Samstag, 15. Dezember 2018

Lettre International Nr. 123

LETTRE INTERNATIONAL 123 

IM EINZELNEN

DIESSEITS VON EDEN

Der sich auf Gott berufende Terrorismus, dieser gähnende schwarze Schlund, verdient es, daß man ihn in unseren Ländern nicht nur energisch und ohne Zögern bekämpft, sondern auch immer besser verortet und verfolgt. Aber scheuen wir dabei auch nicht vor einem loyalen Blick auf uns selbst zurück.“ Die oft suizidäre Tat des Terroristen zwingt uns zu bedenken, was man nicht mehr denken will und, je mehr man sich an ihn gewöhnt, nicht mehr bedenken kann: den Platz des Todes in unserem Leben. Oder, genauer gesagt, die Tatsache, daß er keinen mehr hat. Régis Debray fragt: Welche Lektionen kann der „Krieg gegen den Terrorismus“ uns lehren? In der Bereitschaft, für ihr Ziel zu sterben und souverän in den Tod zu gehen, setzen dschihadistische Kämpfer ihr Leben aufs Spiel. Dieser Akt der Hingabe im selbstmörderischen Angriff ist zugleich Akt der Auferstehung und Erlösung im Paradies, wo das wahre Leben die Märtyrer erwartet. Der Tod ist für sie ein Schlüssel zur Ewigkeit. Der aufgeklärte Westen hat diesem Konstrukt kaum etwas entgegenzusetzen. Die himmlische Stadt hat ihre Tore geschlossen. Nachdem das Paradies auf die Erde gestürzt ist, bleiben nur noch Steuerparadiese oder der Club Med. Eine Asymmetrie entsteht, ein ungleicher Kampf. Wenn der Tod Gottes aus der Zukunft durch Fortschritt unseren neuen Gott gemacht hat, welcher Gott kann sich noch anbieten nach unserem resignierten Verlust des Glaubens an den Fortschritt und die Zukunft? Der tote Winkel eine Zivilisationsdiagnose.

Geert Lovink durchstreift die Ruinen digitaler Luftschlösser. Eine Programmierte Traurigkeit durchzieht die Atmosphäre der sozialen Medien. Durch Tweets, Likes und Bots ist man optimal vernetzt, bestens informiert, profitiert von einer Fülle von Kontakten. Doch scheinen intensive zwischenmenschliche Gefühle zu verarmen. Verlorenheit und Traurigkeit machen sich breit, nach Jaron Lanier infolge gebieterischer Standards in bezug auf Anerkennung, Beliebtheit sowie unrealistischen Schönheits- und Statusidealen. Farbfunktionen, Doppelhäkchen decken alles auf. Algorithmen erzählen, ob du mehr oder weniger Freunde hast als andere. Es gibt keinen Freiraum mehr, ohne ständig beurteilt zu werden. Dazu kommt das Unwesen anonymer Trolle. Die online-Medien kennen keine Regenerationspausen. Empfindungen von Erschöpfung, Enttäuschung, Einsamkeit, Verunsicherung machen sich breit. „Der naive Akt der Kommunikation ist verlorengegangen. Darum weinen wir.“

Mit Paul Virilio verstarb ein hellwacher Zeitdiagnostiker. Als Kind dem Panzer-Blitzkrieg und den Bombardements des Zweiten Weltkriegs ausgesetzt, wurde die Katastrophe zum Lehrmeister seiner Sensibilität. Die Bunkerarchitektur am Atlantik war ihm Metapher für die „Festung Europa“. Er analysierte die technologische und informationelle Beschleunigung als Vorzeichen katastrophischer Entwicklungen. Auf den Atomunfall sah er Unfälle des Wissens folgen. Heinz-Norbert Jocks besuchte den Philosophen in La Rochelle vor seinem Tod und sprach mit ihm über Krieg, Raum und Zeit, seine Erfahrungen, seine Erkenntnisse, über die Kunst, die Welt und das Universum. Virilios letztes Interview: Universität des Unglücks.

