Haimo L. Handl
Jubelsprache
Anlässlich des 240. Todestages von
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) habe ich mir wieder Werke von ihm
vorgenommen um zu prüfen, ob mein negatives Urteil, das ich mir gebildet hatte,
meine Abscheu und sogar Verachtung, zu revidieren wäre. Bücher lesen sich ja je
nach Erfahrungsschatz, Alter und Wissen
anders. Aber die Lektüre führte nur zu einer Bestätigung meiner Ablehnung
dieses Schwärmers und Träumers und seiner schlimmen Widersprüchlichkeit. Zwar
lassen sich neben Ablehnungen (Zivilisationskritik, Naturideal und totalem
Staatskonzept) auch Sätze oder Ansichten finden, die für sich gelesen durchaus
Zustimmung finden, aber im Kontext seines Werkes und, vor allem, seiner
Haltung, keinen Bestand aufweisen; sie sind mir eher Zeugnis einer sektenhaften
Sprache von der Vorherrschaft des Gefühls, des eigenen, authentischen
Erfahrungsgehalts wider alle Gemeinschaft und Gesellschaft, als ob der Einzelne
rein aus sich, ohne jede Konvention und ohne jedes Regelwerk zu agieren
vermöchte. Seine späteren Ausführungen konterkarieren seine frühen
gefühlsduseligen Positionen. Er ist fürwahr ein Wegbereiter der Tyrannei, im
Kern ein Gutmenschterrorist (ein Vergleich mit Maximilian Robespierre,
1758-1794, ist hoch interessant!).
Der Mensch ist zwar ein Tier, aber eines, das
sich kultiviert hat. Die Rede vom „natürlichen Menschen“ folgt einem
untauglichen Konzept. Es gibt Apologeten Rousseaus, die betonen, man müsse
seine Person, seine Biographie unbedingt beachten, weil ohne sie das Werk
widersprüchlich oder unverständlich erscheine. Das ist eine wesentliche
Schwachstelle. Zu folgern, was er aus X Gründen so oder anders gemeint haben
könnte, beantwortet nicht die Fragen nach der Gültigkeit seiner Sätze, seiner
Konzepte, Forderungen und Programme. Auch wenn man die Rhetorik der Zeit
berücksichtigt, zeigt sich im Kern wenig Annehmbares, außer man teilt seine
Haltung, seine Misanthropie, seinen Tugendterror. Rousseaus überaus
geschickten, winkeladvokatischen Argumente zur Freiheit im totalen Staat sind
nur die Kehrseite des geistigen Terroristen. Seine Haltung kommt jener der
Gutmenschen heute, besonders den Gleichheitsaposteln (männlich und, vor allem,
weiblich) entgegen. So findet man einerseits eine heftige, prinzipielle Abwehr
gegen jede Art von gesellschaftlicher Reglementierung, was von Kurzdenkern als
Anarchismus gedeutet werden könnte.
„In unseren
Sitten wie im Denken herrscht eine niedrige und betrügerische Gleichförmigkeit.
Alle Geister scheinen in die gleiche Form gepreßt. Ohne Unterlaß fordert die
Höflichkeit befiehlt der Anstand bestimmte Dinge; immer folgt man dem Gebrauch,
nie dem eigenen Genius. Man wagt nicht mehr zu scheinen, was man ist: und in
diesem ständigen Zwang tun die Menschen, die jene Herde bilden, die man
Gesellschaft nennt, unter gleichen Umständen alle das Gleiche.“
Er schwärmt vom „echten Geist der Wahrheit“,
von der „urwüchsigen Sprache“ als einer der Weisheitslehre. Er formuliert den
Gegensatz vom natürlichen zum artifiziellen, dem zivilisierten Menschen, von
„homme naturel“ und „homme artificiel“, dessen Richtschnur für richtiges
Handeln nur die Selbstbesinnung und Selbsterkenntnis, der echten, ist. In
diesem Authentitätskult bleibt vieles unbedacht und unbewiesen, klingt aber
revolutionär.
