Haimo L. Handl
Wahrheit & Wahrheiten
Lange vor „Fake News“ war das Problem der Wahrheit oder der Wahrheiten in vielen Gesellschaften
virulent, manifest oder zumindest latent. Gralshüter verordneter Wahrheiten
achteten auf „ihre“ Wahrheit, ihre Reinheit und Unverletztheit, verfolgten mit
Argusaugen Häretiker oder Ketzer, Skeptiker und Zweifler bzw. generell Feinde
DER Wahrheit, als die ihre, entsprechend ihrer Deutungshoheit, gesehen wurde.
Im Profanpolitischen, vor allem aber im Religiösen tobten die Machtkämpfe,
herrschten die schlimmsten Verfolgungen und Strafen. Kritik war nicht nur
verpönt, sondern verboten.
Der Kampf gegen Ungläubige wurde gnadenlos, unerbittlich
geführt. Später folgten die menschenverachtenden Kaderparteien den religiösen
Vorbildern. Der Inquisitionsgeist, das Rächertum, wie wir es heute vor allem
von den ungebildeten, frommen Moslems und Islamisten kennen, war noch vor gar
nicht langer Zeit im Westen gang und gäbe. Die Aufklärung war eine historisch
gesehen kurze Phase und wurde nach dem 2. Weltkrieg erfolgreich von den neuen
Herren und Eiferern zurückgedrängt, wenn nicht gänzlich kaltgestellt.
Dabei ging es nicht nur um die Reinheit einer religiösen
Lehre, auch nicht um die Geltung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Aussagen.
Nein, sogar in der Kunst musste DIE Wahrheit gelten, wurden Abweichler, freche
Immoralisten oder kritische Nörgler verfolgt, verfemt, bestraft. Das
Strafbedürfnis war dabei beim Volk, den Unteren, oft viel heftiger und
radikaler als bei den Herren, wie wir aus den Annalen der Hexenverfolgungen und
Hexenprozesse und Folterungen lernen müssen. Der Mob, einmal Blut geleckt, ist
unersättlich in seiner Gier nach zerstörerischer Gewalt. Deckt sich diese inhumane Hetze, die Bereitwilligkeit
zur Denunziation, Lüge und vorgebliche Wahrheitstreue mit den Interessen der
Priesterschaft, der Kirche, den höheren Parteifunktionären oder den großen
Kadern, wird alles dem Wahn geopfert, herrscht Krieg. Das war vor Hitler und
Stalin, vor Mao und Pol Pot so, das galt unter den kriegsverbrecherischen
Japanern, es galt bei den Inquisitoren katholischer oder protestantischer
Herkunft, es galt in England und Spanien, Frankreich und Italien, natürlich
auch Deutschland oder Russland. Man müsste eher fragen: wo galt es nicht?
Augenzeuge sein gilt nicht viel. Die Wahrheit wird gebogen oder
gebläut, eingebläut. 2x2 ist nicht selbst verständlich vier, dort, wo man die
Binsenwahrheit noch aussprechen darf, muss man sich glücklich schätzen, dass es
Big Brother noch erlaubt, das lehrten schon Arthur Koestler oder George Orwell.
Auch heute behauptet der Chef des deutschen Inlandsgeheimdienstes öffentlich,
dass es keine Belege für eine Hetzjagd in Chemnitz gebe und dass das
reklamierte Video eine Fälschung sei. Dem schließt sich der deutsche
Innenminister an. Was tausende von Menschen mitansahen, erlebten, gilt nicht,
wenn der Behördenvertreter seine eigene Sicht dem entgegenstellt. Und ein
deutscher Rechtsanwalt, der tagsüber Flüchtlinge bei Gericht vertritt, außer
Dienst aber öffentlich zu Pogromen aufruft, nannte die Chemnitzer Vorfälle
„Notwehr“: die armen rechtschaffenen Deutschen haben sich nur gewehrt.
Aber kommen wir zu etwas Wichtigem, zur Kultur, vor allem
der Literatur. Gibt es für Schriftsteller als Lieferanten und Produzenten
einerseits und Leser, als Konsumenten andererseits, ein Wahrheitsproblem? Von
welchen Wahrheiten wäre zu sprechen, von welchen möglichen Problemen? Oder sind
alle so frei, dass es keine grundsätzlichen Probleme gibt, nur ein paar
unterschiedliche Gewichtungen, Deutungen, Auslegungen? Halt wie in der Politik?
Für mich bietet Karl Kraus den Extremfall. Er drückte
bittere Wahrheiten aus, die die Mehrheit nicht annahm und entrüstet zurückwies.
Kraus zeigte, mit denselben Worten, die er den Zeitungen der verhassten Journaille
entnahm, die Lügenkonstruktionen, die „Sprachbeugung“, die ähnlich der
Rechtsbeugung eine Wahrheitsbeugung war. Er entblößte die Kriegsgeilheit,
deckte das verlogene Geschwafel auf und geißelte die Kollaboration. Er griff Kollegen an und Kolleginnen. Später
werden dann aufgeklärte Feministinnen ihn einen Frauenfeind, einen Missetäter
nennen, und führen als Beleg seine Ausfälle gegen die Schalek an, die seine
Feindlichkeit gegenüber der Frauenemanzipation dokumentieren.
