Haimo L. Handl
Verpönte Relativität
Martin Walser, unermüdlich auch im Alter, hat einen kleinen
Band mit Gedichten und Miniaturen veröffentlicht, der wieder Aufsehen erregt.
Man könnte meinen, die Deutschen seien neben den Israelis besonders geschult im
Auf- und Abmerken und Verteilen von Zensuren, ärger noch als die Briten oder
Amerikaner, obwohl besonders in den USA das
ungeistige Klima sich dramatisch ändert und Jäger und Hetzer als Zensoren und
öffentliche Moralapostel langsam Oberhand zu gewinnen scheinen.
In Deutschland ist das Einfachdenken tief verankert. Seit
der historischen Schuld verzweifeln immer noch viele am Unbewältigbaren. Viele
haben ein Strafbedürfnis erlernt, das unstillbar scheint. Jede Gelegenheit zur
Kasteiung wird wahrgenommen. Sie halten die Kollektivschuld am Leben und
verdächtigen jeden, der differenziert oder widerspricht der braunen Untat. Sie
sind die Vollstrecker der re-education im negativen Sinn.
Martin Walser war 1998 mit seiner Paulskirchenrede skandalös
aufgefallen. Das Verdikt wurde über ihn gesprochen und es waren nur gewisse
Umstände, die ihn vor der realen Lynchjustiz bewahrten. Geistig hatten sich die
Korrekten über ihn hergemacht. Jetzt bringt er in seinem neuen Buch SPÄTDIENST ein
altes Gedicht, das sofort wieder als Auslöser dient für die Kurzdenker, jene,
die nicht zu differenzieren in der Lage sind, die wie Wachhunde auf bestimmte
Auslöser unwillkürlich reagieren, die Zähne fletschen und bellen. Eigentlich
möchten sie ihrem Training nach zubeißen, zerfleischen, aber das dürfen sie
derweil noch nicht. Hierin teilen sie ein typisch deutsches Schicksal mit den
Unverbesserlichen, den faschistischen Gestrigen, die sich in diesem einem
Punkte treffen: nicht selbständig denken, sondern hündisch heulen und beißen.
In der WELT vom 1.12.2018 nimmt Marc Reichwein zwar Walser
in Schutz bzw., wenn man so will, führt Argumente an, die positiv relativieren,
leitet seine Ausführungen aber so abwertend ein, dass man sich wundert, auf
welch tiefem Niveau hier ein Kritiker sich ausbreitet:
Hoch betagte Dichter sind nicht
immer ganz dicht. Günter Grass hat kurz vor seinem Tod durch ein stumpfsinniges
Israel-Gedicht von sich reden gemacht. Der 91-jährige Martin Walser hat soeben
sein Buch „Spätdienst“ (Rowohlt, 208 S., 20 €) veröffentlicht, ein Bändchen
voller literarischer Miniaturen (Gedichte, Aphorismen und Notate), die einen
daran denken lassen, dass Walser heute bestens bei Twitter aufgehoben wäre –
als jemand, der auf alles und jedes narzisstisch und nachtragend reagiert. In
gewisser Weise dokumentiert „Spätdienst“ – neben poetischen Perlen – oft
unfreiwillig komisch, die Riesen-Blase der Kränkung (durch Kritik) und
Selbstbeobachtung, in der Walser seit Jahrzehnten lebt.
Herr Reichwein, Redakteur im Feuilleton der WELT, Jahrgang
1975, gibt Auskunft über die Dichte von Dichtern, und konstatiert kühl, dass
viele nicht dicht seien, also ausrinnen. Es bleibt zur Spekulation offen, ob er
die geistige Dichte meint, die er zynisch absprechend diagnostizieren könnte:
undicht im Sinne von dement, oder ob er einen körperlichen Zustand meint, wenn
alte Menschen Blasenprobleme haben. Während die Werbung vor allem den Frauen,
die auszurinnen scheinen, permanent besten Schutz durch gewissen Einlagen und
Binden verspricht, wird im Falle eines alten Dichters nicht von Hilfe
gesprochen, sondern das Bild eines Gebrechlichen gemalt oder gezeigt, der eben
verfällt und versagt, ausrinnt. Er, der Jüngere, mokiert sich über den Alten.
Was für eine Kultur!
Viele haben Angst vor der Altersdemenz. Wie simpel,
jemanden, den man „fertigmachen“ möchte, einfach der Demenz zu zeihen, ihn
negativ zu etikettieren, abgestützt durch das Klischee „Alte sind nicht ganz
dicht“. Na, er ist doch alt, also: nicht ganz dicht, dement,
unzurechnungsfähig, Abfall. Lasst ihn uns entsorgen. Was, der Walser schreibt
immer noch? Regt sich immer noch auf? Der ist ein Querulant, das ist ein Narziss,
ein Dauergekränkter. Diagnose gestellt und geliefert: abgestempelt, zum
Abschuss freigegeben. Interessant und bemerkenswert, dass dann trotzdem ein
Gedicht, ob alt oder neu, Aufregung verursacht und es und den Autor zum „Fall“
macht. Die Jäger, die Literatur- und Moralpolizisten sind auf der Hut, liegen
auf Lauer, beißen sofort zu.
