IM EINZELNEN
DIESSEITS VON EDEN
„Der sich auf Gott
berufende Terrorismus, dieser gähnende schwarze Schlund, verdient es, daß man
ihn in unseren Ländern nicht nur energisch und ohne Zögern bekämpft, sondern
auch immer besser verortet und verfolgt. Aber scheuen wir dabei auch nicht vor
einem loyalen Blick auf uns selbst zurück.“
Die oft
suizidäre Tat des Terroristen zwingt uns zu bedenken, was man nicht mehr denken
will und, je mehr man sich an ihn gewöhnt, nicht mehr bedenken kann: den Platz
des Todes in unserem Leben. Oder, genauer gesagt, die Tatsache, daß er keinen
mehr hat. Régis
Debray fragt: Welche Lektionen kann der „Krieg gegen
den Terrorismus“ uns lehren? In der Bereitschaft, für ihr Ziel zu sterben und
souverän in den Tod zu gehen, setzen dschihadistische Kämpfer ihr Leben aufs
Spiel. Dieser Akt der Hingabe im selbstmörderischen Angriff ist zugleich Akt
der Auferstehung und Erlösung im Paradies, wo das wahre Leben die Märtyrer
erwartet. Der Tod ist für sie ein Schlüssel zur Ewigkeit. Der aufgeklärte
Westen hat diesem Konstrukt kaum etwas entgegenzusetzen. Die himmlische Stadt
hat ihre Tore geschlossen. Nachdem das Paradies auf die Erde gestürzt ist,
bleiben nur noch Steuerparadiese oder der Club Med. Eine Asymmetrie entsteht,
ein ungleicher Kampf. Wenn der Tod Gottes aus der Zukunft durch Fortschritt
unseren neuen Gott gemacht hat, welcher Gott kann sich noch anbieten nach
unserem resignierten Verlust des Glaubens an den Fortschritt und die Zukunft? Der tote Winkel – eine Zivilisationsdiagnose.
Geert Lovink durchstreift die Ruinen
digitaler Luftschlösser. Eine Programmierte Traurigkeit
durchzieht
die Atmosphäre der sozialen Medien. Durch Tweets, Likes und Bots ist man
optimal vernetzt, bestens informiert, profitiert von einer Fülle von Kontakten.
Doch scheinen intensive zwischenmenschliche Gefühle zu verarmen. Verlorenheit
und Traurigkeit machen sich breit, nach Jaron Lanier infolge gebieterischer
Standards in bezug auf Anerkennung, Beliebtheit sowie unrealistischen
Schönheits- und Statusidealen. Farbfunktionen, Doppelhäkchen decken alles auf.
Algorithmen erzählen, ob du mehr oder weniger Freunde hast als andere. Es gibt
keinen Freiraum mehr, ohne ständig beurteilt zu werden. Dazu kommt das Unwesen
anonymer Trolle. Die online-Medien kennen keine Regenerationspausen.
Empfindungen von Erschöpfung, Enttäuschung, Einsamkeit, Verunsicherung machen
sich breit. „Der naive Akt der Kommunikation ist verlorengegangen. Darum
weinen wir.“
Mit Paul Virilio verstarb ein hellwacher
Zeitdiagnostiker. Als Kind dem Panzer-Blitzkrieg und den Bombardements des
Zweiten Weltkriegs ausgesetzt, wurde die Katastrophe zum Lehrmeister seiner
Sensibilität. Die Bunkerarchitektur am Atlantik war ihm Metapher für die
„Festung Europa“. Er analysierte die technologische und informationelle Beschleunigung
als Vorzeichen katastrophischer Entwicklungen. Auf den Atomunfall sah er
Unfälle des Wissens folgen. Heinz-Norbert Jocks besuchte den Philosophen in La Rochelle vor seinem Tod und sprach
mit ihm über Krieg, Raum und Zeit, seine Erfahrungen, seine Erkenntnisse, über
die Kunst, die Welt und das Universum. Virilios letztes Interview: Universität des
Unglücks.
