Sonntag, 13. August 2017

Dichtung als Platzregen

In der Zeit meiner literarischen Anfänge klagten gewisse Schriftsteller, die sehr von sich selbst überzeugt waren, über die Rückständigkeit des italienischen Schrifttums, schwärmten für die einstigen Avantgarden, predigten eine radikal experimentelle Poesie und den Bruch mit der Tradition. Aber «Avantgarde» ist, wie uns Baudelaire in «Mon cÂœur mis à nu» zu bedenken gibt, ein militärischer Ausdruck: «Der häufige Gebrauch militärischer Metaphern zeugt nicht von einem unbeugsamen Geist, sondern von einem zu Disziplin und Anpassung neigenden, einem untergeordneten, provinziellen, nur innerhalb kollektiver Muster denkfähigen Geist.» Und das Etikett «experimentelle Lyrik» ist so künstlich wie alle Etiketts, auf die man uns festlegen will. Die Dichtung kann sich nicht unabhängig von der Geschichte und von den gesellschaftlichen Veränderungen entwickeln, aber auch keinem linearen, voraussehbaren Lauf folgen. Sie ist ein «Vorgriff auf das Unbekannte» (Giorgio Vigolo). Sie fügt sich dem Kanon der Theoretiker nicht ein. Sie hält sich nicht an den Kalender: Sie ist ein Platzregen, der die Wettervorhersagen durcheinander bringt.
Alberto Nessi (2004)

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