Haimo L. Handl
Poem & Poet
Ich schätze Gedenktage. Sie geben mir eine Gelegenheit mehr
mich entweder zu erinnern oder entferntes Bekanntes wieder heranzuholen oder
Neues zu entdecken. Historische Anlässe, aber vor allem Geburts- oder Todestage
von Persönlichkeiten. So auch jetzt, als ich aufgrund des fünften Todestages
des irischen Poeten Seamus Heaney aus meiner Bibliothek einige Bücher von ihm
holte: Poems und Essays. Die Lektüre als Auffrischung. Aber nicht nur. Denn
jedes neues Lesen eröffnet neue Sichten, Aspekte, Höhen und Tiefen. Nicht
immer, jedoch meist. Vor allem im Alter, da das Gedächtnis prall gefüllt ist
mit Wissen und Erfahrungsgehalten, Eindrücken und Bildern, sind Weckungen
Bereicherungen, glitzern wie Edelsteine auf, obwohl sie oft nur Kiesel am
inneren Erinnerungswege sind.
Ich las nicht nur, sondern hörte und sah auch. Ich habe
einige Interviews gespeichert aus dem Radio, ebenso von Fernsehstationen. Ich
folge begeistert der ruhigen Stimme des Poeten, bin von seiner heiteren
Gelassenheit angetan, freu mich über die gescheiten Fragen des Interviewers
oder der Interviewerin, versuche Unterschiede zwischen einem frühen Gespräch,
gleich nach der Nobelpreisverleihung (1995) und fünf bzw. 10 Jahre später
auszumachen, schlag hie und da ein Wort nach, dessen Bedeutung ich mir nicht
ganz sicher bin, weil ich mich auf die Kombinatorik aus dem Kontext doch nicht
verlasse, bin schier elektrisiert über Heaneys Antworten, deren Kerninhalt ich
aus Texten kenne, hier aber souverän, fast beiläufig, persönlich, vorgetragen
höre, aber in Weise, die kein Vortrag ist, obwohl der Poet als Professor und
Lehrer zu dozieren verstand.
Ich kenne keinen zeitgenössischen Dichter in deutscher
Sprache, der ihm gleichkommt. Wer mich als erstes einfällt, ist Joseph Brodsky,
mit dem Heaney befreundet war, und von dem er sehr positiv sprach, oder der
Schwede Tomas Tranströmer, beide ebenfalls Nobelpreisträger. Das Werk von
Heaney ist umfangreich, das von Brodsky etwas geringer und das von Tranströmer
mit einem Umfang von insgesamt ca. 500 Seiten am geringsten. Aber offensichtlich
wiegt nicht die Quantität, sondern die Qualität. Die ist bei allen drei
gegeben. (Heaney schätze auch das Werk von Ted Hughes, Patrick Kavanagh und
Robert Frost, um nur einige zu nennen.)
Natürlich verstand
Heaney sein Handwerk. Er äußerte sich auch explizit dazu bzw. die
Virtuosität und Technik ist jenes, was er lehrte. Aber das war, wie bei jedem
gehaltvollen Dichter dieser Art, eben auch bei Brodsky oder Tranströmer, nur ein
Teil. Das Wesentliche war eine psychisch-mentale Disposition, die ihm
ermöglichte, Realität in vielerlei Realitätspartikeln aufzuspüren, zu erfassen,
ins Blickfeld zu bekommen, sozusagen „abzutasten“ und wörtlich, in Worten, also
in seiner Sprache, wiederzugeben. Die Meisterschaft bestand im Vermögen, innere
Ansammlungen, Verdichtungen, so zur Sprache zu bringen, dass Leser, wenn sie
denn lesekundig sind, etwas von diesen Erfahrungen und diesem Wissen
mitbekommen. Nie ging es ums Kalkül, um bloße Konstruktion, nie um
Gefälligkeit.
Diese Haltung ist heute selten. Sie entspricht nicht dem
Zeitgeist (oder dem Ungeist, der sich als Zeitgeist kaschiert). Sie gemahnt
eher an frühere Dichter, von denen die Jungen heute behaupten, dass sie obsolet
seien, für uns moderne, geplagte, unbeheimatete Nervöse nicht zeitgemäß. Zu
wenig direkter Gebrauchswert. Den lieferte Erich Fried, der engagierte
Gutmensch als Dichter. Technische Virtuosität lieferten die Konkreten Poeten,
bei uns war vor allem Ernst Jandl, in Deutschland Oskar Pastior, früher Franz
Mohn, oder der ins Gerede gekommene Eugen Gomringer (nicht wegen vermeintlicher
Qualität seiner Texte, sondern wegen eines gesellschaftlichen Vorfalls). Von
den Plebejern der Poetry Slam-Fraktion will ich gar nicht reden; diese Bewegung
ist ein dümmlicher Zirkus von sich überschätzenden Schwätzern, Agenten der
peinlichen Selbstdarstellung bzw. Experten im Aufmerksamkeitsmanagement. (Ich
formuliere politisch nicht korrekt: es muss kultürlich heißen: Schwätzerinnen,
Agentinnen und Expertinnen, denn die Mehrheit der Schwachen und Peinlichen dieser
Szene sind weiblichen Geschlechts.) Das ist meilenweit weg von dem, was Heaney
& Co. waren, darstellten und vermittelten.