Der Karneval von Rio 2018 begann mit einem Paukenschlag. Der 2017
neugewählte evangelikale Bürgermeister von Rio de Janeiro, Marcelo Crivella,
Bischof der „Universalkirche vom Reich Gottes“, weigerte sich, am Höhepunkt des
Karnevals, einer Parade im Sambodrom, teilzunehmen. Ja, er verließ Rio
demonstrativ während der Tage der Ausschweifung. Nie zuvor hatte sich ein
Politiker derart ostentativ von dem katholisch grundierten Massenspektakel
abgewandt. Dieser Vorgang ist Anzeichen eines Umbruchs in dem traditionell
afro-katholischen Land. Könnten die mit viel amerikanischem Geld
missionierenden Evangelikalen in Zukunft Kultur und Politik der brasilianischen
Gesellschaft dominieren? Welche Rolle spielt dabei die Wahl des rechtsextremen
neuen Präsidenten? Der Religionswissenschaftler Reginaldo Prandi über Kirche, Tempel, Terreiro.
Das Photo eines das Schaufenster eines Uhrengeschäfts
betrachtenden Flußpferds, das bei einem Unwetter aus Tbilissis Zoo ausgebüxt
war, läßt Wolfgang
Popp nicht
mehr los, und er macht sich auf in die georgische Hauptstadt. Allgegenwärtig
sind die Spuren vergangener Dichter. Hier traf sich in den zwanziger Jahren der
Dichterzirkel Die Blauen Hörner, extravagante Dandys, die
Besuch von Majakowski, Pasternak und Mandelstam bekamen. Ihre Lyrik war
symbolistisch, spielte mit Futurismus und Dada, vergaß dabei aber nicht die
alte georgische Dichtkunst. Auf einer Schwarzweißaufnahme sieht man die beiden
zentralen Gestalten der Blauen Hörner: Titsian Tabidse mit lackierten
Fingernägeln und Paolo Iaschwili, mit blumengemusterter Krawatte. Beide halten
kleine Statuen in der Hand, zwei weiße Vögel, das Symbol der Blauen Hörner für Freiheit und pures Sein. Wie andere Schriftsteller wurden
beide zu Opfern des stalinistischen Terrors. Die Verehrung der Georgier für
ihre Poeten hat dennoch alle dunklen Zeiten überdauert und ist an allen Ecken
und Enden der Stadt zu spüren. „Der magische Realismus steckt uns im Blut“, meint ein georgischer Filmemacher. Und die Sprache habe sich in
den eintausendfünfhundert Jahren des georgischen Alphabets nie grundlegend
verändert. Der „innere Hall des Georgischen hat
eine eigene Frequenz, die etwas mit unserem Nervensystem macht. Selten erlebt
man eine Sprache, bei der die Konsonanten sich so knarrend aneinander reiben.“ Mit Nashorn und Esel taucht der Autor in die
uns fremde poetische Sphäre Georgiens ein – wir folgen ihm verzaubert über
Hügel und Hänge, durch Hinterhöfe und durch die sich wie Tiere schlängelnden
Straßen und Gassen Tiblissis!
Der türkische Schriftsteller Nedim Gürsel reist durch Iran. Das alte
Persien ehrte seine Dichter, und selbst die heutige Islamische Republik verehrt
die traditionellen Poeten Hafis und Saadi mit nationalem Stolz, während die
Dichter der Gegenwart mit Zensur und Gefängnis traktiert werden, so wie einst
unter dem Schah. Nedim Gürsel reist nach Teheran, Persepolis, Schiraz, Isfahan
und Chorasan, besucht Gärten und Paläste, Grabmäler und Tempel, begegnet
Schriftstellern, zoroastrischen Priestern und Intellektuellen. Seine poetische
Reportage über die Vielfarbigkeit und das erfinderische Überleben der Dichter
in Iran ergibt ein schillerndes Gegenbild zu den simplistischen Klischees über
Iran: Wein,
Rose, Nachtigall.
LITERARISCHE HELDEN
Wolf Reiser nimmt uns mit in
griechische Gärten, wo Libellen und Bienen um Orangen- und Avocadobäume tanzen,
Zistrosen, Salbei, Thymian, Salbei und Rosmarin ihre Düfte verströmen, wo der
Mohn explodiert. Und wir folgen ihm zu den Orten jener folgenreichen Begegnung
zwischen dem kretischen Schriftsteller Nikos Kazantzakis und dem 1865 in
Mazedonien geborenen Wanderarbeiter und Vagabunden Georgios Zorbas. Hirte,
Minendirektor, Gelegenheitsarbeiter, Vater von zehn Kindern, war dieser unstet
durch die Trümmerwelt der Balkankriege geirrt, ein Überlebender auf dem
Schlachtfeld des Lebens. Nun sitzt dieser Haudegen in einer Hafenkneipe jenem
Literaten gegenüber, der ihn unsterblich machen sollte. Es sprühen Funken, man
schmiedet Projekte, gründet ein Bergwerk, läßt die Erde vibrieren, huldigt dem
Wein, singt und tanzt, liebt und philosophiert, man verliert alles und feiert
doch das Leben. „Wenn man die Mysterien erlebt, gibt es keine Zeit für
Notizen.“ Doch ging aus dieser leidenschaftlichen Liebe
zwischen Tintenkleckser und Lebenskünstler ein grandioser Roman hervor: Alexis
Zorbas. Die Geschichte einer hinreißenden
Freundschaft, ein griechisches Zeitpanorama und eine Hymne auf das Leben: Zorbas, eine Odyssee.
