Haimo L. Handl
Lese- & Denkabenteuer: The
Moviegoer
1973 bereiste ich das erste Mal die USA und hielt mich dort
gut ein halbes Jahr auf. Im Gepäck hatte ich „Kunst und Revolution“ von Herbert
Marcuse (1898-1979); als geistige Vorbereitung hatte ich Noam Chomskys (*1928) Buch
„Amerika und die neuen Mandarine“, das 1969 bei Suhrkamp als Paperback
herausgekommen war, gelesen. Ebenso das faszinierende Buch von L. L. Matthias (1893-1970),
„Die Kehrseite der USA“, das von Rowohlt trotz des sehr kritischen, damals
schier unmöglichen antiamerikanischen Tons schon 1964 publiziert worden war. So
gewappnet kam ich ins Land der Verheißung.
Dort erwarb ich mir nach genussvollem Stöbern in den vielen,
riesigen Buchhandlungen, die es damals vielerorts gab, unter anderem weitere
Bücher von Chomsky, oder von George Steiner (*1929) seinen Essay „Notes Towards
the Redefinition of Culture“, der eine Art Antwort und Kritik an T. S. Eliots (1888-1965)
„Notes towards the definition of
culture“ ist. Dann fand ich in einem der typischen Neuantiquariate von Carlos
Castaneda (1925-1998) einige Bände, die sehr in Mode gewesen waren, weil sie
mir während meiner Reise oft von Hippies oder „Alternativen“ warm empfohlen
wurden. Meine Begeisterung ließ aber nach dem 2. Buch nach und ich verstaute
die abgegriffenen Taschenbücher im Rucksack. Ich war kein Esoteriker und wollte
keiner werden; das Geschwätz der Bewusstseinserweiterung ödete mich an. Aber
ich fand einen Roman, der mich fesselte: „The Moviegoer“ von Walker Percy
(1916-1990), einem Südstaatenautor, der seinen medizinischen Beruf aus
Krankheitsgründen aufgab, zum Katholizismus konvertierte, Schriftsteller wurde
und, ganz faszinierend, Semiotiker. Mit seinem Debut 1961 wurde er berühmt; er erhielt
dafür den National Book Award 1962.
Ich überwand meine Skepsis gegen Konvertiten oder religiöse
Schriftsteller und las den Roman während meiner Reise. Das Buch begeisterte
mich. Später folgten dann neben anderen Romanen von ihm vor allem seine
semiotischen Arbeiten, die ich heute noch schätze. Aber zurück zum Moviegoer,
der sogar als Lesestoff für High School Kids dient und viele Analysen und
Deutungen nach sich zog.
Damals gab es noch kein Internet und ich fand durch die
Lektüre raus, was heute Unbedarfte in Sekundenschnelle im Netz finden können.
In Wikipedia zum Beispiel:
Plot summary
The Moviegoer tells the story of Binx Bolling, a young
stock-broker in postwar New Orleans. The decline of tradition in the Southern
United States, the problems of his family and his traumatic experiences in the
Korean War have left him alienated from his own life. He day-dreams constantly,
has trouble engaging in lasting relationships and finds more meaning and
immediacy in movies and books than in his own routine life.
Eine typische Alltagsgeschichte der typischen amerikanischen
Alltagsgesellschaft in einem deutenden Blick, der nicht schnöde denunziert oder
entlarvt, sondern, fast ganz nebenbei, jedenfalls selbstverständlich, die
Gegebenheiten schildert, als ob sie normal wären, was sie ja sind, aber
abnormal erscheinen, je nachdem, welche Perspektive der Sicht oder des Denkens
man wählt oder gewählt hat.
Percy macht sich über seine Figur, seinen Antihelden oder
Verlierer auf die Suche. The search, die Suche bestimmt sein problematisches
Leben, dessen Chaos nach Bewältigung verlangt, nach Positionsbezug in den
Beziehungen privater und geschäftlicher Art, im Denken und Glauben. Es geht um
Entfremdung und Einsamkeit in einer hektisch betriebsamen Welt, die kaum
Gelegenheit zum Rückzug, zur Kontemplation gewährt, zum Nachdenken und
Klarwerden. Die Filme, die er wie ein Süchtiger im Kino ansieht, bieten ihm
nicht nur Flucht, Zeitvertreib, sondern bieten Sinnstiftung und
Unmittelbarkeit, wie sie sein reales, echtes Leben nie bieten. Ihm geht es wie
den Kindern, die sich in Märchen verlieren und die Phantastik realer
einschätzen als ihren wirklichen Alltag, als die krude Konfrontation mit der
Realität oder den Realitäten. Geschichten in Büchern, mehr noch aber in Filmen,
sind der Stoff, den er sucht, damit die Alltagssuche auszuhalten ist,
erträglich wird.
