Haimo L. Handl
Wertverständnis hier &
dort
Wir leben in einer Überflussgesellschaft, in der auch die
Benachteiligten oder Ärmeren über staatliche und private Einrichtungen ihr
Auskommen zu sichern vermögen, wenn sie nicht gerade, durch das tägliche
Fernsehen verführt, nur im Dauerkonsum das Lebensglück sehen und dessen
Nichterfüllung als Strafe oder extreme Aussonderung definieren. Es gibt
allerdings Härtefälle, aber die sind in jeder Gesellschaft auffindbar, da keine
paradiesische Zustände bietet.
Für AMS-Betreute gibt es einen Kulturpass, damit sie,
Interesse kultürlich vorausgesetzt, am kulturellen Leben teilnehmen können. Für
Migrantinnen gibt es geförderte Sprachkurse und etliche Organisationen bieten,
wie ich weiß, Gratisunterricht an.
Es gibt aber viele, die diese Einrichtungen nicht nutzen
wollen. Es gibt viele Eltern, die ihre Kinder nicht schulen wollen. Es gibt,
leider, nicht nur Bildungsferne, sondern, viel schlimmer, Bildungsfeindliche,
und ihre Zahl wächst, unterstützt durch eine ignorante Falschtoleranz von
Gutmenschen, die in diesen Leuten nur Opfer sehen, den Spracherwerb als
Belastung und Zumutung denunzieren, und im Kern eigentlich keine erfolgreiche
Integration wünschen.
Dafür werden gleichzeitig aber „Oberschichtler“ oder
bürgerliche Familien kritisiert, nicht nur, weil sie vermögend oder vermögender
sind, sondern auch kultivierter und gebildeter. Anstatt die Depravierten über
eine soziale Integration im Bildungsniveau zu heben, unternehmen diese
GleichheitsapostelInnen Bemühungen der Schwächung der Bessergestellten, der
Begabten und Talentierten, weil es nach ihrer kruden Gleichheitsfimmelei keine
Hochbegabten, keine Talentierten geben darf und, da die Orientierung an den
Erfolgreicheren für die anderen unrealistisch ist, eine Ausrichtung aufs untere
Niveau zu erfolgen habe. Das zeigt sich im verdünnten Bildungsprogramm und den
fatalen Einübungen in EinfachDeutsch.
Doch hoher Bildungsstandard, so verrufen er für die Meute
der Unteren auch ist, bildet keine Garantie dass die Sprösslinge ebenfalls
erfolgreich lernen, studieren und beruflich Karriere machen. Sich aufzuregen,
wenn ein Elternhaus eine positive Umgebung für seine Kinder schafft, nur, weil
viele Familien das nie gelernt haben, geht am Problem völlig vorbei. Geld ist
nicht der primäre Faktor für Kultivierung und Bildung. Aber die Kläffer wollen
nicht zulassen, dass es auf die Einzelne ankomme, auch auf das Kind und die Eltern. In ihren Augen ist es
die Gesellschaft, die determiniert, voranbringt oder verhindert. Wie dennoch
Außenseiter erfolgreich höhere Bildungsgrade erreichen, wird dann nicht erklärt
oder nur als Ausnahme gesehen. Es scheint, als ob diese negativen, misanthropen
Kräfte alles nivellieren wollen: wenn ein höheren Fortkommen nicht für ALLE
möglich ist, dann runter in den Dreck mit ALLEN durch Zerstörung der
Wertestruktur (Kultur) und der Bildungseinrichtungen bzw. Sozialeinrichtungen
und Schulen oder Kindergärten im Besonderen (finanziell ausbluten).