Nicholas Shakespeare kennt wie kein anderer Leben und Werk des rastlosen literarischen
Erzählers Bruce Chatwin, der eine steile Karriere vom Impressionismus-Experten
bei Sotheby’s zum literarischen Wunderkind der kulturellen High Society machte.
Seine aufsehenerregenden Reisereportagen über Patagonien oder die Songlines der australischen Aborigines verhalfen ihm zu exzentrischer
Berühmtheit. Dreißig Jahre nach Chatwins Tod skizziert Shakespeare den
lebensgeschichtlichen Hintergrund eines Romans des extravaganten Autors: Chatwins Utz.
„Schweigen, List, Exil“, antwortete James Joyce auf die Frage nach den Ursachen seines
schwer errungenen Erfolgs. Wie später Samuel Beckett, war Joyce Irland
entflohen, weil er die erstickende Enge von Katholizismus und Kirche,
Nationalismus und Provinzialismus dort nicht ertrug. In Paris suchte er
Freiheit, Luft zum Atmen und Distanz zu seiner Familie, in der Hunger,
Bigotterie, Zerrüttung herrschte. Haßliebe verband ihn mit seinem Vater, einem
stadtbekannten Bonvivant, Trinker und Verschwender, Sänger und
Geschichtenerzähler, der seine Familie ins Elend stieß und den sein genialer
Sproß James Joyce später dennoch in eine literarische Romanfigur voller Witz
und Würde verwandelte. Colm Tóibín porträtiert Vater und Sohn: John Stanislaus Joyce.
Glanz und Elend des Übersetzens widmet sich der Ilias- und Odyssee-Übersetzer
Kurt
Steinmann und er gibt einen Überblick über die
Geschichte der Homer-Übersetzungen von J.H. Voss über Rudolf Alexander Schröder
bis zu Raoul Schrott und seiner eigenen. Welche Übertragung des Verses aus der
Leidensgeschichte des Sisyphos ist treffender? „Hurtig mit Donnergepolter
entrollte der tückische Marmor.“ – oder: „Und von Neuem rollte dann talwärts der schamlose Felsblock.“ Innige Vertrautheit mit
der Originalsprache wie der eigenen ist Voraussetzung jeder werkgetreuen
Übertragung. Es ist eine Sache von Kunstfertigkeit, Liebe und Glück, und jede
Übersetzung – eine „Aneignung des Fremden im Eigenen, ohne die Grenzen der
Lebensfähigkeit des einen wie des anderen zu verletzen“ – ist „Herangang“, „Weg
zum Werk“, bleibt vorläufig. Über poetische Schönheit und Botschaft aus anderer
Zeit: Homer
übersetzen.
TÖNE SCHÖPFEN
„Nach dem Zweiten Weltkrieg
verbreiteten sich weltweit und in Windeseile irrwitzig komplexe Systeme, um
Musik in komponierte Bahnen zu bringen. Das typische moderne Werk war
vertrackt, abstrakt, kantig in der Gestik und abrupt in den Übergängen.
Traditionelle Formen fielen in Ungnade. Emotionalität war verpönt.“ Unter einer „distinguierten
musikalischen Komposition“ verstand man um 1950, daß
jemand eine Partitur anfertigte, die gespielt und interpretiert wurde.
Allerdings schloß diese Definition Jazzkomponisten aus, deren Tradition
ausgeschriebene Partituren mit Improvisation kombiniert. Unterdessen hat die
Weiterentwicklung klassischer Komposition die Definition aufgeweicht. Schon in
den frühen fünfziger Jahren schufen Pierre Schaeffer und Pierre Henry mit ihrer
Musique concrète Klangcollagen, die aus
Elementen wie Aufnahmen von Lokomotiven und Stadtgeräuschen bestanden;
Karlheinz Stockhausen war ein Vorreiter in der Entwicklung elektronischer
Musik, John Cage stellte für Radio Music
ein Ensemble
aus Radioapparaten zusammen. Zum Ende des 20. Jahrhunderts hin konnte der
Begriff „Komponist“ einen Performance- oder einen Klangkünstler bezeichnen,
einen Avantgarde-DJ oder einen Laptop-Konzeptualisten.
