1969) als Song frenetisch beklatsch wurde, in der Realität der Machos aber nichts Veränderndes bewirkte.

„But things have suddenly changed. My peaceful existence in Gentilly has been complicated. This morning, for the first time in years, there occurred to me the posdsibility of a search.”

Es war die Störung der Routine, eine Komplikation.

„As I watched, there awoke in me an immense curiosity. I was onto something. I vowed that if I ever got out of this fix, I would pursue the search. Naturally, as soon as I recovered and got home, I forgot all about it.”

Der Geist war willig, aber das Fleisch schwach. Die Gewohnheit obsiegt. Vergessen entlastet.

„This morning, for example, I felt as if I had come to myself on a strange island. And what does such a castaway do? Why, he pokes around the neighborhood and he doesn’t miss a trick.
To become aware of the possibility of the search is to be onto something. Not to be onto something is to be in despair.
The movies are onto the search, but they screw it up. The search always ends in despair.”

Um die Routine zu unterbrechen, muss man Halt machen, innehalten, reflektieren, neu und anders handeln. Man muss man selbst sein, aber dieses Selbst muss anderer Art sein als das bisherige, das ja auch ein Selbst war, allerdings ein geformtes, eingepasstes, angepasstes. Es gibt jedoch kein ungeformtes Selbst. Nichts ist formlos. Jeder ist sich der nächste, aber niemand ist isoliert alleine, alle sind mit allen verbunden.

„’What do you do with yourself out there in Gentilly?‘ People often ask me what is wrong with the world and also what I do in Gentilly, and I always try to give an answer. The former is an interesting question. I have noticed, however, that no one really wants to listen to an answer.”

Während der Reise erfuhr ich dieses Phänomen nicht so deutlich. Doch als ich einige Jahre später am Virginia Tech studierte, fiel es mir drastisch auf. Ein paar Ausländer, darunter auch ich, antworteten oft auf die stereotypen Fragen nach dem Befinden mit negativen Antworten oder solchen, die für gewöhnlich, weil ungewohnt und unerwartet, als negativ bewertet wurden, was Befremden und Ärger auslöste. Gewohnt war man, dass es allen gut geht und man begeistert ist über das schöne Land der unbeschränkten Möglichkeiten ist. Abweichungen wurden wie Fehler, Abnormitäten, Krankheiten bedauert oder verurteilt. Ich lernte, dass man in den USA nicht arm sein sollte, nicht am Rande leben, und auf jeden Fall nie negativ sich zu äußern, außer man ist stark und verkraftet den Ärger, die Zurückweisung. Anders als die Beobachtung Bollings in Percys Roman wurde zumindest auf Reizworte gehört, und die lösten Erstaunen und Ärger aus.

„She refers to a phenomenon of moviegoing which I have called certification. Nowadays when a person lives somewhere, in a neighborhood, the place is not certified for him. >More than likely he will live there sadly and the emptiness which is inside him will expand until it evacuates the entire neighborhood. But if he sees a movie which shows his very neighborhood, it become possible for him to live, for a time at least, as a person who is Somewhere and not Anywhere.”

Die Suche und die Sicherheit. Die Bestätigung. Wie ein Kleidungsstück, das durch die eingenähte Marke seine Adelung erfährt. Die Umgebung ist nicht irgendeine, sondern eine, die Millionen sahen und sehen und dadurch bestätigen. Es ist nicht nur eine präsente, präsentierte, sondern repräsentierte. Er hätte sich an „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (Siebenteiliges Werk von Marcel Proust (1871-1922), erschienen zwischen 1913 und 1927, einige Bände somit posthum, der epochale Roman der allegorischen Wahrheitssuche) erinnern können, wenn er so eine Erinnerung gespeichert gehabt hätte. Hatte er aber nicht. Und für einen Amerikaner, einen Moviegoer, war diese Art Suche doch zu entfernt, zu blasiert, zu fremd. Dann lieber im Kino und in Suburbia, daheim, im bestätigten Feld, im Garten Eden.