Nach dem Ende des 2. Weltkriegs war in Deutschland für ganz
kurze Zeit der Schock so tiefsitzend, dass man hoffen konnte, es werde
politisch entsprechend zukunftsorientiert verantwortlich gehandelt. Aber sofort
ertönten die Stimmen der falschen Vernünftigkeit: um die staatlichen Aufgaben
zu erfüllen, bedürfen wir leider, leider der Experten, auch wenn die meisten
davon Nazis waren oder sind. Der Aufbau oder, wie es in Österreich vor allem
hieß, der Wiederaufbau brauchte die Nazis. In Kürze war der radikale
republikanische, demokratische Anflug verflogen und die alten Kräfte, die im
Barbarenkrieg nicht umgekommen waren, viele sogar als Kriegsgewinnler
ausstiegen, übernahmen die Lenkung und Organisation des neuen Deutschlande bzw.
von Österreich, wovon einige Jahre später ein verkappter Faschist, Jörg Haider,
zynisch als „Missgeburt“ sprach.
In dieser Missgeburt sind nun die faschistischen Kräfte erstarkt und bilden über das türkise Bubi den Koalitionspartner. Die ÖVP packelt mit der faschistischen Partei (FPÖ – man lernt es, wenn man nicht EFFPÖ-Ö stammelt, sondern den Bedeutungskern anzeigt FAPAÖ oder FAPÖ), reduziert Bildung und Sozialversorgung bei gleichzeitigen Steuergeschenken an die Unternehmer und einer gesetzlich erlaubten 60-Stundewoche, die die Weiterbildung am Abend für Tausende erschweren wird, ganz unabhängig von dem Stress für die Pendler, die nach 12 Stunden Hackeln noch stundenlange Heimfahrten zu bewältigen haben. Aber so sieht die neue Politik aus, die österreichische NEP (Новая экономическая политика).
In dieser Missgeburt sind nun die faschistischen Kräfte erstarkt und bilden über das türkise Bubi den Koalitionspartner. Die ÖVP packelt mit der faschistischen Partei (FPÖ – man lernt es, wenn man nicht EFFPÖ-Ö stammelt, sondern den Bedeutungskern anzeigt FAPAÖ oder FAPÖ), reduziert Bildung und Sozialversorgung bei gleichzeitigen Steuergeschenken an die Unternehmer und einer gesetzlich erlaubten 60-Stundewoche, die die Weiterbildung am Abend für Tausende erschweren wird, ganz unabhängig von dem Stress für die Pendler, die nach 12 Stunden Hackeln noch stundenlange Heimfahrten zu bewältigen haben. Aber so sieht die neue Politik aus, die österreichische NEP (Новая экономическая политика).
Aber es bleibt ja nicht bei der Ökonomie,
der unterstützen besseren Ausbeutung durch die Unternehmer und den Reduktionen
im Sozialbereich. Auch in der Bildung und Kultur wird aufgeräumt.
Gut, man kann sagen, so hart wie Mao
Zedong mit seiner zerstörerischen Kulturrevolution geht es bei uns nicht zu.
Auch folgt niemand den radikalen Reinigungen (Folterungen und Tötungen) des Pol
Pot, der bei Mao in die Schule gegangen war. Sogar der frühere Bauernschlaue, der rote Gott, das massenmörderische Väterchen
aus Georgien muss nicht bemüht werden. Bei uns läuft alles viel friedlicher,
ruhiger ab, eingeübt durch eine tiefsitzende Kultivierung, die in der langen, unseligen
Herrschaft der Habsburger eine ganz einseitige, überangepasste Gehorsamshaltung
von Untertanen erzeugt hat, die keiner Gestapo oder Geheimpolizei bedarf, wie
anno dazumal, sondern die im Verwaltungsakt schon ab-, ein- und erdrückt. Da reichen schon die
Bubis und Mädis der bräunlichen Bewegung, die jetzt das Sagen hat.
Dieser Verwaltung kommt das durch die
jahrzehntelange Dekultivierung und Verbildung unverständige Volk entgegen, weil es in
falscher Lobpreisung privaten Konsumglücks meint, freier zu sein als früher,
sich einen Dreck um Politik schert, und schon gar nicht um Bildung. Kultur ist
Spitzensport und Zuschauen, ist Popmusik und Drogenkonsum. Wer nicht unbedingt
wegen der Prüfungen im Studium eine Bibliothek aufsuchen muss, geht nicht hin.