Die siebziger und achtziger Jahre sahen eine allmähliche Rückkehr
zu einer auf tonalen Prinzipien basierenden Tonsprache – ob Minimalismus, Neue
Einfachheit oder Neoromantik. Doch weigerte sich die Avantgarde gleichermaßen
abzudanken, unberührt von den vielen Nachrufen, die auf sie geschrieben wurden.
Der amerikanische Musikkritiker Alex Ross sieht die Landschaften der zeitgenössischen Komposition so
fragmentiert und vielgestaltig wie die Formen der Kunst. Der etablierte Kanon
ist aufgebrochen, und dennoch zieht gerade der westliche Kanon schöpferische
Musiker aus aller Welt an: Klänge unserer Zeit. Über den dichten Klangteppich des beginnenden 21. Jahrhunderts.
Der Erfindung der Musik geht Philippe Manoury nach. „Komponieren heißt, dem Klanglichen einen Sinn
einzuhauchen.“ Klang, das ist der Rohstoff, Musik die organisierte Form des
Klanglichen. Doch wodurch entsteht eine musikalische Idee? Das musikalische
Imaginäre des Komponisten ist nicht ausschließlich von Klängen und Tönen
bevölkert. Auch das Visuelle spielt dabei mit. Und wie entsteht Neues im Reich
der Klänge selbst? Wie erhält der Musiker Zugang zur inneren Struktur der
Klänge? Zu Atmung, Schlag und Reibung als Quellen des Klangs kommt die
Elektrizität. Die physikalische Konstitution gliedert sich in harmonische,
unharmonische und geräuschhafte Klänge. Welche Rolle spielen Intuition,
Spontanität, Regeln, Systeme bei der Komposition? Wie interagieren numerische
Techniken, akustische Instrumente und die Stimme? Der Komponist, Pianist und
Pionier einer elektroakustischen Musik führt uns durch sein Laboratorium.
Manoury sieht sich in der Tradition Strawinskys: „Wir haben eine
Verpflichtung gegenüber der Musik, und die besteht darin, sie zu erfinden.“
Einen Blick aus musikphilosophischer Perspektive riskiert der
Komponist Moritz
Gagern auf
die Frage, ob Erzählen durch Musik möglich ist. Das musikalische Zeichen
kennt zwar keine konventionellen Bedeutungen und kann also auf nichts Äußeres
verweisen. Musik kann Erzählungen begleiten und im Gespann mit Worten, Bildern
und Tanzbewegungen selbst erzählerisch wirken. Das innermusikalische
Bezugssystem kann Klänge zu utopischen Gestalten verwandeln, Hörerwartungen
umlenken, Stimmungen aufeinanderprallen lassen, Raum und Zeit verändern. Aber
vermag Musik in ihrer bloßen akustischen Anordnung zu erzählen? Verkörpert
Musik etwas Außermusikalisches? Das Plädoyer eines Komponisten für ein
gelingendes Durcheinander von Autonomie und Funktionalität in der Musik.
Erik Satie war Exzentriker. Er gab sich nicht als Komponist,
sondern als Gymnopäde und Phonometriker; er akzeptierte nur weißes Essen,
spazierte in Priesterroben durch Paris, schlug in Montmartre über die Stränge,
interessierte sich für rare Meereskreaturen, unmögliche Maschinen und Okkultes.
Er war romantisch, mystisch und ironisch. Er setzte Gedichte in Musik um.
Einige seiner fragilen, überweltlichen Stücke für Piano nannte er „Stücke
in Form eines Pfirsichs“. Niedergeschlagenheit und
Mißerfolg lähmten lange seine Schaffenskraft. Dann führte Ravel seine Musik
auf, Debussy orchestrierte seine Gymnopédies. Später tauchte sein Name
nicht mehr in Konzertprogrammen auf. Er war ein Artrock-Star avant la
lettre. Nick Richardson über einen Samtenen Gentleman.
Eine Pianistengeschichte erzählt Jaume Cabré. „Er drehte am Hocker, weil er eine Winzigkeit zu niedrig war. Dabei
hatte er ihn vor einer halben Stunde noch genauestens justiert. Nein, jetzt ist
er zu hoch. Und er wackelt auch ein bißchen, siehst du? Scheiße. So. Nein.