Der Karneval von Rio 2018 begann mit einem Paukenschlag. Der 2017 neugewählte evangelikale Bürgermeister von Rio de Janeiro, Marcelo Crivella, Bischof der „Universalkirche vom Reich Gottes“, weigerte sich, am Höhepunkt des Karnevals, einer Parade im Sambodrom, teilzunehmen. Ja, er verließ Rio demonstrativ während der Tage der Ausschweifung. Nie zuvor hatte sich ein Politiker derart ostentativ von dem katholisch grundierten Massenspektakel abgewandt. Dieser Vorgang ist Anzeichen eines Umbruchs in dem traditionell afro-katholischen Land. Könnten die mit viel amerikanischem Geld missionierenden Evangelikalen in Zukunft Kultur und Politik der brasilianischen Gesellschaft dominieren? Welche Rolle spielt dabei die Wahl des rechtsextremen neuen Präsidenten? Der Religionswissenschaftler Reginaldo Prandi über Kirche, Tempel, Terreiro.

Das Photo eines das Schaufenster eines Uhrengeschäfts betrachtenden Flußpferds, das bei einem Unwetter aus Tbilissis Zoo ausgebüxt war, läßt Wolfgang Popp nicht mehr los, und er macht sich auf in die georgische Hauptstadt. Allgegenwärtig sind die Spuren vergangener Dichter. Hier traf sich in den zwanziger Jahren der Dichterzirkel Die Blauen Hörner, extravagante Dandys, die Besuch von Majakowski, Pasternak und Mandelstam bekamen. Ihre Lyrik war symbolistisch, spielte mit Futurismus und Dada, vergaß dabei aber nicht die alte georgische Dichtkunst. Auf einer Schwarzweißaufnahme sieht man die beiden zentralen Gestalten der Blauen Hörner: Titsian Tabidse mit lackierten Fingernägeln und Paolo Iaschwili, mit blumengemusterter Krawatte. Beide halten kleine Statuen in der Hand, zwei weiße Vögel, das Symbol der Blauen Hörner für Freiheit und pures Sein. Wie andere Schriftsteller wurden beide zu Opfern des stalinistischen Terrors. Die Verehrung der Georgier für ihre Poeten hat dennoch alle dunklen Zeiten überdauert und ist an allen Ecken und Enden der Stadt zu spüren. „Der magische Realismus steckt uns im Blut“, meint ein georgischer Filmemacher. Und die Sprache habe sich in den eintausendfünfhundert Jahren des georgischen Alphabets nie grundlegend verändert. Der „innere Hall des Georgischen hat eine eigene Frequenz, die etwas mit unserem Nervensystem macht. Selten erlebt man eine Sprache, bei der die Konsonanten sich so knarrend aneinander reiben.“ Mit Nashorn und Esel taucht der Autor in die uns fremde poetische Sphäre Georgiens ein – wir folgen ihm verzaubert über Hügel und Hänge, durch Hinterhöfe und durch die sich wie Tiere schlängelnden Straßen und Gassen Tiblissis!

Der türkische Schriftsteller Nedim Gürsel reist durch Iran. Das alte Persien ehrte seine Dichter, und selbst die heutige Islamische Republik verehrt die traditionellen Poeten Hafis und Saadi mit nationalem Stolz, während die Dichter der Gegenwart mit Zensur und Gefängnis traktiert werden, so wie einst unter dem Schah. Nedim Gürsel reist nach Teheran, Persepolis, Schiraz, Isfahan und Chorasan, besucht Gärten und Paläste, Grabmäler und Tempel, begegnet Schriftstellern, zoroastrischen Priestern und Intellektuellen. Seine poetische Reportage über die Vielfarbigkeit und das erfinderische Überleben der Dichter in Iran ergibt ein schillerndes Gegenbild zu den simplistischen Klischees über Iran: Wein, Rose, Nachtigall.


