Etliche Gedanken von Schopenhauer im nachfolgenden Kapitel sind so erfrischend und belebend im Anreiz zum eigenen Nachdenken, dass einige davon hervorgehoben werden (Unterstreichungen oder Fettdruck) bzw. kommentiert werden [in eckigen Klammern]. Reizvoll wäre ein ausführlicher Vergleich mit Überlegungen von Sprachphilosophen wie Ludwig Wittgenstein oder Ontologen wie Martin Heidegger, aber das wüchse aus in eine lange Arbeit. Hie und da also nur ein kurzer Hinweis.
Arthur Schopenhauer
Die Welt als Wille und Vorstellung. II. Teil
Kapitel 6.
Zur Lehre von der abstrakten, oder Vernunft-Erkenntniß.
Der äußere Eindruck auf die Sinne, sammt der Stimmung, die er
allein und für sich in uns hervorruft, verschwindet mit der Gegenwart
der Dinge. Jene Beiden können daher nicht selbst die eigentliche
Erfahrung ausmachen, deren Belehrung
für die Zukunft unser Handeln leiten soll. Das Bild jenes Eindrucks,
welches die Phantasie aufbewahrt, ist schon sogleich schwächer als er
selbst, schwächt sich täglich mehr ab und verlischt mit der Zeit ganz.
Weder jenem augenblicklichen Verschwinden des Eindrucks, noch dem
allmäligen seines Bildes unterworfen, mithin frei von der Gewalt der
Zeit, ist nur Eines:
der Begriff. In ihm also muß die
belehrende Erfahrung niedergelegt seyn, und er allein eignet sich zum
sichern Lenker unserer Schritte im Leben. Daher sagt Seneka mit Recht:
Si vis tibi omnia subjicere, te subjice rationi (ep. 37). Und ich füge hinzu, daß, um im wirklichen Leben den Andern
überlegen zu seyn,
überlegt seyn, d. h. nach Begriffen verfahren, die unerläßliche Bedingung ist.
Ein so wichtiges Werkzeug der Intelligenz, wie der
Begriff ist, kann offenbar nicht identisch seyn mit dem
Wort, diesem bloßen Klang, der als
Sinneseindruck mit der Gegenwart, oder als Gehörphantasma mit der Zeit
verklänge. Dennoch ist der Begriff eine Vorstellung, deren deutliches
Bewußtseyn und deren Aufbewahrung an das Wort gebunden ist: daher
benannten die Griechen Wort, Begriff, Verhältniß, Gedanken und Vernunft
mit dem Namen des Ersteren: ὁ λογος.
Dennoch ist der
Begriff sowohl von dem
Worte, an welches er geknüpft ist, als
auch von den Anschauungen, aus denen er entstanden, völlig verschieden.
Er ist ganz anderer Natur, als diese Sinneseindrücke. Jedoch vermag er
alle Resultate der Anschauung in sich aufzunehmen, um sie, auch nach dem
längsten Zeitraum, unverändert und unvermindert wieder zurückzugeben:
erst hiedurch entsteht
die Erfahrung.
Aber nicht das
Angeschaute, noch das dabei Empfundene, bewahrt der Begriff auf, sondern
dessen Wesentliches, Essentielles, in ganz veränderter Gestalt, und
doch als genügenden Stellvertreter Jener. So lassen sich die Blumen
nicht aufbewahren, aber ihr ätherisches Oel, ihre Essenz, mit gleichem
Geruch und gleichen Kräften. Das Handeln, welches richtige Begriffe zur
Richtschnur gehabt hat, wird, im Resultat, mit der beabsichtigten
Wirklichkeit zusammentreffen. – Den unschätzbaren Werth der
Begriffe und folglich
der Vernunft kann man ermessen, wenn
man auf die unendliche Menge und Verschiedenheit von Dingen und
Zuständen, die nach und neben einander dasind, den Blick wirft und nun
bedenkt, daß Sprache und Schrift (die Zeichen der Begriffe) dennoch
jedes Ding und jedes Verhältniß wann und wo es auch gewesen seyn mag, zu
unserer genauen Kunde zu bringen vermögen; weil eben verhältnißmäßig
wenige Begriffe eine Unendlichkeit von Dingen und Zuständen befassen und vertreten. –
Beim eigenen Nachdenken ist die
Abstraktion ein Abwerfen unnützen
Gepäckes, zum Behuf leichterer Handhabung der zu vergleichenden und
darum hin und her zu werfenden Erkenntnisse. Man läßt nämlich dabei das
viele Unwesentliche, daher nur Verwirrende, der realen Dinge weg, und
operirt mit wenigen, aber wesentlichen,
in abstracto gedachten Bestimmungen.