Doch. Er zog sein Taschentuch aus der Jacke und trocknete sich die Handflächen
ab. Er nutzte die Gelegenheit, um mit dem Taschentuch auch über die makellosen
Tasten zu wischen, als seien sie noch feucht von anderen mißlungenen
Auftritten. Er zupfte seine Manschetten zurecht. Ich bin ein einziges
Nervenbündel. Meine Kehle ist trocken, mein Blut gibt mir lauter Stiche, und
mein Herz zerspringt fast wegen so vieler Dinge. Ich will nicht, daß mir die
Hände zittern. Rechts die tödliche Kälte des Publikums.“
IKONEN DES FILMS
„Alles, was ich im Kino
gemacht habe, habe ich gelebt“, so Alain Delon, monstre sacré des Weltkinos im Gespräch mit Samuel Blumenfeld – Bilanz eines Lebens und
einer Karriere, Rückblick auf über achtzig Filme, darunter Meisterwerke wie Der
eiskalte Engel von Jean-Pierre Melville
oder Rocco und seine Brüder von Luchino Visconti.
Delon erzählt von Kindheit und Jugend, vom Soldatenleben in Indochina, seiner
Liebe zu den Frauen und der Frauen zu ihm, seinen Lieblingsregisseuren, seiner
Zeit mit Romy Schneider und seinen Freundschaften mit Jean Gabin, Jean-Paul
Belmondo, Jean-Louis Trintignant und Gérard Dépardieu. Er hat Vorbehalte
gegenüber der Nouvelle Vague, bekennt sich zu seiner
Rolle als Monsieur Klein in Joseph Loseys Film,
spricht über #MeToo und den Wunsch, ein einziges Mal einen Film unter
weiblicher Regie zu drehen. Ein Blick ins Herz, offen und direkt – mit 83
Jahren.
Der deutsche Filmregisseur Roland Klick wird achtzig Jahre alt.
Arbeit, Ästhetik und Wirkung, die Filme und die gebrochene Karriere dieses
künstlerischen Außenseiters schildert Andreas Martin Widmann. Der „Neue Deutsche Film“ war ebenso eine Erfindung der Medien wie
eine schlichte Tatsache, aber weniger homogen, als das Etikett es suggeriert.
Dessen Klammer bildete der Generationenkonflikt. Gesellschaftspolitische
Absichten vermischten sich mit ästhetischen: die Ablehnung des Films als
Illusionsmaschinerie, das Kino sollte zum Schauplatz eines kritischen Diskurses
werden. Junge deutsche Regisseure entwickelten ihre Filmsprache gegen
Hollywood. Roland Klick steht für eine andere Spielart des deutschen Films. Im
ersten Bild seines Films Deadlock schlurft ein junger Mann
mit schulterlangem Haar und in silbergrauem Anzug durch eine Felswüste. Eine
blutende Wunde klafft am Oberarm, er trägt einen Diplomatenkoffer in der einen
Hand und eine Maschinenpistole in der anderen. Die Sonne ist gleißend wie
flüssiges Quecksilber. Mit der Musik von Can entwickeln diese Bilder eine befreiende Wucht, als fahre eine
Gewitterböe in einen stickigen Raum und stoße darin die Fenster auf. Man erlebt
eine Ausbruchsphantasie. Roland Klick dreht Filme, welche die Filmsprache des
amerikanischen Erzählkinos nicht zurückweisen, sondern sich ihrer bedienen, um
daraus Eigenes zu destillieren, wobei Kunst und Massenpublikum sich nicht
widersprechen müssen. Über das filmische Schicksal eines rebellischen
Einzelgängers: Verloren im Supermarkt.
Der schwedische Filmregisseur Ingmar Bergman nennt den Film einen
Traum. Er schreibt: „Keine Kunstform geht wie der Film an unserem
Tagesbewußtsein vorbei direkt auf unsere Gefühle zu, die tief im Dämmerraum der
Seele verborgen liegen.“ Michael Düe nähert sich Bergman aus psychoanalytischer Perspektive: Bergman
machte seine eigenen persönlichen Konflikte, Traumata und Erinnerungen zum
Rohstoff seiner Filme. So wurde es ihm möglich, selbst mit bedrängendsten und
beschämendsten Gefühlen und Erlebnissen umzugehen. Eine Psychoanalyse für sich
selbst lehnte er ab, um seine Pathologien seinem künstlerischen Lebenswerk
dienstbar zu machen. Die Schauspieler wurden zu Trägern der eigenen
externalisierten psychischen Dramen. Über Neurose und Kreativität, das Theater
als Ehefrau und den Film als Geliebte: Bergman auf der Couch.
