Haimo L. Handl
Dekadente Zeiten?
Untergangsstimmungen gab es immer schon. Manchmal intensiv,
epidemisch, dann wieder hochstilisiert in esoterischen Kreisen zirkulierend.
Der Begriff „Dekadenz“ sollte das ausdrücken (Niedergang, Verfall). In
Wikipedia wird angemerkt: „In der Geschichtswissenschaft hat man inzwischen den
Dekadenzbegriff zur Charakterisierung gesellschaftlicher Entwicklungsabschnitte
fallen lassen. Nur in der Dekadenzdichtung hat das Wort auch eine positive
Bedeutung; im Sprachgebrauch überwiegt der abwertende Charakter.“
Aufgrund der rasanten technischen Entwicklungen könnte man
behaupten, wir leben in einer prosperierenden Zeit mit hoher
Entwicklungsgeschwindigkeit (wohin?), aber gleichzeitig zeigen sich, je nach
Bewertungsmaßstäben, Rückentwicklungen oder Degenerationen bzw.
Verfallserscheinungen. Die Bestimmung hängt wesentlich vom ideologischen
Standpunkt ab: Gewinner – erfolgreich, dynamisch, entwicklungsorientiert versus
Opfer – verlierend, peripher, verarmt. Da es aus vielerlei Gründen nicht
opportun erscheint, als Starker, als Gewinner bzw. als Starke und Gewinnerin
aufzutreten, weil dann ungeheuer viel Energie investiert werden müsste, um
gegen die Meute der Opfer und ihren Anwälten sich behaupten zu können,
erstarkte des Gerede, Geschreibe und Geschwafel von der Dekadenz, vom Untergang
der Welt (früher beschränkte sich das noch aufs Abendland), vom Verfall.
Würde differenziert beschaut, bedacht und argumentiert
werden, wäre es kein Problem, einerseits von Fortschritten zu sprechen,
andererseits von Verlusten und Belastungen. Aber dieses feine
Unterscheidungsvermögen haben nur wenige sich gebildet. Es ist auch nicht Ziel
unserer Bildungseinrichtungen. Im Gegenteil: es geht um Vereinfachungen zwecks
problemloser und schneller Kommunikation. Die Sprache wird primär auf den
Mitteilungszweck reduziert, obwohl noch ästhetische Texte, Schriftstellerei
betrieben und sogar gepriesen wird. Sieht man sich die gängigen Produkte an,
erschrickt man allerdings über die Gleichförmigkeit, die Spracharmut gepaart
mit einer Art von Themenfixierung, wie man sie seit den unguten Zeiten
diktatorischer Regime und den gleichgeschalteten Mitläufern in Erinnerung hat,
falls man nicht das moderne Vergessen pflegt in einer extremen
Gegenwartsorientierung, der das Historische suspekt erscheint und unwichtig,
„belastend“ als Ballast.
Schon früher wurde von manchem sich als Philosoph
verstehenden Schreiber behauptet, alles ist gleich, alles ist möglich, anything
goes. Mit der daraus folgenden Unverantwortlichkeit und „Wurstigkeit“ gelang es
den Managern als auch den Kulturbetriebsangehörigen tatsächlich eine
vielfältige, eigentlich widersprüchliche, im Kern aber gleichförmige
Gesellschaft aufzubauen, in der die Reichen, wie früher, reicher werden, und
die Armen ärmer, aber alles garniert und sogar durchdrungen von Programmen der
erwünschten Gleichheit und Freiheit. Keine Verantwortung von niemandem bzw.
allgemeine Kollektivverantwortung ohne Folgen für Einzelne. Freiheit überall,
außér im Wesentlichen, im Einzelnen. Es regiert das Kollektiv, obwohl es keine
Kolchosen mehr gibt und Parteikaderschulen und GULAGS oder KZ. Eine moderne Art
des durchdringenden, beobachtenden, überwachenden, total erfassenden Kollektivs
regiert und wird täglich gestärkt durch die „freiwillige“ Kollaboration von
Millionen und Milliarden, die die Systeme glücklich, fast berauscht, mit ihren
Daten füttern, um endlich die verhasste Privatsphäre zu vernichten, wie sie bis
anhin von keinem Regime, auch den grausamsten nicht, vernichtet worden ist. Es
lösen sich Gegensätze auf, alles scheint in einem Einheitsbrei zu schwimmen. Da
wird auch die Rede von Fortschritt und Dekadenz obsolet, überflüssig.
Im Kulturbereich halten sich einige Scharmützel und Gefechte
etwas länger, werden sogar mit staatlicher und privater Kulturförderung länger
am Leben gehalten. Dort liest und hört und sieht man verwegenes Regietheater in
seinen Modernisierungsbemühungen, dort hört man Industrielärm als Musik bzw.
einpeitschende Rhythmen zum Training depravierter Opfer, die für kurze Zeit
meinen sich „finden“ zu können in einem „Rausch“ oder „Genuss“, ähnlich den
johlenden Massen, die ihre schiere Vertierung im Fußballstadium demonstrieren,
was wiederum tausenden von Sozialarbeitern, Coaches, Soziologen usw. Stoff gibt
zu klären, wie weit heute wieder Tragödie erfahrbar ist, nicht im bürgerlichen
Theater oder Opernhaus, sondern im Stadion. Völkerverständigung über gewaltige
Spiele, die die Massen enthemmen. Katharsis weltweit. Zugleich Einübung für die
nächste Formierung, wenn’s wieder auf den realen Kampfplatz geht jenseits des
Sports hin zum eigentlichen Geschäft, zum Krieg. Und auch die Literatur bleibt
nicht außen vor. X Tausende von Preisen belegen ihre offizielle Bedeutung,
kurbeln den Buchmarkt an, schönen das nationale Image, graben Gräben zwischen
Konkurrierenden, auch auf staatlicher Ebene und lassen den Künstlerinnen,
soweit noch einige der Schritstellerinnen solche sind, keinen Freiraum für
Eigenheiten, sondern nur für nach approbierten Maßstäben Geliefertes. Aber alle
fühlen sich wohl, danken für die Preisgelder, die vielen Einladungen zu Talk
Shows und Lesungen und Interviews und Porträts und Vorträgen, und erfüllen
damit ihre soziale, politische und ideologische Rolle.
