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Bitte 2013, alles, nur nicht noch drei Dutzend Frühlingsopfer, zum einhundertsten Geburtstag
Wiebke Hüster , Blog FAZ, 27.12.2012
"Strawinskys Befangenheit im Immergleichen ist zugleich die in der Kultur. Das kettet ihn an die Affirmation und stiftet ein sinistres Büdnis zwischen seiner Musik und dem Schaurigen, das sie aufzeichnet. Aber ihre Komplizität mit der Unwahrheit ist hart an der Wahrheit. Der Parodiker ist auch einer der Dialektik. Diese bestimmt das Neue als in sich selbst reflektierte, umschlagende Gestalt des Alten. Bei ihm wird das Alte unmittelbar bestätigt, aber die Gewalt, die auf das immer Identische drückt, raubt ihm seine Identität, köpft es schließlich, indem sie es erzwingt. In den Augenblicken, in denen bei Strawinsky Charaktere des Schwachsinnigen, Idiotischen hörbar wrden, in der imagerie des Clowns, die seit der Szene bei Petruschka immer wiederkehrt, stellt das verdinglichte Bewußtsein, dessen exemplarischer Musiker er gewesen ist, sich dar, ohne ein anderes zu werden oder ein anderes zu erschleichen, und doch mehr als nur es selber. (...) Wiederhlung selber ist ein Schema des Vertierten. Indem Musik ihm sich anheimngibt, verwandelt sie äußerste Naturferne in ihr eigenes Tierhaftes. Ihr Geist wird Kreatur. Die Stellen Strawinskys, in denen das glückt, sind unauschlöschlich."Auf Strawinsky war er allerdings schon früher eingegangen, nämlich in seinem ersten Buch, das er nach der Naziherrschaft wieder in Deutschland veröffentlichte: "Philosophie der neuen Musik" (1949). Diese Publikation hat viel Staub aufgewirbelt. Sie ist nicht nur eine musikalische Kritik, sondern auch eine gesellschaftliche, ideologische mit vielen Aufweisungen weiter Verbindungen einer komplexen, nicht nur französisch-russischen, sondern europäischen Struktur.
Hier einige Zitate daraus:
Adorno: Strawinsky und die Restauration
Verzicht auf allen
Psychologismus, die Reduktion auf das reine Phänomen, wie es als solches sich
gibt, soll eine Region unbezweifelbaren, »authentischen« Seins eröffnen. Hier
wie dort verführt das Mißtrauen gegen das nicht Originäre – im tiefsten die
Ahnung des Widerspruchs zwischen der realen Gesellschaft und ihrer Ideologie –
dazu, den »Rest«, der nach Abstrich des vermeintlich Hineingelegten übrig sei,
als Wahrheit zu hypostasieren. Hier wie dort ist der Geist in der Täuschung
befangen, er könne im eigenen Umkreis, dem von Gedanken und Kunst, dem Fluch
entrinnen, bloß Geist, Reflexion, nicht Sein selber zu sein; hier wie dort wird
der unvermittelte Gegensatz von »Sache« und geistiger Reflexion zum Absoluten
gemacht und darum das Produkt vom Subjekt mit der Würde des Natürlichen
investiert. Beide Male handelt es sich um den schimärischen Aufruhr von Kultur
gegen ihr eigenes Wesen als Kultur. Solchen Aufruhr unternimmt Strawinsky nicht
bloß im vertraut-ästhetischen Spiel mit der Barbarei, sondern in der grimmigen
Suspension dessen, was in Musik Kultur hieß, des human beredten Kunstwerks. Ihn zieht es dorthin, wo Musik, hinter dem
entfalteten bürgerlichen Subjekt zurückgeblieben, als intentionslose fungiert
und körperliche Bewegungen anregt anstatt noch zu bedeuten: dorthin, wo die
Bedeutungen so ritualisiert sind, daß sie nicht als spezifischer Sinn des
musikalischen Akts erfahren werden. Das ästhetische Ideal ist das des
unbefragten Vollzugs. Wie Frank Wedekind in seinen Zirkusstücken wird ihm
»körperliche Kunst« zur Parole. Er beginnt als Stabskomponist des russischen
