Haimo L. Handl
Die Sündenböcke
Sogar während der Hochzeit der Aufklärung war das
Sündenbockdenken nicht eliminiert worden. Es überdauerte, passte sich an und
feiert, gestärkt, fröhliche Urständ in unseren Gesellschaften, ganz gleich, ob
moderner Westen oder mittelalterliche moslemische Gemeinschaften oder das
offiziell atheistische China. Sündenböcke werden gebraucht und geschlachtet.
Hier gibt’s keine Veganer, hier lecken alle Blut und viele, viele baden darin.
Theorien als auch Glaubenssysteme haben ihre Zeiten. Der
Kurs schwankt manchmal, aber, ähnlich dem Sündenbockdenken, es gibt nie eine
glaubenslose oder theorielose Zeit und Gesellschaft. Gegenwärtig erfahren wir,
korrespondierend zur realen Klimakatastrophe eine der Ideen- und Geisteswelt,
eine der Theorien und Religionen. Die Temperaturen steigen, erhitzen die Köpfe,
bringen das Blut vieler zum Wallen, engen den Blick ein, schaffen Atemnot, so
dass die Keuchenden, die Leidenden die Sündenböcke wieder fokussierter suchen
und finden, um sich an ihnen abzureagieren oder sich in der Entledigung, einer
Art Entsorgung, „gütlich“ zu tun, den immensen Druck zu mindern, den sie
innerlich spüren, der ihnen ihr gequältes Leben noch mehr vergällt. Erst wenn
der Bock getötet ist, nehmen die Spannungen ab, beruhigt sich der Gehetzte,
Verfolgte, Leidende. Er muss den Spieß umdrehen, muss selbst Verfolger, Jäger
werden, Töter, nur dann kann er sich Genugtuung verschaffen und kurzzeitige
Atempause, bis der ewige Kampf wieder aufgenommen und weitergeführt wird. So
war es in der Geschichte, so ist es heute, so wird es morgen sein.
Kulturkritik gibt es in zwei diametralen Bereichen: hier die
emanzipatorisch orientierte, positiv denkende, die trotz ihrer Kritik nicht im
Negativen versinkt (Freud, Adorno oder auch Sennett), dort die negative, die
den Untergang programmiert sieht bzw. die Unmöglichkeit (positiv) human
intervenieren zu können (Joseph de Maistre, Oswald Spengler, Carl Schmitt oder
René Girard). Gegenwärtig sind die Religionen und extremen Negativtheorien in
Hochkonjunktur und mit ihnen der Beifallskommentar der Rechten, der Gläubigen,
der Verfolger, Hetzer und Jäger, der Strafenden aller Richtungen. Man könnte,
wollte man ein allegorisches Bild fabrizieren, links die Kulturlandschaft
zeigen und rechts die Wildnis, die rohe Natur: in der Kultur die Versuche zur
Humanität, in der rohen Natur das Regime der Hölle, der Strafe.
Dass in unserer Kultur Strafphantasten wie Dante als
hochwertigste Künstler gepriesen werden, zeigt nur eine Verwirrung und
Verkommnis: nie kann ein künstlerisches Vermögen die Inhumanität eines Strafen
Wollenden, eines Rächers, aufwiegen. Er zeugt vom niederen Stand des Untiers,
das er noch ist, auch wenn er es camouflagiert. Auch Religionen tarnen ihr
böses Denken, ihr tiefes, unabdingbares Strafbedürfnis, manchmal mit einem
Programm der Liebe, einer allerdings, die ins Gegenteil umschlägt, wenn sie
nicht nach den Bedürfnissen ihres Gottes, in dessen Namen die Stellvertreter und
Propheten walten, geartet ist. Der „liebe Gott“ ist der unerbittliche böse
Strafende, der die ewige Verdammnis, etwas, das kein irdischer Scherge und
Folterer zu verabreichen vermag, ausspricht. Gott ist wahrlich die Kehrseite
des Teufels, beide das Konstrukt Geängstiger, selbst böse werdende oder
gewordene Täter.
Als ich vor Jahren von René Girard sein Buch „Das Heilige
und die Gewalt“ las (zuerst in der amerikanischen Übersetzung aus dem Jahre
1977, weil die deutsche erst viel später auf den Markt kam und ich das
Original, das 1972 erschienen war, nicht lesen konnte), vermochte ich seiner
Mimetischen Theorie bzw. seiner Sündenbocktheorie nicht viel abzugewinnen. Er
schien mir eine religiöse Außenseiterstimme, ein Franzose, der wie viele andere
in den USA seinen Arbeitsplatz und sein Publikum gefunden hat und den
katholischen Geist stärkte. Der Kontrast zur positiven Kulturkritik war zu
grell, als dass ich Girards Ausführungen hätte näher folgen wollen. Später
verstärkte sich meine Abneigung. Ich sah ihn als religiösen Apologeten, als
einen, der den Rechten oder faschistoiden Kräften seine Stimme gab oder borgte.
Kürzlich erschien eine Biografie über ihn von Cynthia L.