LITERARISCHE HELDEN

Wolf Reiser nimmt uns mit in griechische Gärten, wo Libellen und Bienen um Orangen- und Avocadobäume tanzen, Zistrosen, Salbei, Thymian, Salbei und Rosmarin ihre Düfte verströmen, wo der Mohn explodiert. Und wir folgen ihm zu den Orten jener folgenreichen Begegnung zwischen dem kretischen Schriftsteller Nikos Kazantzakis und dem 1865 in Mazedonien geborenen Wanderarbeiter und Vagabunden Georgios Zorbas. Hirte, Minendirektor, Gelegenheitsarbeiter, Vater von zehn Kindern, war dieser unstet durch die Trümmerwelt der Balkankriege geirrt, ein Überlebender auf dem Schlachtfeld des Lebens. Nun sitzt dieser Haudegen in einer Hafenkneipe jenem Literaten gegenüber, der ihn unsterblich machen sollte. Es sprühen Funken, man schmiedet Projekte, gründet ein Bergwerk, läßt die Erde vibrieren, huldigt dem Wein, singt und tanzt, liebt und philosophiert, man verliert alles und feiert doch das Leben. „Wenn man die Mysterien erlebt, gibt es keine Zeit für Notizen.“ Doch ging aus dieser leidenschaftlichen Liebe zwischen Tintenkleckser und Lebenskünstler ein grandioser Roman hervor: Alexis Zorbas. Die Geschichte einer hinreißenden Freundschaft, ein griechisches Zeitpanorama und eine Hymne auf das Leben: Zorbas, eine Odyssee.

Nicholas Shakespeare kennt wie kein anderer Leben und Werk des rastlosen literarischen Erzählers Bruce Chatwin, der eine steile Karriere vom Impressionismus-Experten bei Sotheby’s zum literarischen Wunderkind der kulturellen High Society machte. Seine aufsehenerregenden Reisereportagen über Patagonien oder die Songlines der australischen Aborigines verhalfen ihm zu exzentrischer Berühmtheit. Dreißig Jahre nach Chatwins Tod skizziert Shakespeare den lebensgeschichtlichen Hintergrund eines Romans des extravaganten Autors: Chatwins Utz.

Schweigen, List, Exil“, antwortete James Joyce auf die Frage nach den Ursachen seines schwer errungenen Erfolgs. Wie später Samuel Beckett, war Joyce Irland entflohen, weil er die erstickende Enge von Katholizismus und Kirche, Nationalismus und Provinzialismus dort nicht ertrug. In Paris suchte er Freiheit, Luft zum Atmen und Distanz zu seiner Familie, in der Hunger, Bigotterie, Zerrüttung herrschte. Haßliebe verband ihn mit seinem Vater, einem stadtbekannten Bonvivant, Trinker und Verschwender, Sänger und Geschichtenerzähler, der seine Familie ins Elend stieß und den sein genialer Sproß James Joyce später dennoch in eine literarische Romanfigur voller Witz und Würde verwandelte. Colm Tóibín porträtiert Vater und Sohn: John Stanislaus Joyce.

Glanz und Elend des Übersetzens widmet sich der Ilias- und Odyssee-Übersetzer Kurt Steinmann und er gibt einen Überblick über die Geschichte der Homer-Übersetzungen von J.H. Voss über Rudolf Alexander Schröder bis zu Raoul Schrott und seiner eigenen. Welche Übertragung des Verses aus der Leidensgeschichte des Sisyphos ist treffender? Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor.“oder: Und von Neuem rollte dann talwärts der schamlose Felsblock.“ Innige Vertrautheit mit der Originalsprache wie der eigenen ist Voraussetzung jeder werkgetreuen Übertragung. Es ist eine Sache von Kunstfertigkeit, Liebe und Glück, und jede Übersetzung – eine „Aneignung des Fremden im Eigenen, ohne die Grenzen der Lebensfähigkeit des einen wie des anderen zu verletzen“ – ist „Herangang“, „Weg zum Werk“, bleibt vorläufig. Über poetische Schönheit und Botschaft aus anderer Zeit: Homer übersetzen.


TÖNE SCHÖPFEN

Nach dem Zweiten Weltkrieg verbreiteten sich weltweit und in Windeseile irrwitzig komplexe Systeme, um Musik in komponierte Bahnen zu bringen. Das typische moderne Werk war vertrackt, abstrakt, kantig in der Gestik und abrupt in den Übergängen. Traditionelle Formen fielen in Ungnade. Emotionalität war verpönt.“ Unter einer „distinguierten musikalischen Komposition“ verstand man um 1950, daß jemand eine Partitur anfertigte, die gespielt und interpretiert wurde. Allerdings schloß diese Definition Jazzkomponisten aus, deren Tradition ausgeschriebene Partituren mit Improvisation kombiniert. Unterdessen hat die Weiterentwicklung klassischer Komposition die Definition aufgeweicht. Schon in den frühen fünfziger Jahren schufen Pierre Schaeffer und Pierre Henry mit ihrer Musique concrète Klangcollagen, die aus Elementen wie Aufnahmen von Lokomotiven und Stadtgeräuschen bestanden; Karlheinz Stockhausen war ein Vorreiter in der Entwicklung elektronischer Musik, John Cage stellte für Radio Music ein Ensemble aus Radioapparaten zusammen. Zum Ende des 20. Jahrhunderts hin konnte der Begriff „Komponist“ einen Performance- oder einen Klangkünstler bezeichnen, einen Avantgarde-DJ oder einen Laptop-Konzeptualisten.