Balletts. Seit Petruschka zeichnen seine Partituren Gesten und Schritte vor und
entfernen sich weiter stets von der Einfühlung in die dramatische Person. Sie
schränken sich spezialistisch ein, im äußersten Gegensatz zu jenem umfassenden
Anspruch, wie ihn die Schönbergschule noch in ihren exponiertesten Gebilden mit
dem Beethoven der Eroica teilt. Der Arbeitsteilung, wie sie in der Ideologie
von Schönbergs »Glücklicher Hand« denunziert wird, entrichtet Strawinsky listig
den Tribut, der Hilflosigkeit des Versuchs sich bewußt, über die Grenze des
handwerklich definierten Vermögens durch Vergeistigung hinauszugehen. Darin
lebt, neben der zeitgemäßen Gesinnung des Fachmanns, ein Antiideologisches:
seine präzise Aufgabe erfüllen; nicht, wie Mahler es nannte, mit allen Mitteln
der Technik eine Welt bauen. Als Kur gegen die Arbeitsteilung schlägt er vor,
sie auf die Spitze zu treiben und damit der arbeitsteiligen Kultur ein
Schnippchen zu schlagen. Aus dem Spezialistentum macht er die Spezialität von
Music Hall, Varieté und Zirkus, wie sie in »Parade« von Cocteau und Satie
glorifiziert, aber schon in Petruschka vorgedacht ist. Die ästhetische Leistung
wird vollends, wozu sie bereits im Impressionismus sich anschickte, tour de
force, Brechung der Schwerkraft, Vorspiegelung eines Unmöglichen durch äußerste
Steigerung des Sondertrainings. (...)
Das blind unendliche, den
ästhetischen Antinomien gleichsam entronnene Gelingen des Akrobatenaktes wird
bejubelt als jähe Utopie eines kraft äußerster Arbeitsteilung und
Verdinglichung die bürgerlichen Grenzen Überfliegenden. Intentionslosigkeit
gilt für das Versprechen der Einlösung aller Intention. Petruschka, dem Stil
nach »neoimpressionistisch«, setzt sich aus ungezählten Kunststücken, vom
auskomponierten Sekundengeschwirr des Jahrmarkts bis zur verhöhnenden
Nachahmung aller von der offiziellen Kultur verworfenen Musik, zusammen. Er
kommt aus der Atmosphäre des literarisch-kunstgewerblichen Kabaretts. (...)
Die Tendenz führt vom
Kunstgewerbe, das die Seele als Ware zurichtet, zur Negation der Seele im
Protest gegen den Warencharakter: zur Vereidigung der Musik auf die Physis, zu
ihrer Reduktion auf die Erscheinung, die objektive Bedeutung annehme, indem sie
auf Bedeuten von sich aus verzichtet. (…)
Aber in der Behandlung des
tragischen Clowns trennen sich die historischen Linien der neuen Musik .
[Fußnote 3: Der frühere Strawinsky war, wie Cocteau damals offen
aussprach, von Schönberg weit stärker beeindruckt, als heute im Streit der
Schulen zugegeben wird. An den Japanischen Liedern und vielen Details des
Sacre, zumal der Introduktion, ist der Einfluß offenbar. Aber er dürfte sich
bis auf den Petruschka zurückverfolgen lassen. Das Partiturbild der letzten
Takte vor dem berühmten russischen Tanz des ersten Bildes etwa, nach Ziffer 32,
vor allem vom vierten Takt an, wäre ohne Schönbergs Orchesterstücke op. 16
schwer vorzustellen.]
Wohl fehlen ihm nicht
subjektivistische Züge, aber die Musik schlägt sich eher auf die Seite derer,
die den Mißhandelten verlachen, als auf dessen eigene, und folgerecht wird die
Unsterblichkeit des Clowns am Ende für
das Kollektiv nicht zur Versöhnung sondern zur bösen Drohung. Subjektivität
nimmt bei Strawinsky den Charakter des Opfers an, aber – und darin mokiert er
sich über die Tradition humanistischer Kunst – Musik identifiziert sich nicht
mit diesem sondern mit der vernichtenden Instanz. Durch die Liquidation des
Opfers entäußert sie sich der Intentionen, der eigenen Subjektivität. (...)