Haven, die von Robert Pogue Harrison in der New York Review of Books besprochen
wurde. Ich kenne die Autorin nicht und nicht ihre Biografie. Aber ich kenne
Harrison durch etliche Bücher von ihm und las deshalb aufmerksam seine
Rezension, die sich auch auf andere Werke von Girard stützt. So zitiert Harrison
einige Sätze von Girard aus Les origines de la culture (2004), die er als
besonders aktuell für heute empfindet:
“In the affluent West, we live in a world where
there is less and less need therefore and more and more desire…. One has today
real possibilities of true autonomy, of individual judgments. However, those
possibilities are more commonly sold down the river in favour of false
individuality, of negative mimesis…. The only way modernity can be defined is
the universalization of internal mediation, for one doesn’t have areas of life that
would keep people apart from each other, and that would mean that the
construction of our beliefs and identity cannot but have strong mimetic
components.”
Harrison
schreibt dazu:
Since
then social media has brought “the universalization of internal mediation” to a
new level, while at the same time dramatically narrowing the “areas of life
that would keep people apart from each other.”
Social media is the miasma of mimetic desire. If you post pictures of your summer vacation in Greece, you can expect your “friends” to post pictures from some other desirable destination. The photos of your dinner party will be matched or outmatched by theirs. If you assure me through social media that you love your life, I will find a way to profess how much I love mine. When I post my pleasures, activities, and family news on a Facebook page, I am seeking to arouse my mediators’ desires. In that sense social media provides a hyperbolic platform for the promiscuous circulation of mediator-oriented desire. As it burrows into every aspect of everyday life, Facebook insinuates itself precisely into those areas of life that would keep people apart.
Social media is the miasma of mimetic desire. If you post pictures of your summer vacation in Greece, you can expect your “friends” to post pictures from some other desirable destination. The photos of your dinner party will be matched or outmatched by theirs. If you assure me through social media that you love your life, I will find a way to profess how much I love mine. When I post my pleasures, activities, and family news on a Facebook page, I am seeking to arouse my mediators’ desires. In that sense social media provides a hyperbolic platform for the promiscuous circulation of mediator-oriented desire. As it burrows into every aspect of everyday life, Facebook insinuates itself precisely into those areas of life that would keep people apart.
Er umreißt damit einige wichtige Aspekte. Distanz ist eine
Grundvoraussetzung von Würde. Wer die Distanz zum Anderen aufhebt, kommt ihm zu
nahe, beraubt ihn seines direktesten Freiraums, rückt ihm auf die Pelle. Jene,
die die Distanz verringern, die Folterer, pellen dann das Opfer, sie nehmen ihm
die Haut ab, schälen es, wie man eine Kartoffel pellt.
Die Überlegung von Girard hinsichtlich der falschen
Individualität, der negativen Mimetik, illustriert die Lage des Mitläufers, des
Anpasslers und Opportunisten, der bei allem mittut, sei es im Höhnen und
Kommandieren von straßenwaschenden Juden, sei es im lauten Mob, der gejagte
Opfer zu Tode prügelt oder in simplen Alltagshandlungen, die für sich gesehen
nicht weiter auffallen, im Verbund mit den anderen Mitläufern jedoch zur
Elendstat werden (Hilfe unterlassen oder behindern, geistig an der Hetze
mitmachen, heute über die social media ganz einfach aber effektiv möglich). Der
Satz von Harrison, „Social media ist he miasma of mimetic desire.” ist
herauszustreichen. Hier wird der Neid
als Urtriebskraft angesprochen
Habe ich zu unrecht Girard für mich abgeurteilt, ins Eck
gestellt? Nein, denn er stellt das Sündenbockverhalten als Gesundheitsmaßnahme
heraus, er holt aus der Geschichte das, was er vordergründig dafür als
billigen, griffigen Beleg braucht, er stellt nicht kritisch in Frage, er bejaht
in falscher Weise. Was in den Siebzigerjahren vielleicht eine Außenseiterstimme
war, geriert sich heute zum Credo von Unverbesserlichen, von Faschisten und
anderen engstirnigen Gläubigen. Dazu Harrison:
Girard interpreted archaic rituals, sacrifices,
and myth as the symbolic traces or aftermath of prehistoric traumas brought on
by mimetic crises. Those societies that saved themselves from self-immolation
did so through what he called the scapegoat mechanism. Scapegoating begins with
accusation and ends in collective murder. Singling out a random individual or
subgroup of individuals as being responsible for the crisis, the community
turns against the “guilty” victim (guilty in the eyes of the persecutors, that
is, since according to Girard the victim is in fact innocent and chosen quite
at random, although is frequently slightly different or distinct in some
regard). A unanimous act of violence against the scapegoat miraculously
restores peace and social cohesion (unum pro multis, “one for the sake
of many,” as the Roman saying puts it).
Der Rekurs auf alte Religionen ist genauso fragwürdig wie
der auf vorsintflutliche Sichten und Rituale. Sie stellen nie eine
Rechtfertigung dar, höchstens eine Erklärung, die aber gewertet werden müsste.
Die Wertung ist akademisch und sozial erfolgt. Girard wurde mit vielen
Ehrendoktoraten gepriesen, erhielt den Ordre des Arts et des Lettres. Er ist
der Paradekatholik. Er ist jener, der das Sündenbockverhalten „akademisiert“
und abhakbar macht. Er ist ein Wolf im Schafspelz. Die neuen Rechten, die
Neofaschisten, kommen ganz ohne diese Academia aus, bleiben aber im Geiste der
Sündenbockkultur: sie hetzen, jagen, verfolgen, töten.
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