Die siebziger und achtziger Jahre sahen eine allmähliche Rückkehr zu einer auf tonalen Prinzipien basierenden Tonsprache – ob Minimalismus, Neue Einfachheit oder Neoromantik. Doch weigerte sich die Avantgarde gleichermaßen abzudanken, unberührt von den vielen Nachrufen, die auf sie geschrieben wurden. Der amerikanische Musikkritiker Alex Ross sieht die Landschaften der zeitgenössischen Komposition so fragmentiert und vielgestaltig wie die Formen der Kunst. Der etablierte Kanon ist aufgebrochen, und dennoch zieht gerade der westliche Kanon schöpferische Musiker aus aller Welt an: Klänge unserer Zeit. Über den dichten Klangteppich des beginnenden 21. Jahrhunderts.

Der Erfindung der Musik geht Philippe Manoury nach. „Komponieren heißt, dem Klanglichen einen Sinn einzuhauchen.“ Klang, das ist der Rohstoff, Musik die organisierte Form des Klanglichen. Doch wodurch entsteht eine musikalische Idee? Das musikalische Imaginäre des Komponisten ist nicht ausschließlich von Klängen und Tönen bevölkert. Auch das Visuelle spielt dabei mit. Und wie entsteht Neues im Reich der Klänge selbst? Wie erhält der Musiker Zugang zur inneren Struktur der Klänge? Zu Atmung, Schlag und Reibung als Quellen des Klangs kommt die Elektrizität. Die physikalische Konstitution gliedert sich in harmonische, unharmonische und geräuschhafte Klänge. Welche Rolle spielen Intuition, Spontanität, Re­geln, Systeme bei der Komposition? Wie interagieren numerische Techniken, akustische Instrumente und die Stimme? Der Komponist, Pianist und Pionier einer elektroakustischen Musik führt uns durch sein Laboratorium. Manoury sieht sich in der Tradition Strawinskys: „Wir haben eine Verpflichtung gegenüber der Musik, und die besteht darin, sie zu erfinden.“

Einen Blick aus musikphilosophischer Perspektive riskiert der Komponist Moritz Gagern auf die Frage, ob Erzählen durch Musik möglich ist. Das musikalische Zeichen kennt zwar keine konventionellen Bedeutungen und kann also auf nichts Äußeres verweisen. Musik kann Erzählungen begleiten und im Gespann mit Worten, Bildern und Tanzbewegungen selbst erzählerisch wirken. Das innermusikalische Bezugssystem kann Klänge zu utopischen Gestalten verwandeln, Hörerwartungen umlenken, Stimmungen aufeinanderprallen lassen, Raum und Zeit verändern. Aber vermag Musik in ihrer bloßen akustischen Anordnung zu erzählen? Verkörpert Musik etwas Außermusikalisches? Das Plädoyer eines Komponisten für ein gelingendes Durcheinander von Autonomie und Funktionalität in der Musik.

Erik Satie war Exzentriker. Er gab sich nicht als Komponist, sondern als Gymnopäde und Phonometriker; er akzeptierte nur weißes Essen, spazierte in Priesterroben durch Paris, schlug in Montmartre über die Stränge, interessierte sich für rare Meereskreaturen, unmögliche Maschinen und Okkultes. Er war romantisch, mystisch und ironisch. Er setzte Gedichte in Musik um. Einige seiner fragilen, überweltli­chen Stücke für Piano nannte er „Stücke in Form eines Pfirsichs“. Niedergeschlagenheit und Mißerfolg lähmten lange seine Schaffenskraft. Dann führte Ravel seine Musik auf, Debussy orchestrierte seine Gymnopédies. Später tauchte sein Name nicht mehr in Konzertprogrammen auf. Er war ein Artrock-Star avant la lettre. Nick Richardson über einen Samtenen Gentleman.