Freiwillig meidet man die Mehrheit sie. Liest man die Statistiken der
Entlehnungen in den Büchereien, erschrickt man, wie wenige aktive Leser es
gibt, was durch die niederen Verkaufszahlen von Literatur weiter bestätigt wird. Daran ändern auch
peinliche Zirkusveranstaltungen wie das Bachmannwettlesen nichts. Die Rolle des
Zuschauers hat sich seit dem Internet und der smart phone culture dramatisch
geändert. Ein seltsames Phänomen: einerseits eine Isolation von Privaten,
andererseits virtuelle „Gemeinschaften“, die vor allem die negativen
Verhaltensweisen des shit storm, des mobbing, des Rufmords etc. unterstützen
und reale Gemeinschaften extrem unterminieren. In dieser Unkultur gelten keine
Argumente mehr, sondern Gefühle, Wallungen, Betroffenheiten. Alles approbiert
im Opferkult der Opfergesellschaft. Wer will da noch Bildung erwarten,
rationales Denken, Diskurs?
In den letzten Jahren strahlten einige öffentlich-rechtliche
Sender Dokumentationen aus, die einen lehrten, wie schlimm die Zustände in
Tibet, China, Vietnam oder Kambodscha waren, aber auch im arabischen oder
türkischen Raum. Ich kenne viele erschütternde Dokumente aus Tibet bzw.
Nordindien, wohin sich viele Tibeter flüchteten, die verzweifelt versuchen,
ihre verfolgte, niedergehaltene Kultur am Leben zu erhalten, zu retten. Eine
französische Ethnologin, Marianne Chaud, drehte im höchstgelegen Bergdorf im
Kloster Phuktal im indischen Zanskar einen beeindruckenden, berührenden
Dokumentarfilm. Sie zeigt den achtjährigen Kenrap, der seit seinem fünften Lebensjahr
Novize im Kloster ist und Mönch werden will. Besonders beeindruckt hat mich die
Art, wie er mit Gleichaltrigen zum Philosophieunterricht eilte, wie er und
seine Freunde die heiligen Schriften lernten, die elementaren Technik der
Rhetorik. Meisterhaft eingefangen vermittelt die Ethnologin die fest verankerte
Kultur, die Freude am Wissen und Bewahren und Weitergeben. (Ein direkter
Gegensatz zu den Vernichtern Mao Zedong oder Pol Pot, für die Wissende Feinde
waren!)
Ich habe diese und ähnliche Dokumentationen mir öfters
angesehen. Sie berühren mich immer wieder. Sie strotzen vor Positivem, vor
humanem, freundlichen Ausblick. Nach dem Großen Krieg in Europa schätzen einige
die Reste von Kulturgütern in weit höherem Ausmaß, als etwa in den „Goldenen Zwanzigerjahren“,
jener selbstvergessenen Zeit des Konsumrausches und der Lebenslüge. Mühsam
wurden Bibliotheken wieder errichtet oder wiederhergestellt, Bücher aus
Bunkerdepots geholt und sortiert.
Nach dem Schock der Kulturrevolution, die eine Umwälzung in
Unkultur und Barbarei war, wurden nicht nur die zerstörten Monumente,
Denkmäler, Bildwerke, Bücher und Schriften vermisst und betrauert, sondern
langsam dämmerte den Davongekommenen die Tiefe der inneren Zerstörung, die Maos
Monsterwerk bewirkt hatte. Die Traumata sind heute noch lebendig und
beeinflussen die Verhaltensweisen von Abermillionen. Auch bei den Deutschen,
weniger den Österreichern, weil die immer jammernd sich nach ihren Untaten als Opfer
beklagten und perfekt verdrängten, haben die Traumata aus der Nazizeit
Nachwirkungen. Der Erfolg des Wirtschaftswunders wurde auch durch die 68er
nicht wesentlich gestört. Ähnlich geht die Geschichte in China ihren
vorgezeichneten Weg der Verdrängung: heute stört die Erinnerung an den Tian’anmen-Platz
und dem Massaker vom 4. Juni 1989, soweit sie vielleicht noch hochkommt,
niemanden mehr. Die Historie ist bereinigt, die Geisteswissenschaften und
Literaturproduktion sind unter Kontrolle,
und fürs Geschäft hat man den bildenden Künstlern etwas mehr Freiheit
gewährt, weil der Markt, die Kapitalisierung selbst eine Entwaffnungs- und
Kontrollfunktion ausübt.