Aber eben weil die
Allgemeinbegriffe nur durch Wegdenken und Auslassen vorhandener
Bestimmungen entstehen und daher je allgemeiner, desto leerer sind,
beschränkt der Nutzen jenes Verfahrens sich auf die
Verarbeitung unserer bereits
erworbenen Erkenntnisse, zu der auch das Schließen aus den in ihnen
enthaltenen Prämissen gehört. Neue Grundeinsichten hingegen sind nur aus
der anschaulichen, als der allein vollen und reichen Erkenntniß zu
schöpfen, mit Hülfe der Urtheilskraft. – Weil ferner Inhalt und Umfang
der Begriffe in entgegengesetztem Verhältnisse stehen,
also je mehr
unter einem Begriff, desto weniger
in ihm gedacht wird; so bilden die
Begriffe eine Stufenfolge, eine Hierarchie, vom speciellsten bis zum
allgemeinsten, an deren unterm Ende der scholastische Realismus, am
obern der Nominalismus beinahe Recht behält.
Denn der speciellste
Begriff ist schon beinahe das Individuum, also beinahe real: und der
allgemeinste Begriff, z. B. das Seyn (d. i. der Infinitiv der Kopula),
beinahe nichts als ein Wort. [Heidegger hat dies gewusst und das Wort aufgeladen. Er beließ es nicht beim Zeichen, dem Wort. Wie war das möglich? Was folgte daraus?]
Daher auch sind philosophische Systeme, die
sich innerhalb solcher sehr allgemeinen Begriffe halten, ohne auf das
Reale herabzukommen, beinahe bloßer Wortkram. [Das klingt ja wie eine Vorauskritik an Heidegger!]
Denn da alle Abstraktion
im bloßen Wegdenken besteht: so behält man, je weiter man sie fortsetzt,
desto weniger übrig. Wenn ich daher solche moderne Philosopheme lese,
die sich in lauter sehr weiten Abstraktis fortbewegen; so kann ich bald,
trotz aller Aufmerksamkeit, fast nichts mehr dabei denken; weil ich
eben keinen Stoff zum Denken erhalte, sondern mit lauter leeren Hülsen
[leere Hülsen = Definitionsmerkmal für Klischee
]operiren soll, welches eine Empfindung giebt, der ähnlich, die beim
Versuch sehr leichte Körper zu werfen entsteht: die Kraft nämlich und
auch die Anstrengung ist da; aber es fehlt am Objekt, sie aufzunehmen,
um das andere Moment der Bewegung herzustellen. Wer dies erfahren will,
lese die Schriften der
Schellingianer und, noch besser, der
Hegelianer. –
Einfache Begriffe müßten eigentlich
solche seyn, die unauflösbar wären; demnach sie nie das Subjekt eines
analytischen Urtheils seyn könnten: dies halte ich für unmöglich; da,
wenn man einen Begriff denkt, man auch seinen Inhalt muß angeben können.
Was man als Beispiele von einfachen Begriffen anzuführen pflegt, sind
gar nicht mehr Begriffe, sondern theils bloße Sinnesempfindungen, wie
etwan die einer bestimmten Farbe, theils die
a priori uns bewußten Formen der Anschauung; also eigentlich die letzten Elemente der
anschauenden Erkenntniß. Diese selbst
aber ist für das System aller unserer Gedanken Das, was in der Geognosie
der Granit ist, der letzte feste Boden, der Alles trägt und über den
man nicht hinaus kann.