Bei Walser finden einige, wie früher, dass er Auschwitz
bagatellisiere. Ein Verbrechen. Woran lesen sie das ab? Von einem Gedicht.
Allein, dass der Autor es wagt zu vergleichen bzw. in eine Reihe zu stellen,
empört, weil er damit ein Verbrechen begeht: er banalisiert und bagatellisiert.
Ganz in diesem Sinne äußert sich im konservativen
Vordenkerblatt (früher haben sich die klugen Köpfe dahinter versteckt!) der PD Dr.
Christian Metz, auf dessen Internetseite man seine Titel und
Artikelverzeichnisse findet, aber keine Auskunft über sein Geburtsdatum bzw.
sein Herkommen. Eine Schwarz-weiß-Fotografie zeigt ihn in trauter Leserpose:
jung und nachdenklich sinnierend. Wie nett. Ich weiß also nicht, ob er der
typische 68-er-Vertreter ist oder sonst ein Schnösel aus der verwöhnten Me-Generation.
Jedenfalls verurteilt er Walser in gewohnter Manier. Stein des Anstoßes ist
Walsers Gedicht über den Vietnamkrieg und die Reihung von Hué mit Golgatha,
Verdun und Auschwitz . Damit ist für den akademisch geschulten
Literaturwissenschaftler und -kritiker der Tatbestand der Bagatellisierung
festgemacht. Walser ist schuldig. Das ist sogar dem Marc Reichwein zuviel, der
in seinem Beitrag meint:
Ja, die Ortsnamenreihung ist
problematisch: „Neben Jesu Kreuzigung auf Golgatha, der Schlacht von Verdun im
Ersten Weltkrieg und dem Kampf um die Stadt Hué im Vietnamkrieg erscheint
Auschwitz in dieser Formulierung als eine tödliche Katastrophe unter vielen.“
So empört sich – ganz im Sinne der seit Walsers Paulskirchenrede von 1998
bekannten Diagnose, dass Walser ein Auschwitz-Problem hat – der „FAZ“-Kritiker
Christian Metz. Doch das Gedicht ist beim besten Willen nicht, wie Metz
behauptet, als unverbesserliches und Auschwitz relativierendes Walser-„Alterswerk“
abzutun. Es stand am 22. März 1968 in der „Zeit“, abgedruckt als Spottkritik am
damaligen Medien- und Politikbetrieb.
Obwohl Reichwein korrekt auf die frühe Publikation von 1968
verweist, auf Walsers Engagement gegen den Vietnamkrieg (was, anstatt positiv
bewertet, heute als verdächtiger Ausweis eines elenden Antiamerikanismus
gesehen wird!) verweist, streift er die eigentliche Problematik nur
oberflächlich. Der Skandal liegt für die Korrekten und Philosemiten darin, dass
Auschwitz als eine Katastrophe neben anderen erscheint. Auschwitz darf aber
nicht neben andere Verbrechen gestellt werden, Auschwitz ist singulär, ist
absolut. Jeder Vergleich bagatellisiert, entwürdigt. Diese quere Logik stellt
ein Denkverbot dar, das bei Strafe nicht übertreten werden darf.
Nun, semiotisch gesehen oder philosophisch sind die
Ansprüche bezüglich absoluter Einmaligkeit bzw. Unvergleichbarkeit Humbug. Ohne
Vergleich keine Bewertung, keine Kommunikation. Der Skandal liegt auch nicht in
der Sprache oder im Vergleichen, sondern in der Tatsache, wovon Texte,
insbesondere Vergleiche, aber nicht nur, Zeugnis geben: das Leben geht weiter,
ob Hiob verzweifelt oder nicht. Allein die Tatsache, dass das Leben weitergeht,
empört viele jener, die davongekommen sind. Sie zürnen ihrem Gott, sie zürnen
noch viel mehr den Nachfahren der Täter, die leben und, welch eine Zumutung,
die sogar gut leben und arbeiten und wieder zu Wohlstand gelangen. Diese
Ungerechtigkeit, dieses Gottversagen, ist für viele schier unerträglich.
Das tiefe Ressentiment gegen die Deutschen, die überlebten
und gut leben, hat Jean Amery in beredte Worte gefasst. Er, der Adorno wegen
dessen Jargon mied und kritisierte, teilte mit ihm aber den Schmerz über die
Barbarei. Nicht, weil einige Gedichte nach Auschwitz schrieben, das tat auch
Bruder Celan, sondern dass es weiterging. Eigentlich hätte die Welt untergehen
müssen, aber sie ging nicht unter. Sie prosperiert sogar.
Und dann kommt ein Deutscher und stellt Auschwitz, das
Einmalige, das Absolute, in eine Reihe mit anderen Kriegsstätten oder
Horrorszenarien. Er relativiert also, er verweigert das Denken des Undenkbaren,
er denkt das Denkbare. Was ist schon der Vietnamkrieg, was war denn Verdun.