In solchem eitlen Leiden unter
dem Wissen ist bereits ein Moment der Selbstauslöschung des Betrachters
impliziert. Wie er im Tönen der Karussells gleichsam untergeht und sich als
Kind aufspielt, um dergestalt die Last des rationalen Alltags wie der eigenen
Psychologie loszuwerden, so entäußert er sich seines Ichs und sucht Glück in
der Identifikation mit jener unartikulierten Menge Le Bonschen Wesens, deren
Imago das Getön enthält 4.
[Fußnote 4: Hier vielleicht ist das meist als Kennmarke mißbrauchte
Russische bei Strawinsky aufzusuchen. Längst ward bemerkt, daß die Lyrik
Mussorgskys vom deutschen Liede sich durch die Absenz des poetischen Subjekts
unterscheidet: daß jedes Gedicht so angeschaut ist wie Arien von Opernkomponisten,
nicht aus der Einheit des unmittelbaren kompositorischen Ausdrucks heraus,
sondern in einer jeglichen Ausdruck distanzierenden und objektivierenden Weise.
Der Künstler fällt nicht mit dem lyrischen Subjekt zusammen. Die Kategorie des
Subjekts war im wesentlich vorbürgerlichen Rußland nicht ebenso fest gefügt wie
in den westlichen Ländern. Das Fremdartige zumal Dostojewskys rührt von der
Nichtidentität des Ichs mit sich selbst her: keiner der Brüder Karamasoff ist
ein »Charakter«. Der spätbürgerliche Strawinsky verfügt über solche
Präsubjektivität, um den Zerfall des Subjekts am Ende zu legitimieren.]
Wo Subjektives begegnet, begegnet
es als depraviert; als sentimental verkitscht oder vertrottelt. Es wird als
selber bereits Mechanisches, Verdinglichtes, gewissermaßen Totes aufgerufen.
Die Bläser, in denen es laut wird, klingen wie aus der Drehorgel: Apotheose des
Gedudels 5, so wie die Streicher zum Streich pervertiert, des
Seelentones enteignet werden. Die
[Fußnote 5: Technisch ist das Gedudel durch eine bestimmte Art der
oktaven- oder septimenweisen Führung von Holzbläsermelodien, zumal Klarinetten,
oft in weitem Abstand, hergestellt. Strawinsky hat diese Setzweise, als Mittel
veranstalteter Entseelung, beibehalten, nachdem die groteske Absicht bereits
dem Verdikt verfiel, etwa in den Cercles Mystérieux des Adolescentes des Sacre,
von Ziffer 94 an.]
Die Bilder mechanischer Musik
produzieren den Schock eines vergangenen und zum Kindischen herabgesunkenen Modernen.
Es wird, wie später dann bei den Surrealisten, zum Einfallstor des
Urvergangenen. (...)
Das Sacre du Printemps,
Strawinskys berühmtestes und dem Material nach vorgeschrittenstes Werk, wurde,
der Autobiographie zufolge, während der Arbeit am Petruschka konzipiert. Das
ist kaum zufällig. Bei allem Stilgegensatz zwischen dem kulinarisch
zubereiteten und dem tumultuösen Ballett ist beiden der Kern gemeinsam, das
antihumanistische Opfer ans Kollektiv: Opfer ohne Tragik, dargebracht nicht dem
heraufkommenden Bilde des Menschen, sondern der blinden Bestätigung eines vom
Opfer selbst sei's durch Selbstverspottung, sei's durch Selbstauslö schung
anerkannten Zustandes. Dieses Motiv, das die Verhaltensweise der Musik gänzlich
determiniert, tritt aus der spielerischen Hülle des Petruschka im Sacre mit
blutigem Ernst hervor. Es gehört den Jahren an, da man die Wilden Primitive zu
nennen begann, der Sphäre von Frazer und Lévy-Bruhl, auch von »Totem und Tabu«.
(...)