An das goldene Zeitalter des Films erinnert Fabio Stassi, eine Ära, die
unwiderstehliches Licht verströmt, wie das verklärte Paris Hemingways. Aus dem
verarmten Sizilien emigrierte Frank Capra ins gelobte Land mit dem Willen zum
Erfolg und fand sich auf Filmsets in Hollywood wieder, zwischen Zigarren und
Spucknäpfen, in einem von Wahnsinnigen und Übergeschnappten wimmelnden
Laboratorium, wo eine völlig neue Kunst entstehen sollte. Er stieß auf eine
Zeitungsanzeige: „Die große Woche für verrückte Träumer“ und lernte
blitzschnell die Hauptregeln einer hartumkämpften Branche. „Was die Leute am
meisten interessiert, sind die Leute.“ Oder: „Im Kino gibt es
keine einfachen Regeln, nur Sünden, und eine Todsünde ist die Langeweile“. Er wollte nach oben und entdeckte, was Leute zum Lachen brachte:
die starrsinnige Unnachgiebigkeit unbeseelter Objekte. Rezepte eines
Meisterregisseurs: Frank Capras Geheimnis.
Mit Struwwelpeter, Tim und Struppi, Krazy Kat, Flash Gordon und
Popeye auf du und du erweist sich Georg Stefan Troller in Die Comics meines Lebens. Der vielgerühmte Dokumentarfilmer erinnert
sich an Begegnungen mit der 1943 in Auschwitz ermordete Charlotte Salomon, die
ihr Leben in 1 300 Bildern festhielt und mit Frans Masereel über dessen
Holzschnittfolge Mein Stundenbuch. Er trifft die selbstbewußte Claire
Bretécher, die für die Zeitschrift Hara-Kiri arbeitete, beobachtet die Zeichner Siné, Sempé und Reiser sowie
die Strippenzieher von Asterix und Obelix, René Goscinny und Albert Uderzo. In
Kalifornien dreht er mit dem exzentrischen Robert Crumb, Erfinder von Fritz
the Cat, in New York erzählt ihm Art Spiegelman, Autor
von Maus, vom tragischen Schicksal
seiner Familie.
BRIEFE, KOMMENTARE, KORRESPONDENZEN
Die junge Dacia Maraini begegnet der Gestalt der
Europa in der Griechischen Mythologie von Robert Graves, ein Buch, das
sie von dessen Tochter Judith geschenkt bekommt. Die junge Frau taucht ein in
römische Schriftstellerkreise und liest Conrad, Svevo, Balzac, Pirandello und de Beauvoir, die von Europa erzählen,
ein jeder auf seine Weise. Graves’ Erzählung des
Mythos der Europa und ihr Leben als geraubte und vergewaltigte Geliebte Zeus’
fesseln sie. Eine literarische Lektion: Für Maraini gleichen sich die junge
Frau Europa und Unser kleines großes Europa
in ihren
schmerzhaften Erfahrungen, aber auch in ihrer Stärke und Leidenschaft.
Was auf dem Spiel steht betitelte der Künstler Mark Lammert seine analytische Laudatio auf Lettre, als der Zeitschrift
im Oktober 2018 der Konrad-Wolf-Preis der Akademie der Künste
Berlin verliehen wurde. Auszüge:
„Als die Zeit des Kalten
Krieges und der Stagnation sich dem Ende zuneigte, beginnt 1988 die Zeit der
deutschen Lettre International, gegenüber den schon
vorhandenen Redaktionen in Paris, Madrid und Rom eine autonome, gewissermaßen
autarke, selbständige, etwas verspätete Gründung, unterscheidbar in mehreren
Punkten von ihren damaligen Partnerzeitschriften.
Lettre, als sie sich gründete,
nützte auch den Freiraum, den die Abnutzung von Überzeugungen bot.
Der entscheidende und entschiedene Unterschied war vom ersten Heft
an das Bündnis mit den gesamten Künsten und den Künstlern. Eine neue
Form von neuem Optimismus.
Das Überleben der Berliner Ausgabe einer europäischen Idee könnte
auch auf diesem radikalen intellektuellen Bündnis und dem gleichzeitigen
Vertrauen in Texte und in Bilder gründen. (...)
‘Die moderne Kunst hat’, sagt Foucault, ‘eine Funktion, die man wesentlich antikulturell
nennen könnte. Dem Konsens der Kultur gilt es, den Mut der Kunst in seiner
barbarischen Wahrheit gegenüberzustellen ...’ (...)