„Woher hätte der
Urheber dieser Lehre, woher hätte der Maler und der Apologet der menschlichen
Natur sein Vorbild auch nehmen können, hätte er es nicht in seinem eigenen
Herzen gefunden? Er hat diese Natur geschildert, so wie er sie in sich selbst
fühlte. Die Vorurteile, die ihn nicht unterjocht hatten, die künstlichen
Leidenschaften, denen er nicht zum Opfer gefallen war, – sie verdunkelten für
seine Augen nicht, wie für die Augen aller anderen, die ersten so allgemein
vergessenen und verkannten Züge der Menschheit. Mit einem Worte: es war nötig,
daß ein Mensch einmal sich selbst malte, um uns den primitiven Menschen zu
zeigen – und wäre der Autor nicht ebenso einzigartig wie seine Bücher gewesen,
so hätte er diese Bücher niemals geschrieben. Aber wo gibt es noch diesen
Menschen der Natur, der ein wahrhaft-menschliches Leben lebt; der die Meinung
der anderen für nichts achtet, und der sich lediglich von seinen Neigungen und
seiner Vernunft leiten läßt, ohne Rücksicht darauf. Was die Gesellschaft, was
das Publikum billigt oder tadelt? Man sucht ihn vergebens unter uns. Überall
nur ein Firnis von Worten: überall nur das Haschen nach einem Glück, das
lediglich dem Anschein nach besteht. Niemand kümmert sich mehr um die Wirklichkeit;
alle setzen ihr Wesen in den Schein. Als Sklaven und Narren ihrer Eigenliebe
leben sie dahin – nicht um zu leben, sondern um andere glauben zu machen, sie
hätten gelebt.“
(Zitate aus den
Discours)
Der Pädagoge und Advokat der Echtheit und des
natürlichen Menschen gibt implizit die Antwort: ER hat das Wissen, ER lebt die
korrekt Haltung, ER kennt das wahre, echte Glück jenseits jeden Scheins, ER ist
der Weg und das Licht, ER weist den Weg, ER kümmert sich um die Wirklichkeit.
Aber er hält es nicht aus, glücklich zu leben, er will leiden, er will
bekehren, er ist ein Missionar, ein Sektierer, ein guter Mensch, ein Halbgott.
Er pfeift auf die Gesellschaft, kümmert sich als wahrer Egoist nicht um die
Anderen. Aber er ist auch schwach und von Liebe durchflutet und ergriffen,
sodass er dennoch zu den Dummen, den Niederen spricht, ihnen die Frohe
Botschaft vermittelt. Wie Jesus verausgabt und verschwendet er sich. Ein
Perverser.
Die Kritik gemahnt in manchem an spätere
Autoren wie Schopenhauer oder Nietzsche, der auch nicht müde wurde, sich selbst
zu loben, weil es andere nicht taten. Letzterer war aber hinsichtlich des
Staates und seiner Rolle viel klarsichtiger – emanzipatorisch, revoltierend,
während der Franzose der totalen Einpassung und Kontrolle das Wort redet.
Die Paradiesvorstellung impliziert, dass jede
Entwicklung eine negative weg vom reinen Urzustand ist, hin zur Hölle, zur
Entfremdung. Sie bildet den Boden von Rousseaus Schwärmerei und seiner
Menschenverachtung.
Tyrannen haben Staaten gebildet und befehligt,
die nicht nur Terror kannten, sondern auch Gratifikationen ihren Untertanen
boten. Das ist heute wie damals gleich. Auch der Hitlerstaat war nicht nur
Terror, ebensowenig der von Stalin oder von Mao Zedong. Noam Chomsky hat
richtig erkannt, dass auch mit Hitler ein Frieden möglich gewesen wäre,
allerdings nur nach seinen Bedingungen. Das gilt auch für Rousseau: folgt man
seiner Doktrin, findet man in seinem Staat die größtmögliche Freiheit.
Heute werden wir permanent umspült und
weichgewaschen durch eine floskelhafte Sprache der echten Werte, der
authentischen Ziele, der erstrebenswerten Demokratie, der gefährdeten Freiheit
usw. usf.
Vor kurzem ist der große, berühmte,
meistzitierte deutsche Philosoph Jürgen Habermas mit dem Großen
Deutsch-Französischen Medienpreis ausgezeichnet worden. In seiner Dankesrede
forderte der Jubilar in seinem „Plädoyer, sich mit politischem Handeln gegen
die augenscheinlichen Sachzwänge der Wirtschaft aufzulehnen. Gemeinsam in
Europa – und nicht mit nationalen Alleingängen(Deutschlandfunk 5.7.2018). Er
bedauerte die deutsche Selbsttäuschung, „gute Europäer“ zu sein und übte
Selbstkritik. Der Tenor war klar und eindeutig: Europa gut, Zukunft gut, WENN
wir uns nur bemühen, mutig zu sein etc.