Eine Pianistengeschichte erzählt Jaume Cabré. Er drehte am Hocker, weil er eine Winzigkeit zu niedrig war. Dabei hatte er ihn vor einer halben Stunde noch genauestens justiert. Nein, jetzt ist er zu hoch. Und er wackelt auch ein bißchen, siehst du? Scheiße. So. Nein. Doch. Er zog sein Taschentuch aus der Jacke und trocknete sich die Handflächen ab. Er nutzte die Gelegenheit, um mit dem Taschentuch auch über die makellosen Tasten zu wischen, als seien sie noch feucht von anderen mißlungenen Auftritten. Er zupfte seine Manschetten zurecht. Ich bin ein einziges Nervenbündel. Meine Kehle ist trocken, mein Blut gibt mir lauter Stiche, und mein Herz zerspringt fast wegen so vieler Dinge. Ich will nicht, daß mir die Hände zittern. Rechts die tödliche Kälte des Publikums.“


IKONEN DES FILMS

Alles, was ich im Kino gemacht habe, habe ich gelebt“, so Alain Delon, monstre sacré des Weltkinos im Gespräch mit Samuel Blumenfeld Bilanz eines Lebens und einer Karriere, Rückblick auf über achtzig Filme, darunter Meisterwerke wie Der eiskalte Engel von Jean-Pierre Melville oder Rocco und seine Brüder von Luchino Visconti. Delon erzählt von Kindheit und Jugend, vom Soldatenleben in Indochina, seiner Liebe zu den Frauen und der Frauen zu ihm, seinen Lieblingsregisseuren, seiner Zeit mit Romy Schneider und seinen Freundschaften mit Jean Gabin, Jean-Paul Belmondo, Jean-Louis Trintignant und Gérard Dépardieu. Er hat Vorbehalte gegenüber der Nouvelle Vague, bekennt sich zu seiner Rolle als Monsieur Klein in Joseph Loseys Film, spricht über #MeToo und den Wunsch, ein einziges Mal einen Film unter weiblicher Regie zu drehen. Ein Blick ins Herz, offen und direkt – mit 83 Jahren.

Der deutsche Filmregisseur Roland Klick wird achtzig Jahre alt. Arbeit, Ästhetik und Wirkung, die Filme und die gebrochene Karriere dieses künstlerischen Außenseiters schildert Andreas Martin Widmann. Der „Neue Deutsche Film“ war ebenso eine Erfindung der Medien wie eine schlichte Tatsache, aber weniger homogen, als das Etikett es suggeriert. Dessen Klammer bildete der Generationenkonflikt. Gesellschaftspolitische Absichten vermischten sich mit ästhetischen: die Ablehnung des Films als Illusionsmaschinerie, das Kino sollte zum Schauplatz eines kritischen Diskurses werden. Junge deutsche Regisseure entwickelten ihre Filmsprache gegen Hollywood. Roland Klick steht für eine andere Spielart des deutschen Films. Im ersten Bild seines Films Deadlock schlurft ein junger Mann mit schulterlangem Haar und in silbergrauem Anzug durch eine Felswüste. Eine blutende Wunde klafft am Oberarm, er trägt einen Diplomatenkoffer in der einen Hand und eine Maschinenpistole in der anderen. Die Sonne ist gleißend wie flüssiges Quecksilber. Mit der Musik von Can entwickeln diese Bilder eine befreiende Wucht, als fahre eine Gewitterböe in einen stickigen Raum und stoße darin die Fenster auf. Man erlebt eine Ausbruchsphantasie. Roland Klick dreht Filme, welche die Filmsprache des amerikanischen Erzählkinos nicht zurückweisen, sondern sich ihrer bedienen, um daraus Eigenes zu destillieren, wobei Kunst und Massenpublikum sich nicht widersprechen müssen. Über das filmische Schicksal eines rebellischen Einzelgängers: Verloren im Supermarkt.