Welcher Skandal, gar auf- und abrechnen zu wollen. Wenn schon, dann nur von den
Opfernachfahren, den Juden. Sechs Millionen wiegen mehr, besonders im Tod, als
x-fach soviele andere Opfer in Russland, in Asien, sonst wo auf der Welt. Es
darf nie verglichen werden, es muss immer vom singulär Absoluten gesprochen
werden.
Eigentlich ein verzweifelter Versuch gegen die Geschichte,
gegen die Realität. Purer Idealismus: das Denken soll determinieren. Die
Realität muss ausgeschaltet werden, Historie gilt nicht. Es gilt das Wort
Gottes, der Juden, der Opfer. Aber mit jedem Tag gräbt sich die Erfahrung des
Gegenteils tiefer ein, bohrt der Schmerz über den Gott, der seinen Kindern
nicht zu Hilfe kam, der es geschehen ließ und der weiterleben (leiden) lässt.
Adorno hat mit seinem Verdikt eine wesentliche Schwachstelle
in seinem Denken entblößt. Amery verzehrte sich in seinem Zorn und seinen
Ressentiments. Celan vermochte nicht festen Boden zu gewinnen. Wen immer man
dafür schuldig spricht, es wird nicht helfen, es wird nichts ändern. Das ändern
auch die Kläffer und Verurteiler wie Christian Metz nicht. Sie vertiefen nur
die Peinlichkeit.
Nachbemerkung:
Das ahistorische Fixieren der Nazischuld dient nicht nur der
Ablenkung sondern auch der Realitätsverleugnung. Weil keine europäische
Faschistenbewegung so grausig wie die Deutschen im Holocaust vorging, verringert
sich für viele Nachfahren deren Schuld. Die Fokussierung auf den Holocaust als
das absolute Verbrechen macht alle anderen weniger schlimm. Davon profitieren
die Faschisten in Italien und Spanien.
In ihrer Rezension von Antonio Scuratis Buch "M - Il
figlio del secolo" schreibt Emma Johanningsmeier in der New York Times vom
8.12.2018:
In Italy, the birthplace of fascism, Mussolini
has never carried the same stigma as Hitler in Germany. The dictator still
known as “Il Duce” enjoyed wide public support during his two-decade rule,
despite his persecution of anti-fascists and Jews. Some in Italy today are
willing to overlook those things for the perceived social stability of the
fascist era.
In the collective memory, “Italy always came
out as the lesser evil with respect to Nazi Germany,” Ben-Ghiat said. “Because
of that, Italians were able to say, ‘Well, we weren’t so bad. We weren’t
the architects of the Holocaust.’”
Die Angst vor Kritik treibt Israel und seine Unterstützer zu
immer neuen Maßnahmen der Zensur und Verfolgung. In der New York Review of Books schreibt am
12.12.2018 in der Rubrik NYRDaily Katherine Franke in ihrem Beitrag "The
Pro-Israel Push to Purge US Campus Critics":
At the same time, discussions on college
campuses about the complexities of freedom, history, and belonging in Israel
and Palestine are under increasing pressure and potential censorship from
right-wing entities. In fact, new policies adopted by the US and Israeli
governments are intended to eliminate any rigorous discussion of
Israeli–Palestinian politics in university settings. Not since the McCarthyite
anti-Communist purges have we seen such an aggressive effort to censor teaching
and learning on topics the government disfavors.
Especially chilling, the US Department of
Education recently adopted a new definition of anti-Semitism, one that equates
any criticism of Israel with a hatred of Jews. This new stance was evident when
the Department’s Office for Civil Rights recently reopened an investigation of
anti-Semitism at Rutgers University regarding a complaint that had been
examined and closed by the Obama administration. The case, which was brought by
the Zionist Organization of America, alleged that Rutgers should not permit
students to hold events at which the human rights record of the state of Israel
is criticized. The ZOA applauded the reopening of the case by Kenneth Marcus,
the new head of the Office for Civil Rights and a long-time proponent of the
view of that all criticism of Israel is necessarily anti-Semitic.
Diese Entwicklungen belegen nicht nur das Erstarken von
Rechtsextremen und Neonazis oder Faschisten, sondern stellen die Arbeiten von
Autoren wie Christian Metz und dergleichen ins ganz rechte Licht. Israel wird
zum Vorreiter neuer Geschichtsklitterungen und politischer Zensur im Namen
politischer Korrektheit. Plötzlich sieht man diese Korrekten in Gemeinschaft
mit den Tabuisierern aus China oder der Türkei. Eine Gemeinschaft der Verfolger
und Hetzer, der Verleumder und Folterer.
Ich hätte die Vorgangsweisen der Korrekten auch anhand von
Artikeln des radikalen Magazins „Counterpunch“ illustrieren können. Die wären
dann leichter als linke Denunziationen abhakbar. Dass die biedere New York
Review of Books aber auf die Problematik eingeht, macht es den Agenten Israels
nicht so leicht, das alte Feindbild wachzuhalten.