Es war dieser Mix aus Alltäglichkeit, Beiläufigkeit und
tieferes Nachsinnen und Nachdenken eines philosophisch geschulten Romanciers,
der zudem die Zeichentheorie kannte, die mich gefangen nahm. Der Reiz und
Effekt steigerte sich noch durch meine Reise, die wie eine Bestätigung des
American way of life von der unteren Warte her betrachtet sich wahrnehmend,
deutend erweiterte. Gewisse Abschnitte und Ereignisse gewannen dadurch eine
zusätzliche Bedeutung, als ob eine Metaebene wahrnehmbar geworden wäre, reale
Eindrücke mit vorgestellten mischte zu einem dichten Gewebe komplexer
Realitätsausschnitte, die mir nachträglich die Lektüre aufwerteten.
Die trockenen Befunde des Linguisten Chomsky in seinen
politischen Analysen wurden irgendwie belebt und anders beleuchtet. Chomsky war
auch mit George Steiner im Disput. Steiners Kritik an Chomsky Generativer
Grammatik leitete sozusagen über zu semiotischen Arbeiten von Percy, die ich in
diversen Journalen fand (seine Publikation „The Message in the Bottle“ erschien
erst 1975), womit sich das Textgewebe noch stärker verdichtete. An dieser
Verdichtung hat nicht zuletzt ein Buch Anteil, das ich damals in einem Second
Hand Bookshop erwarb und das ich immer noch, obwohl ziemlich mitgenommen und
zerfleddert, in meiner Bibliothek halte: „Language in Thought and Action“ von
S. I. Hayakawa (1906-1992). Später, als ich in Virginia Tech studierte, lernte
ich, dass dieses Buch als Textbuch sehr beliebt war. Hayakawa geht anscheinend
spielerisch leicht, aber gedanklich solide fundiert, auf die Probleme der Sprache
und der Zeichen ein, wofür sie stehen, was sie bedeuten, wie wir mit ihnen
umgehen. Ich merkte, dass Hayakawa wie die wissenschaftliche Begleitung der
Everydayness von Percys Roman genommen werden kann, und so auf zwei Ebenen, der
romanhaften und der wissenschaftlichen, die Ebenen, nein, die Räume, sich
mengen oder abgrenzen und erweitern.
Gibt es eine Bedeutung, gibt es einen Sinn jenseits vom Sinn
des Alltagslebens? Kann man mit der Realität, in der man lebt, „zufrieden
sein“? Warum sind so viele, wenn nicht fast alle, unzufrieden in glücklichen
Umständen, zufrieden in turbulenten, problematischen, düsteren? Warum ist mir
die Routine meines Lebens unangenehm, auf den Nerv gehend, während
Unvorhergesehenes auch nicht die Lösung darstellt? So und ähnlich lauten die
Fragen von Binx Bolling. Es gilt, den Alltag, die Routine zu überwinden. Auf der Suche sein, alert sein,
handlungsbereit. „The search is what anyone would undertake if he were not sunk
in the everydayness of his own life.“ Man muss raus dem den Zirkel, aus
dem Hamsterrad, aus dem verplanten Programm. Man muss werden, der man ist.
In dem Versprochenen Land (The Promised Land), wo es keine
Individualität nach abendländischer Vorstellung gibt, sondern Personen, die als
Eingepasste meinen, sie seien Individualisten, klingt solches Fragen
beunruhigend. Etwas stimmt nicht im System, wenn man so fragt. Der Normale, der
Funktionierende, der Gute, hat, was er braucht, weil er ist, was er sein soll.
Nur Abweichler, Kranke, Schwache oder Bösartige scheren aus, zweifeln, stören
oder leisten Widerstand. Die amerikanische Gesellschaft ist eine betreute,
besonders nach dem erfolgreichen, gewinnbringenden 2. Weltkrieg hat sich die
Konformität dieser Konsumproduzentengesellschaft erstarkt. Die Dystopie von
Aldous Huxley (1894-1963), „Brave New World“ von 1932 hat auch ohne die
nachgelieferte Kommentierung von Huxley in seinem 1958 erschienen Büchlein „Brave
New World Revisited“ erschreckende Aussagekraft. Im Unterschied zu Huxley und
seiner Dystopie liefert Percy einen Roman, den viele oberflächlich gesehen als
Unterhaltungsstoff genießen, einige aber doch als Kommentar und Illustration
des typischen American way of life, wie er seine Protagonisten aushöhlt,
unterminiert, schwächt, auffrisst, weil die American values eigentlich keinen
Individualismus gestatten und fördern, sondern einen Kollektivismus
aggressiver, egoistischer Qualität.