In der WELT
vom 5.7.2018 äußerte sich Joachim Lottmann etwas zynisch, ernüchtert und
enttäuscht über Habermas und Co:
„Voilà: das
Establishment. Hierhin verirrt sich in hundert Jahren kein AfD-Wähler. Im Saal
sitzt die geistige Elite Deutschlands und Frankreichs. Die Reaktion. Das
Justemilieu. Der Geist, der seit fünfzig Jahren die Bundesrepublik dominiert.
Mit Jürgen Habermas wird hier heute ein „Meisterdenker“ ausgezeichnet, dessen
Denken die Wirklichkeit der 60er- und 70er-Jahre beschrieb, vielleicht sogar
schaffte. Unser Koran sozusagen.
Dass seitdem viel passiert ist, ficht diese Leute nicht an. Die Worte hallen weiter durch den hässlichen Bau des postmodernen ZDF-Hauptstadtstudios, wo Habermas an diesem Mittwochabend den Deutsch-Französischen Medienpreis entgegennimmt. „Freiheit“, „Utopie“, „Menschenrechte“, „Vision“, „Friede“, „Solidarität“, „Wahrheit“, „Kultur“, „Demokratie“ und immer wieder „Europa“. Die Mediengewaltigen aus besseren Tagen sprechen, öffentlich-rechtliche Intendanten, Mitarbeiter. Wenn es stimmt, dass wir in einer Mediengesellschaft leben, ist das hier die herrschende Klasse.“
Dass seitdem viel passiert ist, ficht diese Leute nicht an. Die Worte hallen weiter durch den hässlichen Bau des postmodernen ZDF-Hauptstadtstudios, wo Habermas an diesem Mittwochabend den Deutsch-Französischen Medienpreis entgegennimmt. „Freiheit“, „Utopie“, „Menschenrechte“, „Vision“, „Friede“, „Solidarität“, „Wahrheit“, „Kultur“, „Demokratie“ und immer wieder „Europa“. Die Mediengewaltigen aus besseren Tagen sprechen, öffentlich-rechtliche Intendanten, Mitarbeiter. Wenn es stimmt, dass wir in einer Mediengesellschaft leben, ist das hier die herrschende Klasse.“
Er schreibt vom Establishment, wie vor 50
Jahren (68er-Kultur), von Prototypen:
„Die Laudatio
hält Heiko Maas, unser Außenminister, auch er ein
Prototyp, der des gelehrigen Schülers, Strebers und Bubi-Schlaumeiers. Er macht
das aber gut. Besser als Habermas.“
Dann geht er auf die Phrasen, die „holen
Worte“ (= Klischees) ein:
„Nach ihm, dem
„Spiritus Rector der öffentlichen Bundesrepublik“, geht es munter weiter mit
den großen hohlen Worten, mit „Integration“, „Freiheit“, „Teilhabe“ und so
weiter. Es ist wirklich kaum noch zum Aushalten. Man spricht sich gegen Fake
News aus, für den „Kampf gegen Vorurteile“, für eine „kritische“
Berichterstattung. War „kritisch“ nicht immer schon das verlogenste Wort, im
Grunde das Vorurteil selbst? Kein Wort auch – nicht einmal das, obwohl es um einen
Medienpreis geht – über das Zeitungssterben oder über die
Demokratisierungschancen, die das allen zugängliche öffentliche Internet
bietet.“
Der Journalist bekennt, dass er Habermas nie
mochte, dass er ungerecht sei. Trotzdem eine Wohltat, mal so eine Kritik an der
gediegenen, abgeschirmten heilen Welt akademischer und politischer Prominenz zu
vernehmen.
Die hohlen Worte bestimmen nicht nur
politische Diskurse (sollen diese Art Kommunikationen wirklich „Diskurse“
genannt werden?), die Wirtschaft und Werbung, sondern auch die Kultur, vor
allem in der Literatur. Neueste Belege, sozusagen das Neue vom Tage, liefern
die Berichterstattungen (welch schönes Wort!) zum Klagenfurter Wettlesen, das
in 3SAT breitgewalzt wird. Es sind nicht nur die Juroren bzw. Jurorinnen
peinlich, sondern auch die Literatinnen und Literaten und – kultürlich, die Journalistinnen und
Journalisten.