Zur
Deutlichkeit eines Begriffes nämlich
ist erfordert, nicht nur, daß man ihn in seine Merkmale zerlegen,
sondern auch daß man diese, falls auch sie Abstrakta sind, abermals
analysiren könne, und so immerfort, bis man zur
anschauenden Erkenntniß herabgelangt,
mithin auf konkrete Dinge hinweist, durch deren klare Anschauung man die
letzten Abstrakta belegt und dadurch diesen, wie auch allen auf ihnen
beruhenden höhern Abstraktionen, Realität zusichert. Daher ist die
gewöhnliche Erklärung, der Begriff sei deutlich, sobald man seine
Merkmale angeben kann, nicht ausreichend: denn die Zerlegung dieser
Merkmale führt vielleicht immerfort nur auf Begriffe, ohne daß zuletzt
Anschauungen zum Grunde lägen, welche allen jenen Begriffen Realität
ertheilten. Man nehme z. B. den Begriff »Geist« und analysire ihn in
seine Merkmale, »ein denkendes, wollendes, immaterielles, einfaches,
keinen Raum füllendes, unzerstörbares Wesen«; so ist dabei doch nichts
Deutliches gedacht; weil die Elemente dieser Begriffe sich nicht durch
Anschauungen belegen lassen: denn ein denkendes Wesen ohne Gehirn ist
wie ein verdauendes Wesen ohne Magen.
Klar sind eigentlich nur Anschauungen, nicht Begriffe: diese können höchstens
deutlich seyn. Darum auch hat man, so
absurd es war, »klar und verworren« zu einander gestellt und als synonym
gebraucht, als man die anschauende Erkenntniß für eine nur verworrene
abstrakte erklärte, weil nämlich diese letztere die allein deutliche
wäre. Dies hat zuerst
Duns Skotus gethan, aber auch noch
Leibnitz hat im Grunde diese Ansicht, als auf welcher seine
Identitas indiscernibilium beruht: man sehe
Kants Widerlegung derselben, S. 275 der ersten Ausgabe der »Kritik der reinen Vernunft«.
[Eine Abstraktion, die nicht mehr rückführbar ist zum Konkreten bzw. zur Anschaulichkeit, kann nur "übersetzt" abstrakt-theoretisch gedacht und gewusst werden. Der Umgang damit entfernt sich vom Humanen, weshalb die Warnung
Nietzsches, dass die Wissenschaft schlussendlich die Erkenntnis töte, korrekt ist. Je abstrakter, desto entfremdeter und verdinglichter... Wir erinnern uns an Vergangenes nie nur abstrakt. Immer bindet sich ein Erinnerungsteil an Erfahrenes, Erlebtes, Gefühltes bzw. anschaulich Vorgestelltes, an etwas, das sich im Hirn UND im Körper eingravieret hat. Etwaige Abstrakta kommen erst im Konstrukt der Bewertung der Erinnerung bzw. im analytischen Umgang damit hinzu. Keine Lustempfindung ist abstrakt! -->
Nietzsche:
O Mensch! Gib Acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
»Ich schlief, ich schlief –,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh –,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!« ]
Die oben berührte enge Verbindung des Begriffs mit dem Wort,
also der Sprache mit der Vernunft, beruht im letzten Grunde auf
Folgendem. Unser ganzes Bewußtseyn, mit seiner innern und äußern
Wahrnehmung, hat durchweg
die Zeit zur Form.
Die Begriffe
hingegen, als durch Abstraktion entstandene, völlig allgemeine und von
allen einzelnen Dingen verschiedene Vorstellungen, haben, in dieser
Eigenschaft, ein zwar gewissermaaßen objektives Daseyn, welches jedoch
keiner Zeitreihe angehört. Daher müssen sie, um in die unmittelbare
Gegenwart eines individuellen Bewußtseyns treten, mithin in eine
Zeitreihe eingeschoben werden zu können, gewissermaaßen wieder zur Natur
der einzelnen Dinge herabgezogen, individualisirt und daher an eine
sinnliche Vorstellung geknüpft werden: diese ist das
Wort. [Ein anschaulicher Gedanke von Schopenhauer. Er korrespondiert zum Leseakt. Lesen ist ja nicht nur dekodieren und entziffern, sondern das Auftauen der "gefrorenen Sprache" in Form der Schrift durch das Lesen, das immer interpretiert und nie interpretationslos, sozusagen "blos" Zeichen, perzipiert. Auch das Abstrakteste wird diesem Deutungsvorgang unterzogen oder unterworfen. Nur Behinderte oder solche, die nocht nicht sprachlich ausreichend sozialisiert sind, nehmen gewisse Zeichen deutungslos an. [[Siehe dagegen Friedrich Hölderlin und die ersten drei Verse seines befremdlichen Gedichts:
Ein Zeichen sind wir, deutungslos,
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.