„In the evenings I usually watch television or
go to the movies. Week-ends I often spend on the Gulf Coast. Our neighborhood
theater in Gentilly has permanent lettering on the front of the marquee
reading: Where Happiness Costs Lo Little. The fact is I am quite happy in a
movie, even a bad movie.”
Als ich
1973 tausende von Meilen mit dem Bus übers Land zog, notierte ich mir typische
Sätze, wie ihn Percy seine Romanfigur erinnern lässt, „Where Happiness Costs So
Little“, „We try harder“, „Love it or leave it“. Ich lernte, dass ich im
Land der Freiheit nicht viel Wahl habe: entweder zu lieben, also anzunehmen,
oder zu gehen, abzuhauen, bevor sie mich hauen. Mit „We try harder“ warben
Dienstleister, seien es Tankstellen oder Werkstätten oder Reinigungen. In der
gefeierten Popmusik war es der Aufschrei der Protestierenden, der
Zukurzgekommenen, jener starken Frauen, die ihre Männer Schlappschwänze und
Weicheier fanden, und deren Aufforderung „Try - Just a little bit harder“
(Janis Joplin, 1969) als Song frenetisch beklatsch wurde, in der Realität der
Machos aber nichts Veränderndes bewirkte.
„But things have suddenly changed. My peaceful
existence in Gentilly has been complicated. This morning, for the first time in
years, there occurred to me the posdsibility of a search.”
Es war die Störung der Routine, eine Komplikation.
„As I watched, there awoke in me an immense
curiosity. I was onto something. I vowed that if I ever got out of this fix, I
would pursue the search. Naturally, as soon as I recovered and got home, I
forgot all about it.”
Der Geist war willig, aber das Fleisch schwach. Die
Gewohnheit obsiegt. Vergessen entlastet.
„This morning, for example, I felt as if I had
come to myself on a strange island. And what does such a castaway do? Why, he
pokes around the neighborhood and he doesn’t miss a trick.
To become aware of the possibility of the
search is to be onto something. Not to be onto something is to be in despair.
The movies are onto the search, but they screw
it up. The search always ends in despair.”
Um die Routine zu unterbrechen, muss man Halt machen,
innehalten, reflektieren, neu und anders handeln. Man muss man selbst sein,
aber dieses Selbst muss anderer Art sein als das bisherige, das ja auch ein
Selbst war, allerdings ein geformtes, eingepasstes, angepasstes. Es gibt jedoch
kein ungeformtes Selbst. Nichts ist formlos. Jeder ist sich der nächste, aber
niemand ist isoliert alleine, alle sind mit allen verbunden.
„’What do you do with yourself out there in
Gentilly?‘ People often ask me what is wrong with the world and also what I do
in Gentilly, and I always try to give an answer. The former is an interesting
question. I have noticed, however, that no one really wants to listen to an
answer.”
Während der Reise erfuhr ich dieses Phänomen nicht so
deutlich. Doch als ich einige Jahre später am Virginia Tech studierte, fiel es
mir drastisch auf. Ein paar Ausländer, darunter auch ich, antworteten oft auf
die stereotypen Fragen nach dem Befinden mit negativen Antworten oder solchen,
die für gewöhnlich, weil ungewohnt und unerwartet, als negativ bewertet wurden,
was Befremden und Ärger auslöste. Gewohnt war man, dass es allen gut geht und
man begeistert ist über das schöne Land der unbeschränkten Möglichkeiten ist.
Abweichungen wurden wie Fehler, Abnormitäten, Krankheiten bedauert oder
verurteilt. Ich lernte, dass man in den USA nicht arm sein sollte, nicht am
Rande leben, und auf jeden Fall nie negativ sich zu äußern, außer man ist stark
und verkraftet den Ärger, die Zurückweisung. Anders als die Beobachtung Bollings
in Percys Roman wurde zumindest auf Reizworte gehört, und die lösten Erstaunen
und Ärger aus.
„She refers to a phenomenon of moviegoing which
I have called certification. Nowadays when a person lives somewhere, in a
neighborhood, the place is not certified for him. >More than likely he will
live there sadly and the emptiness which is inside him will expand until it
evacuates the entire neighborhood. But if he sees a movie which shows his very
neighborhood, it become possible for him to live, for a time at least, as a
person who is Somewhere and not Anywhere.”
Die Suche und die Sicherheit. Die Bestätigung. Wie ein
Kleidungsstück, das durch die eingenähte Marke seine Adelung erfährt. Die
Umgebung ist nicht irgendeine, sondern eine, die Millionen sahen und sehen und
dadurch bestätigen. Es ist nicht nur eine präsente, präsentierte, sondern
repräsentierte. Er hätte sich an „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“
(Siebenteiliges Werk von Marcel Proust (1871-1922), erschienen zwischen 1913
und 1927, einige Bände somit posthum, der epochale Roman der allegorischen
Wahrheitssuche) erinnern können, wenn er so eine Erinnerung gespeichert gehabt
hätte. Hatte er aber nicht. Und für einen Amerikaner, einen Moviegoer, war
diese Art Suche doch zu entfernt, zu blasiert, zu fremd. Dann lieber im Kino
und in Suburbia, daheim, im bestätigten Feld, im Garten Eden.