Der schwedische Filmregisseur Ingmar Bergman nennt den Film einen Traum. Er schreibt: „Keine Kunstform geht wie der Film an unserem Tagesbewußtsein vorbei direkt auf unsere Gefühle zu, die tief im Dämmerraum der Seele verborgen liegen.“ Michael Düe nähert sich Bergman aus psychoanalytischer Perspektive: Bergman machte seine eigenen persönlichen Konflikte, Traumata und Erinnerungen zum Rohstoff seiner Filme. So wurde es ihm möglich, selbst mit bedrängendsten und beschämendsten Gefühlen und Erlebnissen umzugehen. Eine Psychoanalyse für sich selbst lehnte er ab, um seine Pathologien seinem künstlerischen Lebenswerk dienstbar zu machen. Die Schauspieler wurden zu Trägern der eigenen externalisierten psychischen Dramen. Über Neurose und Kreativität, das Theater als Ehefrau und den Film als Geliebte: Bergman auf der Couch.

An das goldene Zeitalter des Films erinnert Fabio Stassi, eine Ära, die unwiderstehliches Licht verströmt, wie das verklärte Paris Hemingways. Aus dem verarmten Sizilien emigrierte Frank Capra ins gelobte Land mit dem Willen zum Erfolg und fand sich auf Filmsets in Hollywood wieder, zwischen Zigarren und Spucknäpfen, in einem von Wahnsinnigen und Übergeschnappten wimmelnden Laboratorium, wo eine völlig neue Kunst entstehen sollte. Er stieß auf eine Zeitungsanzeige: „Die große Woche für verrückte Träumer“ und lernte blitzschnell die Hauptregeln einer hartumkämpften Branche. „Was die Leute am meisten interessiert, sind die Leute.“ Oder: „Im Kino gibt es keine einfachen Regeln, nur Sünden, und eine Todsünde ist die Langeweile“. Er wollte nach oben und entdeckte, was Leute zum Lachen brachte: die starrsinnige Unnachgiebigkeit unbeseelter Objekte. Rezepte eines Meisterregisseurs: Frank Capras Geheimnis.

Mit Struwwelpeter, Tim und Struppi, Krazy Kat, Flash Gordon und Popeye auf du und du erweist sich Georg Stefan Troller in Die Comics meines Lebens. Der vielgerühmte Dokumentarfilmer erinnert sich an Begegnungen mit der 1943 in Auschwitz ermordete Charlotte Salomon, die ihr Leben in 1 300 Bildern festhielt und mit Frans Masereel über dessen Holzschnittfolge Mein Stundenbuch. Er trifft die selbstbewußte Claire Bretécher, die für die Zeitschrift Hara-Kiri arbeitete, beobachtet die Zeichner Siné, Sempé und Reiser sowie die Strippenzieher von Asterix und Obelix, René Goscinny und Albert Uderzo. In Kalifornien dreht er mit dem exzentrischen Robert Crumb, Erfinder von Fritz the Cat, in New York erzählt ihm Art Spiegelman, Autor von Maus, vom tragischen Schicksal seiner Familie.


BRIEFE, KOMMENTARE, KORRESPONDENZEN

Die junge Dacia Maraini begegnet der Gestalt der Europa in der Griechischen Mythologie von Robert Graves, ein Buch, das sie von dessen Tochter Judith geschenkt bekommt. Die junge Frau taucht ein in römische Schriftstellerkreise und liest Conrad, Svevo, Balzac, Pirandello und de Beauvoir, die von Europa erzählen, ein jeder auf seine Weise. Graves’ Erzählung des Mythos der Europa und ihr Leben als geraubte und vergewaltigte Geliebte Zeus’ fesseln sie. Eine literarische Lektion: Für Maraini gleichen sich die junge Frau Europa und Unser kleines großes Europa in ihren schmerzhaften Erfahrungen, aber auch in ihrer Stärke und Leidenschaft.