Jean-Luc Godards Satz ‘Die Kultur ist die Norm, Kunst ist die
Ausnahme’ trifft hier sein Gegenteil. (...)
Von Wolfgang Kohlhaase, Konrad Wolfs wichtigstem Autor, stammt die
sehr einleuchtende Beobachtung, daß ‘diese Mischung aus Gleichgültigkeit,
Empfindungsarmut, Ich-Bezogenheit, aus der sich die Katastrophen vorbereiten,
deren Ursachen dann keiner mehr entschlüsseln kann ... viel aufregender und
bedrohlicher [ist] ... als jeder unverhüllte Extremfall.’“
An Harald Szeemanns Kunst des Zeigens erinnert der Schweizer Kunsthistoriker Roman Kurzmeyer. Szeemann galt und gilt
unter Künstlern, Kuratoren und Galeristen als großer Ausstellungsmacher des
späten 20. Jahrhunderts. Im Einklang mit seiner Künstlergeneration wandte er
sich schon früh gegen das Museum als Haus der Kunstgeschichte und wurde
mittelbar zu einem Wegbereiter der Eventkultur in der visuellen Kunst. Seine Idee eines „Museums der Obsessionen“ meinte ein Museum im Kopf,
ein Ideengebäude, eine Denkfigur, wo die Frage nach der Visualisierung der
Vielfalt menschlicher Emotionen leitend sein sollte. Szeemann stellte in seinen
Ausstellungen Kunst nicht als Kunst ins Zentrum, sondern als Medium
individueller, gesellschaftlicher und kultureller Utopien, Phantasien,
Obsessionen und Konflikte, und veränderte damit das Format „Ausstellung“
radikal. Eine Hommage.
Sergio Benvenuto berichtet aus Matera – Europas Kulturstadt 2019. „Hinter Potenza, der
Hauptstadt Lukaniens, veränderte sich die Landschaft bei der Fahrt ins Innere
der Region: runde Hügelkuppen, gelblich und kahl, wie durch jahrhundertealte
Trägheit entkräftet, eine wellenförmige Wüste und ein nicht endendes Feld der
Ruinen einer armseligen Landwirtschaft. Ich begriff, was Carlo Levi sagen
wollte, als er von der ‘düsteren Passivität einer trauernden Natur’ sprach. (...) Auf der Fahrt quer durch Lukanien ergriff mich bald
eine undefinierbare ästhetische Beklemmung. In diesem Landstrich fühlt man sich
nicht „zu Hause“, er hat etwas Unheimliches an sich. Die kleinen lukanischen Städte sehen aus, als wären sie
bedrückt, sie wirken bescheiden, urzeitlich, außerirdisch, unzeitgemäß. Warum
faszinierte mich dieses Lukanien, das so abweisend war? Eben deshalb, weil es
mich abwies. Die Region ist rätselhaft, auch wenn sie sich als gastfreundliches
Land tarnt. Es scheint in den Hängen ihrer ‘weißen, eintönigen, kalkigen
Landschaft’ ein Geheimnis zu bergen ...“
Der italienische Theaterkritiker Andrea Porcheddu berichtet aus St. Petersburg: „Es
passiert mitten während einer Feier. Jemand offenbart eine unbequeme Wahrheit.
So geschah es bei der 17. Verleihung des renommierten Europäischen
Theaterpreises. (...) Der
Schweizer Regisseur Milo Rau war es, der die Kraft besaß, die Maske zu lüften
und das glatte Spiel einer glanzvollen Preisverleihung durch seine
Grußbotschaft zu unterbrechen. ‘Der Europäische Theaterpreis kommt nach
Rußland, und wir verlieren über Kirill Serebrennikow, der in ebendiesem Rußland
von zehn Jahren Gefängnis bedroht ist, offiziell kein Wort. Wie können wir aber
die Kraft und die Freiheit des Theaters, wie können wir uns selbst und den
europäischen Austausch feiern, gleichzeitig aber darüber schweigen, daß einer
der letztjährigen Preisträger einem Schauprozeß ausgeliefert ist? Wollen wir
der Welt wirklich dieses unwürdige Schauspiel liefern? Was bedeutet das für den
Europäischen Theaterpreis und für uns, die Theatermacher insgesamt, wenn
wir nicht einmal zu dieser einfachsten Form von Solidarität bereit sind? (...)