Ein Zeichen steht für etwas Anderes, nämlich das Bezeichnete. Wenn das Zeichen deutungslos wäre, könnte es sein, dass es so fremd, unlesbar scheint, aber immer noch als Zeichen wahrgenommen wird. Ähnlich, wie Zeichenensembles als Worte gelesen werden, obwohl völlig unverständlich und fremd. Ein Zeichen, das so fremd ist, dass es auch als Zeichen nicht wahrgenommen werden kann, ist kein Zeichen mehr. Das Zeichen bedingt für sein Sein als Zeichen den Zeichendeuter, ähnlich wie die Sprache die Sprachgemeinschaft bedingt, weil ohne sie, wenn es keine Menschen mehr gäbe, auch keine Sprache existierte, sondern nur noch Zeichen, die von niemandem mehr gelesen und gedeutet werden. "Deutungslos" müsste in seinen Dimensionen noch bedacht werden, ähnlich wie Wittgenstein den Sinn oder das Sinnvolle bzw. Sinnlose bedachte. Etwas, das sich der Deutung entzieht oder verweigert, kann also nicht interpretiert werden. Damit kann es aber nicht kommuniziert und gewusst werden; entweder findet man einen Ersatz als Deutung, schreibt zu, oder nimmt es nicht wahr. Hat man aber dieses Etwas einmal wahrgenommen, wird es gedeutet, ganz gleich, wie sinnig oder unsinnig das erfolgt. Hölderlin ist sich fremd geworden, der Welt, der Sprache, die er fast in der Fremde verloren hat. Kurzt darauf hat er sie in seiner Umnachtung noch weiter verloren. Er wurde fast mundtot, lange bevor er starb.
Martin Heidegger geht in seinem Aufsatz "Was heißt Denken?" (1952) auf diese drei Verse dieses Entwurfs einer Hymne von Hölderlin kurz ein. Er stellt seine hohe Gabe der Umkehrung unter Beweis, dreht die Worte und den Sinn, fast wie ein smarter Dialektiker, und findet seine Antwort als eine, aber die maßgebende, die seiende:
"Als die so Geprägten weisen wir selber auf das Sichentziehende. Wir sind überhaupt nur wir und sind nur die, die wir sind,indem wir in das Sichentziehende weisen. Dieses Weisen ist unser Wesen. Wir sind, indem wir das Sichentziehende zeigen. Und zwar ist der Mensch nicht zunächst Mensch. und dann noch außerdem und vielleicht gelegentlich ein Zeigender, sondern: gezogen in das Sichentziehende, auf dem Zug in dieses und somit zeigend in den Entzug ist der Mensch allererst Mensch. Sein Wesen beruht darin, ein solcher Zeigender zu sein. Was in sich, seiner eigensten Verfassung nach, etwas Zeigendes ist, nennen wir ein Zeichen. Auf dem Zug in das Sichentziehende gezogen, ist der Mensch ein Zeichen." [Semiotisch ist das etwas verschwommen und vernebelt argumentiert, auch etwas tautologisch, aber das mag ein Resultat des Sogs des Sichentziehenden gewesen sein, dem Heidegger als Mensch sich hingezogen oder ausgezogen fand. Jedenfalls hält auch er fest, das das Zeichen zeigt, ein Zeigendes ist. Das entspräche z.B. dem Konzept des Indexes. Ein Index ist ein Hinweiszeichen. Auf die anderen Zeichen geht Heidegger ja nicht ein (Ikon, Symbol bzw. den Aufteilungen, wie sie z.B. der Pragmatiker
Charles S. Peirce getroffen hat). Jetzt kommt's aber; Heidegger zieht weiter: "Weil jedoch dieses Zeichen in solches zeigt, das sich entzieht, kann das Zeigen das, was sich da entzieht, nicht unmittelbar deuten. Das Zeichen bleibt so ohne Deutung." Dann zitiert er die vorher angeführten 3 Verse. Eigentümlich scheint, dass Heidegger von "unmittelbarer Deutung spricht", da doch jede zeichenvermittelte Kommunikation eben vermittelt ist. Vielleicht will er "unmitttelbar" anders verstanden wissen, als "sofort", "reflexartig oder "spontan"? Die weiteren Ausführungen sind hoch interessant und sind einer aufmerksamen Lektüre empfohlen!]