Was auf dem Spiel steht betitelte der Künstler Mark Lammert seine analytische Laudatio auf Lettre, als der Zeitschrift im Oktober 2018 der Konrad-Wolf-Preis der Akademie der Künste Berlin verliehen wurde. Auszüge:
Als die Zeit des Kalten Krieges und der Stagnation sich dem Ende zuneigte, beginnt 1988 die Zeit der deutschen Lettre International, gegenüber den schon vorhandenen Redaktionen in Paris, Madrid und Rom eine autonome, gewissermaßen autarke, selbständige, etwas verspätete Gründung, unterscheidbar in mehreren Punkten von ihren damaligen Partnerzeitschriften.
Lettre, als sie sich gründete, nützte auch den Freiraum, den die Abnutzung von Überzeugungen bot.
Der entscheidende und entschiedene Unterschied war vom ersten Heft an das Bündnis mit den gesamten Künsten und den Künstlern. Eine neue Form von neuem Optimismus.
Das Überleben der Berliner Ausgabe einer europäischen Idee könnte auch auf diesem radikalen intellektuellen Bündnis und dem gleichzeitigen Vertrauen in Texte und in Bilder gründen. (...)
Die moderne Kunst hat’, sagt Foucault, ‘eine Funktion, die man wesentlich antikulturell nennen könnte. Dem Konsens der Kultur gilt es, den Mut der Kunst in seiner barbarischen Wahrheit gegenüberzustellen ...’ (...)
Jean-Luc Godards Satz ‘Die Kultur ist die Norm, Kunst ist die Ausnahme’ trifft hier sein Gegenteil. (...)
Von Wolfgang Kohlhaase, Konrad Wolfs wichtigstem Autor, stammt die sehr einleuchtende Beobachtung, daß ‘diese Mischung aus Gleichgültigkeit, Empfindungsarmut, Ich-Bezogenheit, aus der sich die Katastrophen vorbereiten, deren Ursachen dann keiner mehr entschlüsseln kann ... viel aufregender und bedrohlicher [ist] ... als jeder unverhüllte Extremfall.’“

An Harald Szeemanns Kunst des Zeigens erinnert der Schweizer Kunsthistoriker Roman Kurzmeyer. Szeemann galt und gilt unter Künstlern, Kuratoren und Galeristen als großer Ausstellungsmacher des späten 20. Jahrhunderts. Im Einklang mit seiner Künstlergeneration wandte er sich schon früh gegen das Museum als Haus der Kunstgeschichte und wurde mittelbar zu einem Wegbereiter der Eventkultur in der visuellen Kunst. Seine Idee eines „Museums der Obsessionen“ meinte ein Museum im Kopf, ein Ideengebäude, eine Denkfigur, wo die Frage nach der Visualisierung der Vielfalt menschlicher Emotionen leitend sein sollte. Szeemann stellte in seinen Ausstellungen Kunst nicht als Kunst ins Zentrum, sondern als Medium individueller, gesellschaftlicher und kultureller Utopien, Phantasien, Obsessionen und Konflikte, und veränderte damit das Format „Ausstellung“ radikal. Eine Hommage.

Sergio Benvenuto berichtet aus Matera Europas Kulturstadt 2019. Hinter Potenza, der Hauptstadt Lukaniens, veränderte sich die Landschaft bei der Fahrt ins Innere der Region: runde Hügelkuppen, gelblich und kahl, wie durch jahrhundertealte Trägheit entkräftet, eine wellenförmige Wüste und ein nicht endendes Feld der Ruinen einer armseligen Landwirtschaft. Ich begriff, was Carlo Levi sagen wollte, als er von der ‘düsteren Passivität einer trauernden Natur’ sprach. (...) Auf der Fahrt quer durch Lukanien ergriff mich bald eine undefinierbare ästhetische Beklemmung. In diesem Landstrich fühlt man sich nicht „zu Hause“, er hat etwas Unheimliches an sich. Die kleinen lukanischen Städte sehen aus, als wären sie bedrückt, sie wirken bescheiden, urzeitlich, außerirdisch, unzeitgemäß. Warum faszinierte mich dieses Lukanien, das so abweisend war? Eben deshalb, weil es mich abwies. Die Region ist rätselhaft, auch wenn sie sich als gastfreundliches Land tarnt. Es scheint in den Hängen ihrer ‘weißen, eintönigen, kalkigen Landschaft’ ein Geheimnis zu bergen ...“