Proust hatte geschrieben:

„Es gibt vielleicht keine Tage unserer Kindheit, die wir so voll erlebt haben wie jene, die wir glauben verstreichen zu lassen, ohne sie zu erleben, jene nämlich, die wir mit einem Lieblingsbuch verbracht haben.“

Das war schon näher bei ihm. Das entsprach Bollings Wesen. Er war nur etwas moderner als der zerbrechliche Franzose. Für ihn Waren movies das, was für Proust die Bücher und ihre Lektüre bildeten. Hinsichtlich des Erlebens hätten sie sich treffen können und sicher verstanden. Die Geschichte, The Search, war das Wichtigste, das Überragende, das übers Gewöhnliche Hinausreichende. Kunst war Leben besonderer Art. Die Verwandtschaft von Prousts Sicht und der von Percy in seiner Figur des Blinx Bolling war überdeutlich. Proust:

„Dann war die letzte Seite gelesen, das Buch war beendet. Ich musste den eiligen Lauf der Augen anhalten und den der ihnen lautlos folgenden Stimme, der nur abbrach, um in einem Seufzer Atem zu schöpfen.“

Das entsprach Bollings Erfahrungen, wenn er aus dem heimeligen, dunklen Kinosaal in das grelle Licht trat, vom Stadtlärm umfangen wurde und er einerseits die Nachwirkungen der Bilder, der Geschichte, noch auskosten wollte, andererseits nicht zu unachtsam am Straßenrand sich bewegen durfte, um nicht Opfer einer Kollision zu werden.

„Today I read Arabia Deserta enclosed in a Standard & Poor binder. … There was a time when this was the last book on earth I’d have chosen to read. Until recent years, I read only ‘fundamental’ books, that is, key books on key subjects. …
There I lay in my hotel room with my search over yet still obliged to draw one breath and then the next. But now I have undertaken a different kind of search, a horizontal sear. As a consequence, what takes place in my room is less important. What is important is what I shall find when I leave my room and wander in the neighborhood. Before, I wandered as a diversion. Now I wander seriously and sit and read as a diversion.”

In einer behüteten, beaufsichtigten, betreuten Welt lebt man in systematischer Sicherheit. Sicherheit liegt gegenüber Freiheit. Die Freiheit in Amerika ist eine vermeintliche, weil die Sicherheit überall über allem Vorrang genießt. Deshalb enden so viele Aussteiger im Suizid, weil sie das Ausstiegsmaß nicht richtig treffen, weil ihnen das Innehalten nicht gelingt, und nicht der Weg zurück vom Trip. Der Wiedereintritt, the re-entry, wie Percy später in seinem Buch „Lost in the Cosmos: The Last Self-Help Book“ ausführte, funktioniert nicht mehr. Das hatte sich in den Konsumhochzeiten entwickelt und wuchs sich in den Folgejahren dramatisch aus. Es war nicht nur ein Problem der Drogen, sondern eines der Mentalität, des geistigen Lebens, der Unselbständigkeit in „a pampered world“.

„Have you noticed that only in time of illness or disaster or death are people real?“

War das der Grund für die allgegenwärtige Aggression, die hohe Kriminalität, die umfassende Grobheit, den Drogenkonsum? Genügten die viele Kriegseinsätze neben dem Sport nicht (mehr) zur Kanalisierung negativer Energie, brauchte es den Alltagskrieg daheim? Konnten die Filme keinen symbolischen Ersatz mehr liefern, weil die Abstumpfung schon zu stark zugenommen hatte, und die Mehrheiten nach mehr verlangten, nach reality tv, real life, das Echte, das Andere, das Außergewöhnliche, weil das Gewöhnliche zum Alptraum geworden war?

Percy lieferte ein Panorama, einen Raster. Er enthielt sich täuschender Antworten. Auf meinen Reisen und während des Studiums lernte ich in den Vereinigten Staaten die Seiten und Kehrseiten kennen, blickte in den Abyssus einer gewalttätigen, unbefriedigten, im Kern unreifen Gesellschaft, die trotz höchster technischer Meisterleistungen kulturell depraviert war, böse auf die eigentliche Erfüllung lauerte: Krieg. Nicht nur im Kino.


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