Es ist demnach
das sinnliche Zeichen des Begriffs und als solches das nothwendige Mittel ihn zu
fixiren, d. h. ihn dem an die Zeitform
gebundenen Bewußtseyn zu vergegenwärtigen und so eine Verbindung
herzustellen zwischen der Vernunft, deren Objekte bloß allgemeine, weder
Ort noch Zeitpunkt kennende
Universalia sind, und dem an die Zeit gebundenen,
sinnlichen und insofern bloß thierischen Bewußtseyn.
Nur vermöge dieses
Mittels ist uns die willkürliche Reproduktion, also die Erinnerung und
Aufbewahrung der Begriffe, möglich und disponibel, und erst mittelst
dieser die mit denselben vorzunehmenden Operationen, also urtheilen,
schließen, vergleichen, beschränken u. s. w. Zwar geschieht es
bisweilen, daß Begriffe auch ohne ihre Zeichen das Bewußtseyn
beschäftigen, indem wir mitunter eine Schlußkette so schnell
durchlaufen, daß wir in solcher Zeit nicht hätten die Worte denken
können. Allein dergleichen sind Ausnahmen, die eben eine große Uebung
der Vernunft voraussetzen, welche sie nur mittelst der Sprache hat
erlangen können.
Wie sehr der Gebrauch der Vernunft an die Sprache
gebunden ist, sehen wir an den Taubstummen, welche, wenn sie keine Art
von Sprache erlernt haben, kaum mehr Intelligenz zeigen, als die
Orangutane und Elephanten: denn sie haben fast nur
potentiâ nicht
actu Vernunft.
Wort und Sprache sind also das unentbehrliche Mittel zum
deutlichen Denken. Wie aber jedes Mittel, jede Maschine, zugleich
beschwert und hindert; so auch die Sprache: weil sie den unendlich
nüancirten, beweglichen und modifikabeln Gedanken in gewisse feste,
stehende Formen zwängt und indem sie ihn fixirt, ihn zugleich fesselt.
[Siehe Nietzsche: "Gefahr der Sprache: Jedes Wort ein Vorurteil.] Dieses Hinderniß wird durch die Erlernung mehrerer Sprachen zum Theil
beseitigt. Denn indem, bei dieser, der Gedanke aus einer Form in die
andere gegossen wird, er aber in jeder seiner Gestalt etwas verändert,
löst er sich mehr und mehr von jeglicher Form und Hülle ab; wodurch sein
selbst-eigenes Wesen deutlicher ins Bewußtseyn tritt und er auch seine
ursprüngliche Modifikabilität wieder erhält. Die alten Sprachen aber
leisten diesen Dienst sehr viel besser, als die neuen; weil, vermöge
ihrer großen Verschiedenheit von diesen, der selbe Gedanke jetzt auf
ganz andere Weise ausgedrückt werden, also eine höchst verschiedene Form
annehmen muß; wozu noch kommt, daß die vollkommenere Grammatik der
alten Sprachen eine künstlichere und vollkommenere Konstruktion der
Gedanken und ihres Zusammenhanges möglich macht. Daher konnte ein
Grieche, oder Römer, allenfalls sich an seiner Sprache genügen lassen.
Aber wer nichts weiter, als so einen einzigen modernen Patois versteht,
wird, im Schreiben und Reden, diese Dürftigkeit bald verrathen, indem
sein Denken, an so armsälige, stereotypische Formen fest geknüpft,
ungelenk und monoton ausfallen muß. [Siehe Basic English, Dummdeutsch, Neudeutsch und dergleichen.] Genie freilich ersetzt, wie Alles,
so auch dieses, z. B. im Shakespeare.