Der italienische Theaterkritiker Andrea Porcheddu berichtet aus St. Petersburg: „Es passiert mitten während einer Feier. Jemand offenbart eine unbequeme Wahrheit. So geschah es bei der 17. Verleihung des renommierten Europäischen Theaterpreises. (...) Der Schweizer Regisseur Milo Rau war es, der die Kraft besaß, die Maske zu lüften und das glatte Spiel einer glanzvollen Preisverleihung durch seine Grußbotschaft zu unterbrechen. Der Europäische Theaterpreis kommt nach Rußland, und wir verlieren über Kirill Serebrennikow, der in ebendiesem Rußland von zehn Jahren Gefängnis bedroht ist, offiziell kein Wort. Wie können wir aber die Kraft und die Freiheit des Theaters, wie können wir uns selbst und den europäischen Austausch feiern, gleichzeitig aber darüber schweigen, daß einer der letztjährigen Preisträger einem Schauprozeß ausgeliefert ist? Wollen wir der Welt wirklich dieses unwürdige Schauspiel liefern? Was bedeutet das für den Europäischen Theaterpreis und für uns, die Theatermacher insgesamt, wenn wir nicht einmal zu dieser einfachsten Form von Solidarität bereit sind? (...) Es ist Zeit, daß wir alle unsere Unterstützung für Kirill Serebrennikow zum Ausdruck bringen – im Namen dieses Preises und des Theaters!’ Man kann sich vorstellen, wie die anwesenden Autoritäten erstarrten.“

Es wiad a Wein sein und wia wearn nimma sein“, so der Refrain eines dieser Wienerlieder, in denen es bis zum sprichwörtlichen Erbrechen darum geht, daß der Tod ein Wiener sei, die Frauen schön, und man auch im Grab so liegen wolle, wie neben oder auf einer Frau. Alles kann man begraben, nur nicht den Tod. Solch fadenscheinige Weisheiten sind dem Alkohol geschuldet. Herbert Maurer schildert das muntere philosophische und genießerische Treiben der Studenten beim Heurigen: Eigentlich im Wiener Wald. Man trinkt sich die Welt „schön“ und die Frauen noch schöner. Wird auch das Hirn reizvoller? Über die Zukunft des Alkohols in Wien und einen Begriff ohne Promillegrenze.

Das Verhältnis des Menschen zur Natur ist zwiegespalten. Sie versorgt ihn mit allem, was er braucht, und bedroht ihn doch mit dem Tod. Manchmal halten wir sie für schön, manchmal graust es uns vor ihr, manchmal beides zugleich. Mit der europäischen Aufklärung haben wir es uns angewöhnt, der Natur so zu begegnen, wie Immanuel Kant es fordert: „zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.“ Wir haben es weit gebracht mit dieser ruppigen Art, haben Relativitätstheorie und Quantenmechanik entwickelt, sind in der Lage, Krankheiten zu heilen und durch die Luft zu fliegen. Und ab und an gönnen wir uns einen Moment des Triumphs. Stehen auf einer Deichkrone, blicken aufs Meer und wissen, daß das Wasser nicht hinüberkommt. Oder gehen in einen Zoo und vergnügen uns am Anblick der eingesperrten Tiere, jedes einzelne ein Beleg menschlicher Herrschaft über die Natur. Ein solches Tier ist Rilkes Panther. Hinter tausend Stäben sucht Arne Eppers nach der Natur des Menschen.


KUNST

Magali Lambert
TU ES UNE MERVEILLE
Die Künstlerin ist Demiurgin eines phantastischen Universums. Sie dirigiert ein Flohmarktorchester der Poesie. Aufgegebene und verschwundene Dinge entreißt sie dem Vergessen, haucht ihnen neues Leben ein, läßt sie neue Rollen spielen auf surrealer Theaterbühne. Diese Tableaus unerwarteter Begegnungen rühren an Kindheitserinnerungen, lassen Traumprotagonisten auftreten, benutzen archetypische Muster, plündern Wunderkammern der Kultur, Natur, Technik und Religion. Das Rohmaterial dieser Inszenierungen könnte Spielzeugkisten, Biologieschränken, Nippesgeschäften, Antiquitätenläden entstammen. Eine Bild- und Ideenmaschine, die Unbehagen, Verblüffung, Humor provoziert und deren subversive Schönheit die lustvolle Vorstellung befeuert, die Abstellkammern unserer Gewohnheiten neu zu durchstöbern.

Wir wünschen Ihnen spannende Lektüre, eine schöne und friedliche Weihnachtszeit und einen schwungvollen Rutsch in ein gutes und gesundes 2019!

In unserer Bibliothek Gleichgewicht liegt neben LETTRE auch SINN UND FORM bzw. der MERKUR auf. 

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