Die Musik sagt zunächst: so war
es, und nimmt so wenig Stellung wie Flaubert in der Madame Bovary. Das Greuel
wird mit einigem Wohlgefallen betrachtet, aber nicht verklärt, sondern
ungemildert vorgeführt. (...)
Der Druck der verdinglichten
bürgerlichen Kultur treibt zur Flucht ins Phantasma von Natur, das dann
schließlich als Sendbote der absoluten Unterdrückung sich erweist. Die
ästhetischen Nerven zittern danach, in die Steinzeit zu regredieren. Als
Virtuosenstück der Regression ist das Sacre du Printemps der Versuch, ihrer
durch ihr Abbild mächtig zu werden, nicht einfach ihr sich zu überlassen. Dieser
Impuls hat an der unbeschreiblich breiten Wir kung des spezialistischen Stückes
auf die nachfolgende Musikergeneration seinen Anteil: nicht bloß behauptete es
die Rückbildung der musikalischen Sprache und des ihr gemäßen Bewußtseinstandes
als up to date, sondern versprach zugleich der vorgefühlten Liquidation des
Subjekts standzuhalten, indem es sie zur eigenen Sache machte oder wenigstens
wie ein überlegen unbeteiligter Betrachter künstlerisch sie registrierte. Die
Imitation von Wilden soll mit wunderlich-sachlicher Magie davor behüten, dem
Gefürchteten zu verfallen. (...)
Im Sacre bewirkt ein
rücksichtslos angewandtes artistisches Prinzip von Selektion 7 und
Stilisierung den Effekt des Vorweltlichen. Durch die Absage ans neuromantische
Melodisieren, an das Saccharin des Rosenkavaliers, gegen das die sensibleren
Künstler um 1910 aufs heftigste aufbegehrt haben müssen 8, verfällt
alle ausgesponnene Melodie, und bald genug alles musikalisch sich entfaltende
subjektive Wesen, dem Tabu.
[Fußnote 7: Der Begriff des Verzichts ist grundlegend für das
gesamte Werk Strawinskys und macht geradezu die Einheit aller Phasen aus.
»Chaque nouvelle œuvre ... est un exemple de renoncement.« (Cocteau, l.c., p.
39.) Die Zweideutigkeit des Begriffs renoncement ist das Vehikel der gesamten
Ästhetik jener Sphäre. Er wird von Strawinskys Apologeten im Sinn des Satzes
von Valéry verwandt, daß ein Künstler nach der Qualität seiner Refus zu
bewerten sei. Das braucht in formaler Allgemeinheit nicht bestritten zu werden
und findet auf die Wiener Schule, das implizite Verbot von Konsonanz, Symmetrie
und undurchbrochener Oberstimmenmelodik so gut Anwendung wie auf die
wechselnden Askesen der westlichen Schulen. Aber das Strawinskysche renoncement
ist nicht bloß Entsagung als Verzicht auf verbrauchte und fragwürdige Mittel,
sondern auch Versagung, der prinzipielle Ausschluß aller Einlösung oder
Erfüllung eines in der immanenten Dynamik des musikalischen Materials als
Erwartung oder Anspruch Auftretenden. Wenn Webern von Strawinsky sagte, nach
seiner Bekehrung zur Tonalität wäre ihm »die Musik entzogen« worden, so
kennzeichnete er den unaufhaltsamen Prozeß, der dann die selbstgewählte Armut
in objektive Armseligkeit verkehrt. Es genügt nicht, naiv-technologisch
Strawinsky vorzuhalten, was alles ihm mangelt. Soweit die Mängel aus dem
Stilprinzip selber hervorgehen, wäre das nicht wesentlich verschieden von jener
Kritik an der Wiener Schule, die sich über das Vorwalten von »Mißklängen«
beklagt. Sondern es ist nach dem Maße der je selbstgesetzten Regel zu
bezeichnen, was die permanente Versagung bei Strawinsky anstiftet. Er muß bei
der Idee genommen werden und nicht bloß bei den beschlossenen Unterlassungen:
ohnmächtig wäre der Vorwurf, daß der Künstler das nicht tue, was sein Prinzip nicht
will; durchschlagend nur, daß das Gewollte sich verstrickt, daß es die
umgebende Landschaft verdorren läßt und daß ihm selber die Legitimation abgeht.
