Mittwoch, 18. Juli 2018

Wertverständnis hier & dort


Haimo L. Handl

Wertverständnis hier & dort

Wir leben in einer Überflussgesellschaft, in der auch die Benachteiligten oder Ärmeren über staatliche und private Einrichtungen ihr Auskommen zu sichern vermögen, wenn sie nicht gerade, durch das tägliche Fernsehen verführt, nur im Dauerkonsum das Lebensglück sehen und dessen Nichterfüllung als Strafe oder extreme Aussonderung definieren. Es gibt allerdings Härtefälle, aber die sind in jeder Gesellschaft auffindbar, da keine paradiesische Zustände bietet.

Für AMS-Betreute gibt es einen Kulturpass, damit sie, Interesse kultürlich vorausgesetzt, am kulturellen Leben teilnehmen können. Für Migrantinnen gibt es geförderte Sprachkurse und etliche Organisationen bieten, wie ich weiß, Gratisunterricht an.

Es gibt aber viele, die diese Einrichtungen nicht nutzen wollen. Es gibt viele Eltern, die ihre Kinder nicht schulen wollen. Es gibt, leider, nicht nur Bildungsferne, sondern, viel schlimmer, Bildungsfeindliche, und ihre Zahl wächst, unterstützt durch eine ignorante Falschtoleranz von Gutmenschen, die in diesen Leuten nur Opfer sehen, den Spracherwerb als Belastung und Zumutung denunzieren, und im Kern eigentlich keine erfolgreiche Integration wünschen.

Dafür werden gleichzeitig aber „Oberschichtler“ oder bürgerliche Familien kritisiert, nicht nur, weil sie vermögend oder vermögender sind, sondern auch kultivierter und gebildeter. Anstatt die Depravierten über eine soziale Integration im Bildungsniveau zu heben, unternehmen diese GleichheitsapostelInnen Bemühungen der Schwächung der Bessergestellten, der Begabten und Talentierten, weil es nach ihrer kruden Gleichheitsfimmelei keine Hochbegabten, keine Talentierten geben darf und, da die Orientierung an den Erfolgreicheren für die anderen unrealistisch ist, eine Ausrichtung aufs untere Niveau zu erfolgen habe. Das zeigt sich im verdünnten Bildungsprogramm und den fatalen Einübungen in EinfachDeutsch.

Doch hoher Bildungsstandard, so verrufen er für die Meute der Unteren auch ist, bildet keine Garantie dass die Sprösslinge ebenfalls erfolgreich lernen, studieren und beruflich Karriere machen. Sich aufzuregen, wenn ein Elternhaus eine positive Umgebung für seine Kinder schafft, nur, weil viele Familien das nie gelernt haben, geht am Problem völlig vorbei. Geld ist nicht der primäre Faktor für Kultivierung und Bildung. Aber die Kläffer wollen nicht zulassen, dass es auf die Einzelne ankomme, auch auf das  Kind und die Eltern. In ihren Augen ist es die Gesellschaft, die determiniert, voranbringt oder verhindert. Wie dennoch Außenseiter erfolgreich höhere Bildungsgrade erreichen, wird dann nicht erklärt oder nur als Ausnahme gesehen. Es scheint, als ob diese negativen, misanthropen Kräfte alles nivellieren wollen: wenn ein höheren Fortkommen nicht für ALLE möglich ist, dann runter in den Dreck mit ALLEN durch Zerstörung der Wertestruktur (Kultur) und der Bildungseinrichtungen bzw. Sozialeinrichtungen und Schulen oder Kindergärten im Besonderen (finanziell ausbluten).

Nach dem Ende des 2. Weltkriegs war in Deutschland für ganz kurze Zeit der Schock so tiefsitzend, dass man hoffen konnte, es werde politisch entsprechend zukunftsorientiert verantwortlich gehandelt. Aber sofort ertönten die Stimmen der falschen Vernünftigkeit: um die staatlichen Aufgaben zu erfüllen, bedürfen wir leider, leider der Experten, auch wenn die meisten davon Nazis waren oder sind. Der Aufbau oder, wie es in Österreich vor allem hieß, der Wiederaufbau brauchte die Nazis. In Kürze war der radikale republikanische, demokratische Anflug verflogen und die alten Kräfte, die im Barbarenkrieg nicht umgekommen waren, viele sogar als Kriegsgewinnler ausstiegen, übernahmen die Lenkung und Organisation des neuen Deutschlande bzw. von Österreich, wovon einige Jahre später ein verkappter Faschist, Jörg Haider, zynisch als „Missgeburt“ sprach.