Die Reinigung der Bibliotheken von altem, verbrecherischem
oder einfach obsoletem Zeug ist noch nicht so weit fortgeschritten, wie sich
das einige Eifrige wünschen, aber der Purifikationsprozess gewinnt an
Geschwindigkeit und Präzision. Da sind die Sprachreinigungsprogramme und
Forderungen nach politischen Maßnahmen, damit die Frauen, die Paradeopfer, die
Ausgebeuteten, die Verhinderten, die Behinderten endlich nicht nur gleiche
Rechte eingeräumt erhalten, z.B. gleicher Lohn für gleiche Arbeit, sondern mehr
Rechte, sozusagen aus Ausgleich und Rache an der überlangen, historischen
Ausbeutung durch Männer. Dieser Kampf wird vor allem im sogenannten Westen
gefochten, wo die Entwicklung zwar nicht vorzüglich, aber doch besser als sonst
irgendwo ist hinsichtlich der Rechte für Opfer und Frauen. In den islamischen
Ländern oder afrikanischen sehen diese Frontkämpferinnen aber nur Opfer
(wahrscheinlich sogar dann, wenn sie, falls sie mal solche Gesellschaften
aufsuchen und länger als ein paar Tage dort leben, selbst „dran glauben
müssen“. Das ist dann wahrscheinlich der Preis für die Überzeugung, denn sie
wissen ja nicht, was sie tun, das wussten und wissen nur die Nazis und modernen
Verbrecher bei uns…)
Man findet also noch Klassiker, die den modernen
Auffassungen total widersprechen, man findet auch viel Schmock und Schonz und
Kitsch, was aber eh niemanden aufregt. Noch darf man sogar als Nazi verschriene
Autoren lesen, wie Benn oder Heidegger, oder Antisemiten wie Céline. Es werden
auch Studien druchgeführt und publiziert über die schandvollen Figuren. Noch
geht das. Morgen, wenn die herrschende Dekadenz geschwächt sein wird und das
Regime der Korrekten gestärkt, wird das anders sein. (Bemerkenswert, dass die
fanatischen Reiniger sich nicht der historischen Vorbilder erinnern und ihres
Versagens im Bildungs- und Erziehungsprozess: DDR und USSR. Die DDR ist,
staatlich, geografisch, nicht aber in den Köpfen, untergegangen und die USSR
hat sich wie eine Raupe entpuppt zu einem neuen Regime mit Kadern und Sklaven,
mit Oligarchen und Krisengewinnlern.)
„Ich halte mich dies Mal nur bei der Frage des Stils auf. — Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence? Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen — das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichniss für jeden Stil der décadence: jedes Mal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, „Freiheit des Individuums“, moralisch geredet, — zu einer politischen Theorie erweitert „gleiche Rechte für Alle“. Das Leben, die gleiche Lebendigkeit, die Vibration und Exuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest arm an Leben. Überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung oder Feindschaft und Chaos: beides immer mehr in die Augen springend, in je höhere Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt. —“ (Nietzsche, Der Fall Wagner 1888)
Was Nietzsche vor 130 Jahren notierte, ist nicht historisch
abgeschlossen, sondern zeigt sich auch in der Gegenwart, sogar intensiver, als
es früher war bzw., allein schon wegen der technischen Möglichkeiten, der Fall
sein konnte. Wenn heute ein Experte vom „Werkbegriff“ spricht, wie Karlheinz
Stierle in seinem Buch „Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff,
1997) als Kritik bzw. Zurückweisung der Standpunkte der postmodernen Verächter
des Werkbegriffs, macht er sich verdächtig. Innert der letzten 20 Jahre ist die
Toleranzbreite für Randsichten oder Außenseiter-Modelle geschrumpft, vor allem,
wenn jemand wie Stierle behauptet, dass ein Werk des Verstehens und der
Interpretation bedarf. Er stellt sich gegen die Alleinherrschaft des
Fragmentarischen oder Unabgeschlossenen. Das ist heute eine Sünde.
Unsere fortschrittliche Zeit, die überaus bemüht ist,
Gleichheit und Gerechtigkeit zu schaffen, obwohl das Eine dem Anderen
fundamental widerspricht, ist in eine Dekadenz gekippt, die sie als solche nicht
wahrnimmt. Es ist, als ob sie es nicht vermöchte, aus dem Kreisel der
immerwährenden Wiederholungen herauszutreten, und neue Wege zu beschreiten. Die
Vereinfachungen, die Simplifikationen einerseits, die höchstentwickelte
Technologie andererseits überdecken die Systemschwächen, den partiellen Verfall
und vergewissern den vermeintlichen Fortschritt. Wir leben wahrlich in
interessanten Zeiten.
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