Fußnote 8: Schon
vor dem ersten Weltkrieg jammerte das Publikum darüber, daß die Komponisten
»keine Melodie« hätten. Bei Strauss störte die Technik der permanenten
Überraschung, welche die melodische Kontinuität unterbricht, um sie nur
gelegentlich in der gröbsten und billigsten Weise als Belohnung nach der
Turbulenz zu gewähren. Bei Reger verschwinden die melodischen Profile hinter
den unablässig vermittelten Akkorden. Beim reifen Debussy sind die Melodi
Tonkombinationen reduziert. Mahler endlich, der am traditionellen
Melodiebegriff zäher festhält als jeder andere, hat gerade dadurch seine Feinde
sich gemacht. Vorgeworfen wird ihm Banalität der Erfindung sowohl wie das
Gewaltsame, nicht rein aus der motivischen Triebkraft Hervorgehende der langen
Bögen. Parallel zum Strauss der konzilianten Partien, hat er für das Absterben
der romantischen Melodie im Sinn des neunzehnten Jahrhunderts übertreibend
entschädigt, und es bedurfte wahrhaft seines Ingeniums, um solche Übertreibung
selber zum kompositorischen Darstellungsmittel, zum Träger des musikalischen
Sinnes, der ihrer eigenen Unerfüllbarkeit bewußten Sehnsucht umzuschaffen.
Erschöpft war keineswegs die melodische Kraft der einzelnen Komponisten. Aber
daß der harmonische Verlauf historisch immer mehr in den Vordergrund der
musikalischen Gestaltung und Rezeption rückte, ließ im homophonen Denken
schließlich die melodische Dimension nicht proportional mitwachsen, die zuvor,
seit der Frühromantik, gerade die harmonischen Entdeckungen ermöglicht hatte.
Daher die Trivialität schon vieler Wagnerischer Motivbildungen, die Schumann
beanstandete. Es ist, als ob die Aromatisierte Harmonik eigenständige Melodik
nicht mehr trüge: wird diese, wie beim frühen Schönberg, angestrebt, so geht
das tonale Sy stem selber darüber in die Brüche. Sonst bleibt den Komponisten
nichts übrig, als entweder die Melodik so zu verdünnen, daß sie sich in einen
bloßen harmonischen Funktionswert verwandelt, oder mit einem Gewaltstreich
melodische Expansionen zu dekretieren, die im festgehaltenen harmonischen
Schema willkürlich erscheinen. Strawinsky hat aus der ersten, der
Debussystischen Möglichkeit die Konsequenz gezogen: eingedenk der Schwäche
melodischer Folgen, die eigentlich schon keine mehr sind, kassiert er den
Begriff der Melodie ganz zugunsten gestutzter, primitivistischer Muster. Erst
Schönberg hat in der Tat das Melos emanzipiert, aber damit auch die harmonische
Dimension selber. (...)
Strawinsky gräbt nach
Authentizität in Zusammensetzung und Zerfall der Bilderwelt von Moderne. Hat
Freud den Zusammenhang zwischen dem Seelenleben der Wilden und der Neurotiker
gelehrt, so verschmäht der Komponist nun die Wilden und hält sich an das,
wessen die Erfahrung der Moderne sicher ist, jene Archaik, welche die
Grundschicht des Individuums ausmacht und in dessen Dekomposition unverstellt,
gegenwärtig wieder hervortritt. Die Werke zwischen dem Sacre und dem
neoklassischen Einlenken imitieren den Gestus der Regression, wie er der
Zersetzung der individuellen Identität zugehört, und erwarten sich davon das
kollektiv Authentische. Die überaus enge Verwandtschaft dieser Ambition mit der
Doktrin C.G. Jungs, von der der Komponist kaum etwas wissen mochte, ist so
schlagend wie das reaktionäre Potential. Die Suche nach musikalischen
Äquivalenten für das »kollektive Unbewußte« bereitet den Umschlag zur Instaurierung
der regressiven Gemeinschaft als eines Positiven vor. (...)