Von dem, was ich §. 9 des ersten Bandes dargelegt habe, daß
nämlich die Worte einer Rede vollkommen verstanden werden, ohne
anschauliche Vorstellungen, Bilder in unserm Kopfe zu veranlassen, hat
schon eine ganz richtige und sehr ausführliche Auseinandersetzung
Burke gegeben, in seiner
Inquiry into the Sublime and Beautiful, P. 5, Sect. 4 et 5;
allein er zieht daraus den ganz falschen Schluß, daß wir die Worte
hören, vernehmen und gebrauchen, ohne irgend eine Vorstellung (
idea) damit zu verbinden; während er hätte schließen sollen, daß nicht alle Vorstellungen (
ideas) anschauliche Bilder (
images) sind, sondern daß gerade die, welche durch Worte bezeichnet werden müssen, bloße
Begriffe (
abstract notions) und diese, ihrer Natur zufolge, nicht
anschaulich sind. – Eben weil Worte bloße Allgemeinbegriffe, welche von
den anschaulichen Vorstellungen durchaus verschieden sind, mittheilen,
werden z. B. bei der Erzählung einer Begebenheit, zwar alle Zuhörer die
selben Begriffe erhalten; allein wenn sie nachher sich den Vorgang
veranschaulichen wollen, wird jeder ein anderes
Bild davon in seiner Phantasie
entwerfen, welches von dem richtigen, das allein der Augenzeuge hat,
bedeutend abweicht. [Ein Phänomen, das gut erforscht worden ist die letzten 150 Jahre. Es zeigt sich auch in der Visualisierung von Sprache, in den Verfilmungen von Literatur. Der Vorstellungsgrad von Geschriebenem als Abstraktem gegenüber dem Bildlichen als Anschaulichen gewährt höchste und weiteste Freiheit, während der Film oder die Bildfolge das Anschauliche nicht mehr dem Rezipienten überlässt, sondern ihm es vorsetzt.] Hierin liegt der nächste Grund (zu welchem sich aber
noch andere gesellen) warum jede Thatsache durch Weitererzählen
nothwendig entstellt wird: nämlich der zweite Erzähler theilt Begriffe
mit, die er aus
seinem Phantasiebilde abstrahirt hat
und aus denen der Dritte sich wieder ein anderes noch abweichenderes
Bild entwirft, welches er nun wieder in Begriffe umsetzt, und so geht es
immer weiter. Wer trocken genug ist, bei den ihm mitgetheilten
Begriffen stehen zu bleiben und diese weiter zu geben, wird der treueste
Berichterstatter seyn.
Die beste und vernünftigste Auseinandersetzung über Wesen und Natur der Begriffe, die ich irgendwo habe finden können, steht in
Thom. Reid's
Essays on the power of human mind, Vol. 2, essay 5, ch. 6. – Dieselbe ist seitdem gemißbilligt worden von
Dugald Stewart, in dessen
Philosophy of the human mind: über diesen will ich, um
kein Papier an ihm zu verschwenden, nur in der Kürze sagen, daß er zu
den Vielen gehört hat, die durch Gunst und Freunde einen unverdienten
Ruf erlangten; daher ich nur rathen kann, mit den Schreibereien dieses
Flachkopfes keine Stunde zu verlieren.
Daß übrigens die
Vernunft das Vermögen der abstrakten, der
Verstand aber das der anschaulichen Vorstellungen sei, hat bereits der fürstliche Scholastiker
Picus de Mirandula eingesehen, indem er in seinem Buche
De imaginatione, c. 11, Verstand und Vernunft sorgfältig
unterscheidet und diese für das diskursive, dem Menschen eigentümliche
Vermögen, jenen aber für das intuitive, der Erkenntnißweise der Engel,
ja, Gottes verwandte erklärt. – Auch
Spinoza charakterisirt ganz richtig die Vernunft als das Vermögen allgemeine Begriffe zu bilden:
Eth. II, prop. 40, schol. 2. –
Dergleichen brauchte nicht
erwähnt zu werden, wäre es nicht wegen der Possen, welche in den
letzten fünfzig Jahren sämmtliche Philosophaster in Deutschland mit dem
Begriffe der
Vernunft getrieben haben,
indem sie,
mit unverschämter Dreistigkeit, unter diesem Namen ein völlig erlogenes
Vermögen unmittelbarer, metaphysischer, sogenannter übersinnlicher
Erkenntnisse einschwärzen wollten,
die wirkliche Vernunft hingegen
Verstand benannten, den eigentlichen
Verstand aber, als ihnen sehr fremd, ganz übersahen und seine intuitiven
Funktionen der Sinnlichkeit zuschrieben.