Ich wünschte, wir hätten Poeten wie Seamus Heaney. Die in
die Tiefe gelangen, aber dort nicht absacken. Die nicht in modischen
Engagements sich verausgaben, sondern die Werte der Poesie in der Sprache sehen
– und hören. Die politisch wach sind, aber keine ideologischen Propagandisten. Klar,
Heaney fand nicht nur Belobiger, sondern auch Kritiker. Den einen war er zu
wenig politisch eindeutig, für andere war seine Zwitterposition kein Problem;
die amerikanische professorale Literaturkritikerin Helen Vendler nannte ihn „a
poet of the in-between“. Der
in Boston lebende und lehrende Shaun O’Connell meinte, man könne ja Heaney
schätzen, aber, warnte er, „though they may be missing much of the undercutting
complexities of his poetry, the backwash of ironies which make him as bleak as
he is bright.”
Mich interessieren die Fragen nach Rangreihe (Ranking)
überhaupt nicht und Kritikerstimmen nur am Rande. Ich höre den Poeten, ich lese
seine Poems und Essays – und ich bin begeistert. Obwohl er sich mit der
Alltagswelt abgibt, auf Kindheitserinnerungen zurückgreift, Kleinigkeiten
fokussiert, liefert er eine substanzreiche, lebendige Sprache, die mich
verführt, die verschiedenen Lagen, wie Tapeten an einer Wand, abzuziehen, um
für mich neue, eigentlich alte, darunter liegende Bedeutungskerne oder –muster
zu entdecken, die Sprachfärbungen nachwirken zu lassen, den Wortklang anstimmen
und verebben lassen.
Oft erscheint seine Sprache „normal“, „regulär“, aber in der
Art der Reihung, des von ihm hergestellten Textkörpers verwandelt sich die
Alltäglichkeit in eine Besonderheit. Zu Heaneys „The Redress of Poetry: Oxford Lectures” schrieb James
Longenbach in THE NATION vom 4.12.1995 unter dem Titel "No Choice But Two
Minds":
"Heaney wants to think of poetry not only
as something that intervenes in the world, redressing or correcting imbalances,
but also as something that must be redressed—re-established, celebrated as
itself. The criticism poets write is most often interesting because of their
own poetry, but Heaney’s criticism would be read even if it were unbolstered by
a contiguous poetic achievement."
Man könnte diesen Standpunkt fast religiös nennen. Ähnlich
dem Vers von Friedrich Hölderlin (aus „Andenken“): „Was bleibt aber, stiften
die Dichter“. Seamus Heaney stiftete, schuf, gab weiter. Sein Werk beweist,
dass in der Lyrik ein anderer Zeitbegriff herrscht, ein anderes Denken, eine
eigene Sprache. Hier ein paar
Strophen aus „Digging“:
Digging
Between my finger and my thumb
The squat pen rests; snug as a gun.
Under my window, a clean rasping sound
When the spade sinks into gravelly ground:
My father, digging. I look down
Till his straining rump among the
flowerbeds
Bends low, comes up twenty years away
Stooping in rhythm through potato drills
Where he was digging.
The coarse boot nestled on the lug, the
shaft
Against the inside knee was levered firmly.
He rooted out tall tops, buried the bright edge
deep
To scatter new potatoes that we picked,
Loving their cool hardness in our hands.
…
Zum Vergleich das letzte Gedicht Heaneys, das in der Irish
gallery’s anthology erschien und welches THE GUARDIAN am 3.10.2014 publizierte:
A poem Seamus Heaney finished 10 days before he
died sees the Nobel laureate exploring the quiet beauty of a canal painted by
the French artist Gustave Caillebotte, where time is slowed “to a walking
pace”, and “world stands still”.
Banks of a Canal
by
Seamus Heaney
Gustave Caillebotte, c.1872
Gustave Caillebotte, c.1872
Say
‘canal’ and there’s that final vowel
Towing silence with it, slowing time
To a walking pace, a path, a whitewashed gleam
Of dwellings at the skyline. World stands still.
The stunted concrete mocks the classical.
Water says, ‘My place here is in dream,
In quiet good standing. Like a sleeping stream,
Come rain or sullen shine I’m peaceable.’
Stretched to the horizon, placid ploughland,
The sky not truly bright or overcast:
I know that clay, the damp and dirt of it,
The coolth along the bank, the grassy zest
Of verges, the path not narrow but still straight
Where soul could mind itself or stray beyond.
Towing silence with it, slowing time
To a walking pace, a path, a whitewashed gleam
Of dwellings at the skyline. World stands still.
The stunted concrete mocks the classical.
Water says, ‘My place here is in dream,
In quiet good standing. Like a sleeping stream,
Come rain or sullen shine I’m peaceable.’
Stretched to the horizon, placid ploughland,
The sky not truly bright or overcast:
I know that clay, the damp and dirt of it,
The coolth along the bank, the grassy zest
Of verges, the path not narrow but still straight
Where soul could mind itself or stray beyond.
In ihrem
Nachruf auf Heaney schrieb Margaret Spillane in THE NATION (Sept.4, 2013) “Remembering
Seamus Heaney – The contrarian poet refused to toe any party line:
Heaney was mindful of the idea that even a
great artist’s work takes place on ground where others have camped before, and
labored before, most likely in silence and under stricture. He acknowledged
“that embarrassment…which the poet may find as he exercises his free gift in
the presence of the unfree and the hurt.” Any compromise of this gift would
have betrayed not just himself, but all who had tasted freedom only in their
dreams. So he made a career of committing that most sacred act of
insubordination: he spoke in his own voice. “The achievement of a poem, after
all, is an experience of release,” Heaney said. “The tongue, governed for so
long in the social sphere by considerations of tact and fidelity, by nice
obeisances to one’s origin within the minority or the majority, this tongue is
suddenly ungoverned.”
Ich stelle die Bücher zurück ins Regal, lehne mich zurück
und sinniere. Seamus Heaney war hier oder ich dort. Gleichwie. Seine Worte wirken
nach. Sein Geist lebt. Schön so.
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