In der Süddeutschen Zeitung (5.7.2018) wird
der Eröffnungsredner Feridun Zaimoglu, ein literarischer Mitarbeiter des
Apparats der Sonderklasse, erwähnt unter dem Titel „Es gibt keinen redlichen
rechten Schriftsteller“ Punkt, Basta! Verbürgt Redlichkeit des Rests Qualität?
In der moralischen Anstalt vermeintlich schon, real aber nicht. Es wird das
Immergleiche des Gleichen beschworen. Es ist, als ob Rousseau auferstanden wäre
in weiblichen und männlichen Inkarnationen, die als Literaturtugendwächter bei
einer hurösen Personenbeschau ihre Urteile verhökern. In der SZ lese ich:
„Zaimoglus Aufruf
zum Mitgefühl ist aber auch ein normativer Appell an die Literatur, über die in
Klagenfurt gesprochen werden soll. Er erhebt die klassische Forderung nach
einer politischen Literatur, die die im Dunkeln Lebenden repräsentiert.“
Der Aufruf zum Mitgefühl. Das las ich doch vor
kurzem bei Jean-Jacques. Wie modern der Zaimoglu ist, wie up to date die
Klagenfurter Zirkusshow. Im Tagesspiegel (5.7.2018) heißt es „Erster Tag
Bachmann-Preis: Der Text stottert noch“. Weshalb, weil die Bachmann BachMANN
heißt, was die Genderpolizistinnen enorm stören muss? Oder weil kein Text die
Expertinnen und Experten vom Stuhl reißt (wäre doch ein schönes Fernsehbild,
nicht?)? Der Journalist des Tagesspiegels, Gerrit Bartels, sagt es im
Schlusssatz seines Artikels:
„Warum erkürt ein
White-Trash-Junge ausgerechnet Patrice Lumumba zu seinem Helden, den ersten
demokratisch gewählten Ministerpräsidenten des Kongo, der 1961 ermordet wurde?
So bleibt der Eindruck nach dem ersten Drittel des diesjährigen Wettbewerbs
diffus. Ganz ordentlich, aber kein Siegertext. So wie das Wetter im Verlauf des
Tages: Sonne, Wolken, Gewitter, Wischiwaschi – und trotzdem annehmbar.“
Der White-Trash-Junge ist der 1964 in Hamburg
geborene Autor Stephan Lohse. Warum er so apostrophiert wird, vermag ich nicht
zu erkennen. Interessanter, im negativen Sinn, weshalb gewisse Themen
„verboten“ oder nicht ratsam sind. Verbirgt sich dahinter ein neuer
Ethnofaschismus, ähnlich dem Sexismus? Nur Frauen dürfen über Frauen schreiben,
Weiße nur über Weiße oder ihre Heimat, vor allem, wenn sie Trash, White-Trash,
sind? Wer darf was? Weshalb sollen Fremde aus ihrer neuen Fremdenerfahrung
außerhalb ihrer Herkunftsländer und -gesellschaften schreiben dürfen, jemand
von hier aber nicht von dort, vor allem nicht, wenn männlich und Abfall?
Mir tun weder die Probanden der Zirkusshow
leid, noch die Expertinnen. Sie machen mit im Hurengeschäft, sie verkaufen sich,
sie gieren nach Aufmerksamkeit. Sie geben vor, mit und über Literatur zu
arbeiten. Sie bedienen einen geilen Markt. Einerlei oder Zweierlei, weil alles
gleich. Wie meinte doch Bartels: „… und trotzdem annehmbar.“ Eben. Macht ja
nix, wir sind ja so tolerant, nehmen alles an, auch das Gequatsche der
Expertinnen oder das Geschreibe der Journalistinnen.
Ich las letzthin und lese gegenwärtig wieder
Essays von einem sehr produktiven Autor, der sich aber stets dem
Literaturbetrieb verweigerte, erfolgreich sogar, nämlich von Heinz Risse
(1898-1989). Zwar sind manche seine Überlegungen nicht aktuell oder von anderen
Autoren ergänzt, aber vieles zeigt ein kritisches Denken, wie man es heute, vor
allem in einem tadellosen Deutsch, das nicht mehr gesprochen und geschrieben
wird, leicht vermisst. Ich zitiere aus zwei Essays, „Bemerkungen zum Verfall
der Sprache“ sowie „Literaturkritik“, beide enthalten in seinem Buch „Feiner
Unfug auf Staatskosten. 12 Essays“ (Merlin Verlag Hamburg 1963).