Wie bei allen Dingen dieser
Welt jedem Auskunftsmittel, jedem Vortheil, jedem Vorzug sich sofort
auch neue Nachtheile anhängen; so führt auch die Vernunft, welche dem
Menschen so große Vorzüge vor den Thieren giebt, ihre besondern
Nachtheile mit sich und eröffnet ihm Abwege, auf welche das Thier nie
gerathen kann. Durch sie erlangt eine ganz neue Art von Motiven, der das
Thier unzugänglich ist, Macht über seinen Willen; nämlich die
abstrakten Motive, die bloßen
Gedanken, welche keineswegs stets aus der eigenen Erfahrung abgezogen
sind, sondern oft nur durch Rede und Beispiel Anderer, durch Tradition
und Schrift, an ihn kommen. [Hier handelt es sich um das verrufene sogenanne
angelesene Wissen im Vergleich zum Wissen als Resultat eines Verstehenvorganges. Heute dient die Digest-Culture und das Häppchenlesen, vor allem übers Internet und in den social media, der schnellen, oberflächlichen Informiertheit, die kein Bildungsgut im früheren oder eigentlichen Sinn mehr darstellt.] Dem
Gedanken zugänglich geworden steht er sofort auch dem
Irrthum offen. Allein jeder Irrthum
muß, früher oder später, Schaden stiften, und desto größern, je größer
er war. Den individuellen Irrthum muß, wer ihn hegt, ein Mal büßen und
oft theuer bezahlen: das Selbe wird im Großen von gemeinsamen Irrthümern
ganzer Völker gelten. Daher kann nicht zu oft wiederholt werden, daß
jeder Irrthum, wo man ihn auch antreffe, als ein Feind der Menschheit zu
verfolgen und auszurotten ist, und daß es keine privilegirte, oder gar
sanktionirte Irrthümer geben kann. Der Denker soll sie angreifen; wenn
auch die Menschheit, gleich einem Kranken, dessen Geschwür der Arzt
berührt, laut dabei aufschrie. – Das Thier kann nie weit vom Wege der
Natur abirren: denn seine Motive liegen allein in der
anschaulichen Welt, wo nur das
Mögliche, ja, nur das Wirkliche Raum findet: hingegen in die abstrakten
Begriffe, in die Gedanken und Worte, geht alles nur Ersinnliche, mithin
auch das Falsche, das Unmögliche, das Absurde, das Unsinnige. Da nun
Vernunft Allen, Urtheilskraft Wenigen zu Theil geworden; so ist die
Folge, daß der Mensch dem Wahne offen steht, indem er allen nur
erdenklichen Chimären Preis gegeben ist, die man ihm einredet, und die,
als Motive seines Wollens wirkend, ihn zu Verkehrtheiten und Thorheiten
jeder Art, zu den unerhörtesten Extravaganzen, wie auch zu den seiner
thierischen Natur widerstrebendesten Handlungen bewegen können. [Klingt ähnlich der ratlosen Frage, wie sich Junge, schlecht sozialisierte oder wenig gebildete Menschen derart zu "radikalisieren" vermögen, wie sie heute vor allem Moslems repräsentieren oder weshalb so viele Menschen kein Bedürfnis nach Bildung zeigen.]