In Kambodscha, wo das Foltertodesregime von Pol Pot, je nach
Schätzung, zwischen 1,7 bis 2,2 Millionen Opfer „produzierte“, waren neben der
Hetzjagd und Verfolgung von Intellektuellen, Lehrern und Künstlern, auch
Theater, Kinos, die bis dahin existierende Filmwirtschaft, Verlagshäuser,
Bibliotheken, Klöster und Schulen zerstört worden. Eine beispiellose
Vernichtungskampagne im Hass auf alle Wissenden, die das Regime, mit
tatkräftiger Hilfe aus dem Ausland, zu bewerkstelligen versuchte und fast
erfolgreich gewesen wäre. So konnte sich nach 30 Jahren blutigem Bürgerkrieg
das Land langsam, langsam erholen. Aber die Bevölkerung ist zutiefst
traumatisiert. Tempeltänzerinnen, wenn sie nicht vom Regime gefoltert,
vergewaltigt und ermordet worden waren, können nicht einfach ihre Tänze wieder
einüben und lernen, weil die Schriften und Bücher fehlen, die verbrannt worden
waren. Die letzten Reste von „lebenden Büchern“, von Eingeweihten, die ihr
Wissen mühsam erinnern und weitergeben, bilden die Quellen des Aufbaus.
Wenn ich beobachte, wie Angehörige solcher Gesellschaften
die Bildung wertschätzen, wie sie mit einfachsten Mitteln versuchen Schriften
zu retten und zu übertragen, wie die Kinder begeistert lernen und
vorwärtskommen wollen in und mit ihrer Kultur, staune ich einfach über die
Ignoranz, die ich hier in meinem Heimatland leidvoll erkenne. Hier prägen
fürwahr nicht nur Bildungsferne das Bild, die (un)geistige Landschaft, sondern
Bildungsunwillige oder gar Bildungsfeindliche.
Wenn ich sehen darf, wie einige beherzte Frauen in Kambodscha
Tänze wieder einüben mit ihrer faszinierenden Liturgie feiner Bewegungen,
staune ich über unsere verlogene Brauchtumskultur und die oberflächliche
Geschäftigkeit für Ruhm und Geld.
Wenn ich die chinesische Künstlergeneration der Gegenwart
mir ansehe (nicht nur den bei uns so gefeierten
Ai Wei Wei, sondern Cang Xin, Guo Jin, He Yunchang, Hu Jie, Huang Rui,
Huang Zhiyang, Li Chen, Liu Wei, Wang
Luyan, Wang Shugang, Yang Yongliang, Yue Minjun, Zhang Xiaogang, Zhang Xiaoto,
Zhao Zhao, Zhen Fanzhi, Zhu Qi und viele andere), ihre Werke betrachte, die
Umstände der Produktionsbedingungen berücksichtige, das Ausmaß der Zensur und
Verfolgung, der sozialen Ächtung in vielen Fällen, die ich wahrscheinlich nicht
adäquat zu ermessen vermag, staune ich über unsere Künstlerinnen und Künstler,
die sich oft und öfter in einer Art unverbindlicher Gartenlaubenneoromantik
suhlen, wie man bei den „gehobenen“ Kunstshows als auch bei den Massenbeteiligungen
wie den erfolgreichen niederösterreichischen Tagen des offenen Ateliers
feststellen kann oder muss.
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