Proust hatte geschrieben:
„Es gibt vielleicht keine Tage
unserer Kindheit, die wir so voll erlebt haben wie jene, die wir glauben
verstreichen zu lassen, ohne sie zu erleben, jene nämlich, die wir mit einem
Lieblingsbuch verbracht haben.“
Das war schon näher bei ihm. Das entsprach Bollings Wesen.
Er war nur etwas moderner als der zerbrechliche Franzose. Für ihn Waren movies
das, was für Proust die Bücher und ihre Lektüre bildeten. Hinsichtlich des
Erlebens hätten sie sich treffen können und sicher verstanden. Die Geschichte,
The Search, war das Wichtigste, das Überragende, das übers Gewöhnliche
Hinausreichende. Kunst war Leben besonderer Art. Die Verwandtschaft von Prousts
Sicht und der von Percy in seiner Figur des Blinx Bolling war überdeutlich.
Proust:
„Dann war die letzte Seite
gelesen, das Buch war beendet. Ich musste den eiligen Lauf der Augen anhalten
und den der ihnen lautlos folgenden Stimme, der nur abbrach, um in einem
Seufzer Atem zu schöpfen.“
Das entsprach Bollings Erfahrungen, wenn er aus dem
heimeligen, dunklen Kinosaal in das grelle Licht trat, vom Stadtlärm umfangen
wurde und er einerseits die Nachwirkungen der Bilder, der Geschichte, noch auskosten
wollte, andererseits nicht zu unachtsam am Straßenrand sich bewegen durfte, um
nicht Opfer einer Kollision zu werden.
„Today I read Arabia Deserta enclosed in
a Standard & Poor binder. … There was a time when this was the last book on
earth I’d have chosen to read. Until recent years, I read only ‘fundamental’
books, that is, key books on key subjects. …
There I lay in my hotel room with my search
over yet still obliged to draw one breath and then the next. But now I have
undertaken a different kind of search, a horizontal sear. As a consequence,
what takes place in my room is less important. What is important is what I
shall find when I leave my room and wander in the neighborhood. Before, I
wandered as a diversion. Now I wander seriously and sit and read as a
diversion.”
In einer behüteten, beaufsichtigten, betreuten Welt lebt man
in systematischer Sicherheit. Sicherheit liegt gegenüber Freiheit. Die Freiheit
in Amerika ist eine vermeintliche, weil die Sicherheit überall über allem
Vorrang genießt. Deshalb enden so viele Aussteiger im Suizid, weil sie das
Ausstiegsmaß nicht richtig treffen, weil ihnen das Innehalten nicht gelingt,
und nicht der Weg zurück vom Trip. Der Wiedereintritt, the re-entry, wie Percy
später in seinem Buch „Lost in
the Cosmos: The
Last Self-Help Book“ ausführte, funktioniert nicht mehr. Das hatte sich in den
Konsumhochzeiten entwickelt und wuchs sich in den Folgejahren dramatisch aus.
Es war nicht nur ein Problem der Drogen, sondern eines der Mentalität, des
geistigen Lebens, der Unselbständigkeit in „a pampered world“.
„Have you noticed that only in time of illness
or disaster or death are people real?“
War das der Grund für die allgegenwärtige Aggression, die
hohe Kriminalität, die umfassende Grobheit, den Drogenkonsum? Genügten die
viele Kriegseinsätze neben dem Sport nicht (mehr) zur Kanalisierung negativer
Energie, brauchte es den Alltagskrieg daheim? Konnten die Filme keinen
symbolischen Ersatz mehr liefern, weil die Abstumpfung schon zu stark zugenommen
hatte, und die Mehrheiten nach mehr verlangten, nach reality tv, real life, das
Echte, das Andere, das Außergewöhnliche, weil das Gewöhnliche zum Alptraum
geworden war?
Percy lieferte ein Panorama, einen Raster. Er enthielt sich
täuschender Antworten. Auf meinen Reisen und während des Studiums lernte ich in
den Vereinigten Staaten die Seiten und Kehrseiten kennen, blickte in den
Abyssus einer gewalttätigen, unbefriedigten, im Kern unreifen Gesellschaft, die
trotz höchster technischer Meisterleistungen kulturell depraviert war, böse auf
die eigentliche Erfüllung lauerte: Krieg. Nicht nur im Kino.
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