Zwei Zitate aus dem ersterwähnten Essay:
„Wenn man
unterstellt, daß jede Sprache eine Wirklichkeit spiegelt, nämlich die ihr
adäquate – die damit ihrerseits den Charakter einer von der Vorstellung
unabhängigen Realität verliert –, so ergibt sich, daß die Menschen in zwei
nebeneinander bestehenden, zugleich aber einander spiegelnden Welten leben; in
einer, die wahrgenommen, empfunden, vor allem aber – nämlich hinsichtlich der
abstrakten Begriffe – gedacht wird, und in einer, die aus den Worten besteht,
mit deren Hilfe die erste erklärt, deutlich gemacht, mitgeteilt werden kann.“
„Da die Sprache
das Spiegelbild der Wirklichkeit ist, leidet sie unter Elephantiasis, indem sie
gezwungen wird, in die alten Begriffe
immer mehr hineinzupferchen. Worte wie Staatswirtschaft, Demokratie, Verrat,
Kultur – um nur ein paar zu nennen, haben einen „Hof“ bekommen, der nicht nur
aus der Erweiterung ihrer Bedeutung stammt, sondern auch aus einer –
angeordneten oder suggerierten – Wertung, die wir als Sprachregelung zu
bezeichnen uns gewöhnt haben.“
Das klingt fast wie ein Kommentar zu Jürgen
Habermas und dem deutschen Außenminister Heiko Maas bei der großen
Preisverleihung, wo es um die bemühten ewigen Grundsätze der Demokratie, der
Freiheit und des Friedens ging, der Verantwortlichkeit usw. usf. Kennte der
Journalist Lohmann den Autor Risse, er hätte sich vielleicht inspirieren lassen
zu einer Kritik der besonderen „Hof“-Sprache bzw. „Hof“-Berichterstattung.
Im zweiten erwähnten Essay gibt Heinz Risse
seinen Vortrag wieder, den er auf Einladung für ein Eröffnungsreferat zur
Tagung „Literaturkritik – kritisch betrachtet“, veranstaltet im Oktober 1957
vom Wuppertaler „Bund“, hielt. Er provozierte und polarisierte damit seine
Zuhörer, Kritiker, Journalisten, Autoren. Er betont eingangs, selbst keine Kritiken
zu seinen Werken zu lesen, aber mit Vergnügen Kritiken an Werken von Kollegen.
Dann geht er kurz auf den Begriff „Kritik“ bei Lessing ein, und welche
Entwicklung er nahm, nicht zuletzt bei Karl Kraus. Dem schließt er die
folgenden Sätze an:
„Das hat sich von
Grund auf geändert. Von der Sprache ist heute in der literarischen Kritik weit
weniger als ehedem, im Grunde sogar kaum noch die Rede – nicht besonders
verwunderlich, scheint mir, da ja viele Kritiker im offenbaren Bestreben, dem
durch die Beschränkung auf achthundert Worte Deutsch sprachlich verdorbenen
Volk aufs Maul zu schauen, bemüht sind, sich auch in ihren kritischen
Verlautbarungen mit dem solchermaßen verringerten, allenfalls durch ein paar
simplifizierende Fachausdrücke angereicherten Wortschatz – das Wort ‚Schatz‘
ist hier schon Blasphemie – zu begnügen.“
Ich frage mich, wie Risse heute schriebe,
angesichts der social media und der Sprachattacken der gender police. Und wenn
man denkerisch in der Lage ist, die Medienentwicklung von den Zeitungen zum
Internet zu verstehen, fällt es sicher nicht schwer, den Kern der folgenden
Kritik, die sich damals noch an den Zeitungen orientierte, zu verstehen:
„Da Zeitungen und
Zeitschriften in der Regel in sogenannten Lagern stehen, die ihnen die Welt
bedeuten, richtet sich die Kritik, deren Gegenstand ausschließlich die Kunst zu
sein hätte, nunmehr sehr wesentlich danach, inwieweit der Fremdling aus dem
Reiche des l’art pour l’art in das Lager paßt, das ihr, der Kritik, Speise,
Trank und Obdach gewährt.“
Man übertrage diese Beobachtung auf den
Literaturzirkus, wie ihn das schmachvolle aber begeistert verfolgte
Bachmannwettlesen bietet. Man lese die Jurorenbefunde, lasse ihre Worthülsen
vor dem geistigen Auge sich drehen und rollen und fallen, um die Qualität des
Geschwätzes, das sich als Expertise und Kritik gibt, zu ermessen. Denn dort, in
Klagenfurt und überall, wo Anhänger dieser und ähnlicher Betriebsveranstaltungen
schalten und walten, geht es weder um Literatur noch um Sprache, weder um
Denken und Deuten, sondern nur um gekonntes Aufmerksamkeitsmanagement.