Es ist Zeit, daß wir alle unsere Unterstützung für Kirill Serebrennikow zum
Ausdruck bringen – im Namen dieses Preises und des Theaters!’ Man kann sich
vorstellen, wie die anwesenden Autoritäten erstarrten.“
„Es wiad a Wein sein und
wia wearn nimma sein“, so der Refrain eines
dieser Wienerlieder, in denen es bis zum sprichwörtlichen Erbrechen darum geht,
daß der Tod ein Wiener sei, die Frauen schön, und man auch im Grab so liegen wolle,
wie neben oder auf einer Frau. Alles kann man begraben, nur nicht den Tod.
Solch fadenscheinige Weisheiten sind dem Alkohol geschuldet. Herbert Maurer schildert das muntere philosophische und genießerische Treiben der
Studenten beim Heurigen: Eigentlich im Wiener Wald. Man trinkt sich die Welt „schön“ und die Frauen noch schöner. Wird auch das Hirn reizvoller? Über
die Zukunft des Alkohols in Wien und einen Begriff ohne Promillegrenze.
Das Verhältnis des Menschen zur Natur ist zwiegespalten. Sie versorgt
ihn mit allem, was er braucht, und bedroht ihn doch mit dem Tod. Manchmal
halten wir sie für schön, manchmal graust es uns vor ihr, manchmal beides
zugleich. Mit der europäischen Aufklärung haben wir es uns angewöhnt, der Natur
so zu begegnen, wie Immanuel Kant es fordert: „zwar um von ihr belehrt zu
werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen
läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen
nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.“ Wir haben es weit gebracht mit dieser ruppigen Art, haben
Relativitätstheorie und Quantenmechanik entwickelt, sind in der Lage,
Krankheiten zu heilen und durch die Luft zu fliegen. Und ab und an gönnen wir
uns einen Moment des Triumphs. Stehen auf einer Deichkrone, blicken aufs Meer
und wissen, daß das Wasser nicht hinüberkommt. Oder gehen in einen Zoo und
vergnügen uns am Anblick der eingesperrten Tiere, jedes einzelne ein Beleg
menschlicher Herrschaft über die Natur. Ein solches Tier ist Rilkes Panther. Hinter tausend Stäben sucht Arne Eppers nach der Natur des Menschen.
KUNST
Magali Lambert
TU ES UNE MERVEILLE
Die Künstlerin ist Demiurgin eines phantastischen Universums. Sie dirigiert ein Flohmarktorchester der Poesie. Aufgegebene und verschwundene Dinge entreißt sie dem Vergessen, haucht ihnen neues Leben ein, läßt sie neue Rollen spielen auf surrealer Theaterbühne. Diese Tableaus unerwarteter Begegnungen rühren an Kindheitserinnerungen, lassen Traumprotagonisten auftreten, benutzen archetypische Muster, plündern Wunderkammern der Kultur, Natur, Technik und Religion. Das Rohmaterial dieser Inszenierungen könnte Spielzeugkisten, Biologieschränken, Nippesgeschäften, Antiquitätenläden entstammen. Eine Bild- und Ideenmaschine, die Unbehagen, Verblüffung, Humor provoziert und deren subversive Schönheit die lustvolle Vorstellung befeuert, die Abstellkammern unserer Gewohnheiten neu zu durchstöbern.
TU ES UNE MERVEILLE
Die Künstlerin ist Demiurgin eines phantastischen Universums. Sie dirigiert ein Flohmarktorchester der Poesie. Aufgegebene und verschwundene Dinge entreißt sie dem Vergessen, haucht ihnen neues Leben ein, läßt sie neue Rollen spielen auf surrealer Theaterbühne. Diese Tableaus unerwarteter Begegnungen rühren an Kindheitserinnerungen, lassen Traumprotagonisten auftreten, benutzen archetypische Muster, plündern Wunderkammern der Kultur, Natur, Technik und Religion. Das Rohmaterial dieser Inszenierungen könnte Spielzeugkisten, Biologieschränken, Nippesgeschäften, Antiquitätenläden entstammen. Eine Bild- und Ideenmaschine, die Unbehagen, Verblüffung, Humor provoziert und deren subversive Schönheit die lustvolle Vorstellung befeuert, die Abstellkammern unserer Gewohnheiten neu zu durchstöbern.
Wir wünschen Ihnen spannende Lektüre, eine schöne und friedliche
Weihnachtszeit und einen schwungvollen Rutsch in ein gutes und gesundes 2019!
In unserer Bibliothek Gleichgewicht liegt neben LETTRE auch SINN UND FORM bzw. der MERKUR auf.
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