In dieser Missgeburt sind nun die faschistischen Kräfte erstarkt und bilden über das türkise Bubi den Koalitionspartner. Die ÖVP packelt mit der faschistischen Partei (FPÖ – man lernt es, wenn man nicht EFFPÖ-Ö stammelt, sondern den Bedeutungskern anzeigt FAPAÖ oder FAPÖ), reduziert Bildung und Sozialversorgung bei gleichzeitigen Steuergeschenken an die Unternehmer und einer gesetzlich erlaubten 60-Stundewoche, die die Weiterbildung am Abend für Tausende erschweren wird, ganz unabhängig von dem Stress für die Pendler, die nach 12 Stunden Hackeln noch stundenlange Heimfahrten zu bewältigen haben. Aber so sieht die neue Politik aus, die österreichische NEP (Новая экономическая политика).

Aber es bleibt ja nicht bei der Ökonomie, der unterstützen besseren Ausbeutung durch die Unternehmer und den Reduktionen im Sozialbereich. Auch in der Bildung und Kultur wird aufgeräumt.

Gut, man kann sagen, so hart wie Mao Zedong mit seiner zerstörerischen Kulturrevolution geht es bei uns nicht zu. Auch folgt niemand den radikalen Reinigungen (Folterungen und Tötungen) des Pol Pot, der bei Mao in die Schule gegangen war. Sogar der frühere Bauernschlaue, der rote Gott, das massenmörderische Väterchen aus Georgien muss nicht bemüht werden. Bei uns läuft alles viel friedlicher, ruhiger ab, eingeübt durch eine tiefsitzende Kultivierung, die in der langen, unseligen Herrschaft der Habsburger eine ganz einseitige, überangepasste Gehorsamshaltung von Untertanen erzeugt hat, die keiner Gestapo oder Geheimpolizei bedarf, wie anno dazumal, sondern die im Verwaltungsakt schon  ab-, ein- und erdrückt. Da reichen schon die Bubis und Mädis der bräunlichen Bewegung, die jetzt das Sagen hat.

Dieser Verwaltung kommt das durch die jahrzehntelange Dekultivierung und Verbildung unverständige Volk entgegen, weil es in falscher Lobpreisung privaten Konsumglücks meint, freier zu sein als früher, sich einen Dreck um Politik schert, und schon gar nicht um Bildung. Kultur ist Spitzensport und Zuschauen, ist Popmusik und Drogenkonsum. Wer nicht unbedingt wegen der Prüfungen im Studium eine Bibliothek aufsuchen muss, geht nicht hin. Freiwillig meidet man die Mehrheit sie. Liest man die Statistiken der Entlehnungen in den Büchereien, erschrickt man, wie wenige aktive Leser es gibt, was durch die niederen Verkaufszahlen von Literatur  weiter bestätigt wird. Daran ändern auch peinliche Zirkusveranstaltungen wie das Bachmannwettlesen nichts. Die Rolle des Zuschauers hat sich seit dem Internet und der smart phone culture dramatisch geändert. Ein seltsames Phänomen: einerseits eine Isolation von Privaten, andererseits virtuelle „Gemeinschaften“, die vor allem die negativen Verhaltensweisen des shit storm, des mobbing, des Rufmords etc. unterstützen und reale Gemeinschaften extrem unterminieren. In dieser Unkultur gelten keine Argumente mehr, sondern Gefühle, Wallungen, Betroffenheiten. Alles approbiert im Opferkult der Opfergesellschaft. Wer will da noch Bildung erwarten, rationales Denken, Diskurs?

In den letzten Jahren strahlten einige öffentlich-rechtliche Sender Dokumentationen aus, die einen lehrten, wie schlimm die Zustände in Tibet, China, Vietnam oder Kambodscha waren, aber auch im arabischen oder türkischen Raum. Ich kenne viele erschütternde Dokumente aus Tibet bzw. Nordindien, wohin sich viele Tibeter flüchteten, die verzweifelt versuchen, ihre verfolgte, niedergehaltene Kultur am Leben zu erhalten, zu retten. Eine französische Ethnologin, Marianne Chaud, drehte im höchstgelegen Bergdorf im Kloster Phuktal im indischen Zanskar einen beeindruckenden, berührenden Dokumentarfilm. Sie zeigt den achtjährigen Kenrap, der seit seinem fünften Lebensjahr Novize im Kloster ist und Mönch werden will. Besonders beeindruckt hat mich die Art, wie er mit Gleichaltrigen zum Philosophieunterricht eilte, wie er und seine Freunde die heiligen Schriften lernten, die elementaren Technik der Rhetorik. Meisterhaft eingefangen vermittelt die Ethnologin die fest verankerte Kultur, die Freude am Wissen und Bewahren und Weitergeben. (Ein direkter Gegensatz zu den Vernichtern Mao Zedong oder Pol Pot, für die Wissende Feinde waren!)

Ich habe diese und ähnliche Dokumentationen mir öfters angesehen. Sie berühren mich immer wieder. Sie strotzen vor Positivem, vor humanem, freundlichen Ausblick. Nach dem Großen Krieg in Europa schätzen einige die Reste von Kulturgütern in weit höherem Ausmaß, als etwa in den „Goldenen Zwanzigerjahren“, jener selbstvergessenen Zeit des Konsumrausches und der Lebenslüge. Mühsam wurden Bibliotheken wieder errichtet oder wiederhergestellt, Bücher aus Bunkerdepots geholt und sortiert.