Musik kennt nur um so viel
Entwicklung, wie sie ein Festes, Geronnenes kennt; die Strawinskysche
Regression, die dahinter zurückgreifen möchte, ersetzt eben darum den Fortgang
durch die Wiederholung. (...)
Seine Musik weiß von keiner Erinnerung
und damit von keinem Zeitkontinuum der Dauer. Sie verläuft in Reflexen. Der
verhängnisvolle Irrtum seiner Apologeten ist es, den Mangel eines Gesetzten in
seiner Musik, an Thematik in strengstem Verstande, einen Mangel, der das Atmen
der Form, die Kontinuität des Prozesses, eigentlich »Leben« gerade ausschließt,
als Garanten des Lebendigen zu interpretieren. Das Amorphe hat nichts von
Freiheit, sondern ähnelt dem Zwangshaften bloßer Natur sich an: nichts starrer
als der »Entstehungsvorgang«. Er aber wird als das nicht Entfremdete
verherrlicht. Mit dem Prinzip des Ichs sei überhaupt die individuelle Identität
suspendiert. (...)
Gerade die sado-masochistische
Lust an der Selbstauslöschung, die so vernehmlich in seinen Antipsychologismus
hineinspielt, ist durch die Dynamik des Trieblebens determiniert und nicht
durch Forderungen der musikalischen Objektivität. Es bezeichnet den
Menschentypus, dessen Maße Strawinskys Werk nimmt, keinerlei Introspektion und
Selbstbesinnung zu dulden. Die verbissene Gesundheit, die sich ans Auswendige
klammert und das Seelische verleugnet, als wäre es bereits Krankheit der Seele,
ist Produkt von Abwehrmechanismen im Freudischen Sinn. (...)
Das schizophrenische Gebaren von Strawinskys Musik ist ein Ritual, die
Kälte der Welt zu überbieten. Sein Werk nimmt es grinsend mit dem Wahnsinn des
objektiven Geistes auf. Indem es den Wahnsinn, der allen Ausdruck tötet, selber
ausdrückt, reagiert es ihn nicht bloß, wie die Psychologie es nennt, ab,
sondern unterwirft ihn selber der organisierenden Vernunft 18. Nichts
wäre falscher, als Strawinskys Musik nach Analogie dessen zu fassen, was ein
deutscher Faschist Bildnerei der Geisteskranken nannte. Wie es vielmehr ihr
Anliegen ist, schizophrenische Züge durch das ästhetische Bewußtsein zu
beherrschen, so möchte sie insgesamt den Wahnsinn als Gesundheit vindizieren.
[Fußnote 18: Die nahe Beziehung dieser Stufe des Ritualen in
Strawinskys Musik zu dem Jazz, der genau zur gleichen Zeit international
populär ward, ist evident. Sie reicht in technische Details wie die
Simultaneität von starren Zählzeiten und unregelmäßigen synkopischen Akzenten.
Strawinsky hat denn auch gerade in der infantilistischen Phase mit Jazzformeln
experimentiert. Der Ragtime für elf Instrumente, die Piano Rag Music und etwa
Tango und Ragtime aus der Histoire du Sol dat gehören zu seinen gelungensten
Stücken. Anders als die zahllosen Komponisten, die durch Anbiederung an den
Jazz ihrer »Vitalität«, was immer das musikalisch bedeuten mag, aufzuhelfen
meinten, deckt Strawinsky, durch Verzerrung, das Schäbige, Vernutzte, dem
Markte Verfallene der nun seit dreißig Jahren etablierten Tanzmusik auf. Er
nötigt gewissermaßen ihren Makel, selber zu reden, und verwandelt die
standardisierten Wendungen in stilisierte Chiffren des Zerfalls. Dabei
eliminiert er alle Züge von falscher Individualität und sentimentalem Ausdruck,
die zum naiven Jazz unabdingbar dazugehören, und macht solche Spuren des
Menschlichen, wie sie in den von ihm kunstvoll-brüchig zusammenmontierten
Formeln überleben mögen, mit grellem Hohn zu Fermenten der Entmenschlichung.