Eigentliche Bildung, bei welcher Erkenntniß und Urtheil Hand in Hand
gehen, kann nur Wenigen zugewandt werden, und noch Wenigere sind fähig
sie aufzunehmen. Für den großen Haufen tritt überall an ihre Stelle eine
Art Abrichtung: sie wird bewerkstelligt durch Beispiel, Gewohnheit und
sehr frühzeitiges, festes Einprägen gewisser Begriffe, ehe irgend
Erfahrung, Verstand und Urtheilskraft dawären, das Werk zu stören. So
werden Gedanken eingeimpft, die nachher so fest und durch keine
Belehrung zu erschüttern haften, als wären sie
angeboren, wofür sie auch oft, selbst
von Philosophen, angesehen worden sind. [Der Antisemitismus ist so eine Art Krankheit, Deformation, aber auch alls Hasshaltungen oder religiösen Intoleranzen bzw. Pochen auf Supremacie etc.] Auf diesem Wege kann man, mit
gleicher Mühe, den Menschen das Richtige und Vernünftige, oder auch das
Absurdeste einprägen, z. B. sie gewöhnen, sich diesem oder jenem Götzen
nur von heiligem Schauer durchdrungen zu nähern und beim Nennen seines
Namens nicht nur mit dem Leibe, sondern auch mit dem ganzen Gemüthe sich
in den Staub zu werfen; an Worte, an Namen, an die Vertheidigung der
abentheuerlichsten Grillen, willig ihr Eigenthum und Leben zu setzen;
die größte Ehre und die tiefste Schande beliebig an Dieses oder an Jenes
zu knüpfen und danach Jeden mit inniger Ueberzeugung hoch zu schätzen,
oder zu verachten; aller animalischen Nahrung zu entsagen, wie in
Hindustan, oder die dem lebenden Thiere herausgeschnittenen, noch warmen
und zuckenden Stücke zu verzehren, wie in Abyssinien; Menschen zu
fressen, wie in Neuseeland, oder ihre Kinder dem Moloch zu opfern; sich
selbst zu kastriren, sich willig in den Scheiterhaufen des Verstorbenen
zu stürzen, – mit Einem Worte,
was man will.
Daher die Kreuzzüge, die
Ausschweifungen fanatischer Sekten, daher Chiliasten und Flagellanten,
Ketzerverfolgungen, Autos de Fe, und was immer das lange Register
menschlicher Verkehrtheiten noch sonst darbietet. Damit man nicht denke,
daß nur finstere Jahrhunderte solche Beispiele liefern, füge ich ein
Paar neuere hinzu. Im Jahre 1818 zogen aus dem Würtembergischen
7000 Chiliasten in die Nähe des Ararat: weil das, besonders durch
Jung-Stilling angekündigte, neue Reich Gottes daselbst anbrechen sollte.
Gall erzählt, daß zu seiner Zeit eine
Mutter ihr Kind getödtet und gebraten habe, um mit dessen Fett die
Rheumatismen ihres Mannes zu kuriren . Die tragische Seite des Irrthums und
Vorurtheils liegt im Praktischen, die komische ist dem Theoretischen
vorbehalten: hätte man z. B. nur erst drei Menschen fest überredet, daß
die Sonne nicht die Ursache des Tageslichts sei; so dürfte man hoffen,
es bald als die allgemeine Ueberzeugung gelten zu sehen. Einen
widerlichen, geistlosen Scharlatan und beispiellosen Unsinnschmierer,
Hegel, konnte man, in Deutschland, als
den größten Philosophen aller Zeiten ausschreien, und viele Tausende
haben es, zwanzig Jahre lang, steif und fest geglaubt, sogar außer
Deutschland die Dänische Akademie, welche für seinen Ruhm gegen mich
aufgetreten ist und ihn als einen
summus philosophus hat geltend machen wollen. (Siehe
hierüber die Vorrede zu meinen »Grundproblemen der Ethik«). – Dies also
sind die Nachtheile, welche, wegen der Seltenheit der Urtheilskraft, an
das Daseyn der Vernunft geknüpft sind. Zu ihnen kommt nun noch die
Möglichkeit des Wahnsinns: Thiere werden nicht wahnsinnig; wiewohl die
Fleischfresser der Wuth, die Grasfresser einer Art Raserei ausgesetzt
sind.
[Schopenhauer betont also die Phänomene nicht als vergangene Eigenheiten, sondern als immer wiederkehrende in der Gegenwart. In unserer finsteren Gegenwart sind es auch nicht nur die fanatischen Moslems oder Islamisten, sondern auch Faschisten oder Neonazis, Rassisten und Suprematisten in den vorgeblich aufgeklärten westlichen Nationen, allen voran die barbarischen USA, von Asien, wo die Niederhaltung und Ausbeutung noch extrem funktioniert, oder Afrika, das sich einfach nicht entwickelt hat und im Flüchten den Ausweg sieht, anstatt endlich im Aufbau der eigenen Länder, ganz zu schweigen, die die tiefe Malaise belegen.]