Nach dem Schock der Kulturrevolution, die eine Umwälzung in Unkultur und Barbarei war, wurden nicht nur die zerstörten Monumente, Denkmäler, Bildwerke, Bücher und Schriften vermisst und betrauert, sondern langsam dämmerte den Davongekommenen die Tiefe der inneren Zerstörung, die Maos Monsterwerk bewirkt hatte. Die Traumata sind heute noch lebendig und beeinflussen die Verhaltensweisen von Abermillionen. Auch bei den Deutschen, weniger den Österreichern, weil die immer jammernd sich nach ihren Untaten als Opfer beklagten und perfekt verdrängten, haben die Traumata aus der Nazizeit Nachwirkungen. Der Erfolg des Wirtschaftswunders wurde auch durch die 68er nicht wesentlich gestört. Ähnlich geht die Geschichte in China ihren vorgezeichneten Weg der Verdrängung: heute stört die Erinnerung an den Tian’anmen-Platz und dem Massaker vom 4. Juni 1989, soweit sie vielleicht noch hochkommt, niemanden mehr. Die Historie ist bereinigt, die Geisteswissenschaften und Literaturproduktion sind unter Kontrolle,  und fürs Geschäft hat man den bildenden Künstlern etwas mehr Freiheit gewährt, weil der Markt, die Kapitalisierung selbst eine Entwaffnungs- und Kontrollfunktion ausübt.

In Kambodscha, wo das Foltertodesregime von Pol Pot, je nach Schätzung, zwischen 1,7 bis 2,2 Millionen Opfer „produzierte“, waren neben der Hetzjagd und Verfolgung von Intellektuellen, Lehrern und Künstlern, auch Theater, Kinos, die bis dahin existierende Filmwirtschaft, Verlagshäuser, Bibliotheken, Klöster und Schulen zerstört worden. Eine beispiellose Vernichtungskampagne im Hass auf alle Wissenden, die das Regime, mit tatkräftiger Hilfe aus dem Ausland, zu bewerkstelligen versuchte und fast erfolgreich gewesen wäre. So konnte sich nach 30 Jahren blutigem Bürgerkrieg das Land langsam, langsam erholen. Aber die Bevölkerung ist zutiefst traumatisiert. Tempeltänzerinnen, wenn sie nicht vom Regime gefoltert, vergewaltigt und ermordet worden waren, können nicht einfach ihre Tänze wieder einüben und lernen, weil die Schriften und Bücher fehlen, die verbrannt worden waren. Die letzten Reste von „lebenden Büchern“, von Eingeweihten, die ihr Wissen mühsam erinnern und weitergeben, bilden die Quellen des Aufbaus.

Wenn ich beobachte, wie Angehörige solcher Gesellschaften die Bildung wertschätzen, wie sie mit einfachsten Mitteln versuchen Schriften zu retten und zu übertragen, wie die Kinder begeistert lernen und vorwärtskommen wollen in und mit ihrer Kultur, staune ich einfach über die Ignoranz, die ich hier in meinem Heimatland leidvoll erkenne. Hier prägen fürwahr nicht nur Bildungsferne das Bild, die (un)geistige Landschaft, sondern Bildungsunwillige oder gar Bildungsfeindliche.

Wenn ich sehen darf, wie einige beherzte Frauen in Kambodscha Tänze wieder einüben mit ihrer faszinierenden Liturgie feiner Bewegungen, staune ich über unsere verlogene Brauchtumskultur und die oberflächliche Geschäftigkeit für Ruhm und Geld.

Wenn ich die chinesische Künstlergeneration der Gegenwart mir ansehe (nicht nur den bei uns so gefeierten  Ai Wei Wei, sondern Cang Xin, Guo Jin, He Yunchang, Hu Jie, Huang Rui, Huang Zhiyang, Li Chen,  Liu Wei, Wang Luyan, Wang Shugang, Yang Yongliang, Yue Minjun, Zhang Xiaogang, Zhang Xiaoto, Zhao Zhao, Zhen Fanzhi, Zhu Qi und viele andere), ihre Werke betrachte, die Umstände der Produktionsbedingungen berücksichtige, das Ausmaß der Zensur und Verfolgung, der sozialen Ächtung in vielen Fällen, die ich wahrscheinlich nicht adäquat zu ermessen vermag, staune ich über unsere Künstlerinnen und Künstler, die sich oft und öfter in einer Art unverbindlicher Gartenlaubenneoromantik suhlen, wie man bei den „gehobenen“ Kunstshows als auch bei den Massenbeteiligungen wie den erfolgreichen niederösterreichischen Tagen des offenen Ateliers feststellen kann oder muss.

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