Seine Stücke sind aus Warentrümmern zusammengesetzt wie manche Bilder oder
Plastiken derselben Zeit aus Haaren, Rasierklingen und Stanniolpapier. Das
definiert den Niveauunterschied vom kommerziellen Kitsch. Zugleich versprechen
seine Jazzpastiches, den drohenden Reiz des sich Überlassens ans Massenhafte zu
absorbieren und seine Gefahr zu bannen, indem man ihr nachgibt. Damit
verglichen war alles andere Interesse der Komponisten am Jazz einfältiges
Schielen nach dem Publikum, simpler Ausverkauf. Strawinsky aber hat den
Ausverkauf selber, ja die Beziehung zur Ware überhaupt ritualisiert. Er tanzt
den Totentanz um ihren Fetischcharakter.]
Aber der musikalische
Physikalismus führt nicht auf den Naturstand, das reine ideologiefreie Wesen,
sondern ist eingestimmt auf den Rückfall der Gesellschaft. Die bloße Negation
des Geistes spielt sich auf, als wäre sie die Verwirklichung des von ihm
Gemeinten. Sie erfolgt unter dem Druck eines Systems, dessen irrationale
Übermacht über alle ihm Unterworfenen sich nur zu erhalten vermag, wenn es
ihnen die Mucken des Gedankens abgewöhnt und sie zu bloßen Reaktionszentren, zu
Monaden bedingter Reflexe reduziert. Das fabula docet Strawinskys ist versatile
Fügsamkeit und störrischer Gehorsam, das Muster des heute allerorten sich
formierenden autoritären Charakters. Seine Musik kennt nicht mehr die
Versuchung, anders zu sein. (...)
Soweit Adorno.
Soweit Adorno.
In einem Aufsatz, der 1961 im MERKUR erschien, schreibt Kurt Oppens (1910-1998) zu Adornos Srawinsky-Aufsatz aus der "Philosophie der neuen Musik": "Adornos Stravinsky-Aufsatz enthält ungeachtet seiner polemischen Halrtung mehr wesentliche Einsichten als die ganze Phalanx der Eulogen." Er zeigt dann auch Ähnlichkeiten des Sils und der Argumentation auf zur Kontroverse Gluck und Jean-Francois Marmontels. Weiters hebt er hervor, dass Adorno immer die Person Strawinsky ausspare (wie überhaupt in seiner Kunstphilosophie!) und sich an die Sache halte (heute völlig unmodern geworden).
Ganz anders der französisch-tschechische Literat Milan Kundera in seinem Aufsatz "Improvisation zu Ehren Strawiskys" in seinem Buch "Verratene Vermächtnisse" (dt. 1994), worin er sich über "Glück und Ekstase" auslässt, über die "skandalöse Schönheit des Bösen" und die beseeligende Musik des russischen Meisters.
Nachträge:
Frühlings Erschrecken
Krieg der Körper. Sasha Waltz holt den „Sacre“ in unsere Zeit.
Sandra Luzina, Tagesspiegel 30.05.2013
Triumph in Paris: Sasha Waltz kreiert zum 100. Jubiläum von „Sacre du printemps“ eine neue Version des Strawinsky-Balletts. In den Bann schlagen vor allem die energetischen Spannungen und Entladungen der Musik sowie ihre vertrackten Rhythmen.
Strawinsky: Die säuberlich kalligrafierte Revolution
Wilhelm Sinkovicz, Die Presse, 01.06.2013
Zum 100. Geburtstag von Igor Strawinskys furiosem »Sacre du printemps«erschienen eine prachtvolle Liebhaberausgabe der beiden eigenhändigen Notenmanuskripte nebst gutem Dokumentarband.
Luke Gittos: The revolutionary myth of ‘The Rite of Spring’
Stravinsky’s ballet, which debuted 100 years ago, is a great work, but not as iconoclastic as its fans claim.
SP!KED, 30.5.2013
Hundert Jahre «Sacre du printemps»
Jahrhundertwerk – gestern und heute
Isabelle Jakob, NZZ 3.6.2013