Eigentlich müssten jene, die das negativ abwerten, sich stärker äußern, indem
dort gepriesene Autorinnen und Autoren als Lit Whores, als Literaturhuren
verschrien werden, und die Expertinnen und Experten als Bücklinge,
Erfüllungsgehilfen, Kollaborateure in einem verwerflichen Täuschungsmanöver. Weshalb
soll man das dort Anerkannte schätzen? Weil man mitmacht? Ja, was sonst.
Wohin ist das sensible Denkvermögen gefallen,
versunken? Als die DDR ihre Literaten an kurzer Leine hielt, heulten viele
westliche Kritiker auf und lobten nicht nur die politische Dissidenz, die sie
aus jedem Sprachfehler erlasen, sondern gingen oft sachlich-fachlich,
wohlüberlegt auf die Literatur ein, jedenfalls auf einem höheren Niveau, als
wir es heute kennen. Heute genügt schon gender und Herkunft aus einem Opferland
um als approbiertes Opfer besondere Aufmerksamkeit und salbungsvolle
Nichtkritik einzuheimsen. Männer haben es da schwerer, weshalb sie oft
„auszucken“ und besonders grob, verwegen böse auftreten, sich selbst
verletzten, kotzen und keuchen und dann blöd lachen, so dass die
Schmierenpresse, die eklige Journaille, Stoff hat zur Auflagensteigerung bzw.
zum Erreichen höherer Zuschauerzahlen.
Dabei geht es, auch bei den sogenannten
„Ausfällen“, immer gesittet zu. Keine Überraschungen. Es scheint, als wäre
alles eingeplant, organisiert, kalkuliert. So, wie die Literatur gegenwärtig
gleichförmig, oft langweilig, sich darbietet, so zahm sind sogar jene, die
vorgeben zu bellen als Kritikerinnen und Kritiker, als Hohepriester einer
Gemeinschaft (Gesellschaft), die nur noch Basisdenken zu beherrschen scheint in
reduzierter, vereinfachter Sprache (EinfachDeutsch oder Leichtdeutsch, wie es
heute in unseren Schulen unterrichtet wird). Die Sprache, der sich Aktive wie
Passive, Autorinnen, Kritikerinnen wie Leserinnen befleißigen, entspricht dem
herrschenden (soll ich sagen „frauenden“?) Tiefstand. Man ist unter sich. Und
je näher die Literatur dem Slang der Gratiszeitungen, der Smartness der Werbung
entspricht, sozusagen „korrespondiert“, desto erfolgreicher alle Geschäfte und
Geschäftigkeiten des Literaturbetriebs, der Bildung, der Kunst und was sonst
noch alles. Man tut so „als ob“, man suhlt sich im „Als ob“. Es ist der Triumph
dessen, was Heinz Risse in seinem Essay „Das Zeitalter der Jubelsprache“ 1959
als negatives Merkmal der Leistungsgesellschaft brandmarkte. Von diesem Essay
habe ich mir erlaubt den Titel zu nehmen für diesen Beitrag.
Haimo, schreib doch auch über den Charismatiker Stefan George, diesen Sektierer und Führer des "Geheimen Deutschlands", Antidemokrat und Geistaristokrat im Naheverhältnis zum nazistischen Denken, obwohl er nicht direkt mitmachte. Dass der zum G-Kreis gehörende Stauffenberg sich schließlich von Hitler abwandete und das Attentat durchführte, wird von einigen Experten als Aufwertung des Denkens von George und seinem Kreis gewertet. Gib dazu bitte Deine Meinung, die mich, besonders nach der Lektüre über JJR, sehr interessiert.
AntwortenLöschenChristl Meir
Ich schließe mich dem an.
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