Seine konservative Sicht zur Frauenemanzipation wiegt
ungleich schwerer als die Kriegshetze und Kriegsbegeisterung der
Kriegswilligen, gegen die Kraus als einer der ganz wenigen Stellung bezog.
Seine Wahrheit wird relativiert, die der Haudegen und Heimattreuen, z.B.
Rosegger und Kernstock, belobigt oder bagatellisiert. Nicht, dass
Schriftsteller politisch sein musste . Von Kafka ist bekannt, dass er den Krieg
nicht zur Kenntnis nahm, spießerhaft fraß und soff und im Freundeskreis gellend
lachte, weil’s gar so lustig war: seine Tagebucheintragung vom 2.8.1914 lautet
schlicht „„Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. - Nachmittag
Schwimmschule.“ Aber der Rückzug ins Schweigen ist schwach und feig. Man könnte
auch sagen, immerhin hat der schreibende Versicherungsangestellte wenigstens
notiert, dass eine weitere Partei eine
Kriegserklärung abgegeben hat. Gibt es von Kafka irgend etwas Konkretes zum
oder gegen den Krieg? Nein. Nur indirekt, in Amtsdeutsch verfasst, die fremden
Mächte und Kräfte gegen das wehrlose, schwache Individuum. Das allerdings wurde
nach dem Krieg, vor allem nach dem Zweiten, als Weltbestes gelobt, weil’s
anscheinend jeder verstehen konnte. Die Wahrheit war kafkaesk. Das liebte man.
Die Wahrheit des Karl Kraus passte den meisten nicht. Sie
war angriffig, spitz, schneidend: Aus dem Aufsatz IN DIESER GROSSEN ZEIT
(November 1914) der Beginn und ein paar Absätze:
In dieser grossen Zeit
die ich noch gekannt habe, wie
sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt;
und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht
möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit
ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich
nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht mehr
vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht —; in dieser ernsten
Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst werden
könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst
auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da
dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen,
und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein
eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor
Mißdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit,
Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen der Phantasiearmut,
wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu
spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, muß das, was nicht
gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird,
unaussprechlich.
Karl Kraus hat ein Verständnis vom Kapitalismus, das modern
einsichtig scheint. Er blickt auf den Grund der Ausbeutung, der Entfremdung,
den Prozess der Verwandlung von potentiellen Individuen in Sachen, von Menschen in
Menschenmaterial. Material kennt keine Wahrheit mehr.
Weiter Karl Kraus:
Die Unterwerfung der Menschheit
unter die Wirtschaft hat ihr nur die Freiheit zur Feindschaft gelassen, und
schärfte ihr der Fortschritt die Waffen, so schuf er ihr die mörderischeste vor
allen, eine, die ihr jenseits ihrer heiligen Notwendigkeit noch die letzte
Sorge um ihr irdisches Seelenheil benahm: die Presse. Der Fortschritt, der auch
über die Logik verfügt, entgegnet, die Presse sei auch nichts anderes als eine
der Berufsgenossenschaften, die von einem vorhandenen Bedürfnis leben. Aber
wenn es so wahr ist wie es richtig ist, und ist die Presse nichts weiter als
ein Abdruck des Lebens, so weiß ich Bescheid, denn ich weiß dann, wie dieses
Leben beschaffen ist. Und dann fällt mir zufällig bei, an einem trüben Tage
wird es klar, daß das Leben nur ein Abdruck der Presse ist. Habe ich das Leben
in den Tagen des Fortschritts unterschätzen gelernt, so mußte ich die Presse
überschätzen. Was ist sie? Ein Bote nur? Einer, der uns auch mit seiner Meinung
belästigt? Durch seine Eindrücke peinigt? Uns mit der Tatsache gleich die
Vorstellung mitbringt? Durch seine Details über Einzelheiten von Meldungen über
Stimmungen oder durch seine Wahrnehmungen über Beobachtungen von Einzelheiten
über Details und durch seine fortwährenden Wiederholungen von all dem uns bis
aufs Blut quält? Der hinter sich einen Troß von informierten, unterrichteten,
eingeweihten und hervorragenden Persönlichkeiten schleppt, die ihn beglaubigen,
ihm Recht geben sollen, wichtige Schmarotzer am Überflüssigen? Ist die Presse
ein Bote? Nein: das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt nicht nur
den Anspruch, daß die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse
seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der
Schein entsteht, daß Taten zuerst berichtet werden, ehe sie verrichtet werden,
oft auch die Möglichkeit davon, und jedenfalls der Zustand, daß zwar
Kriegsberichterstatter nicht zuschauen dürfen, aber Krieger zu
Berichterstattern werden.
Die große Täuschung, die Malaise der Wahrheit, hat Kraus früh
so scharf erkannt, dass er heute noch von den meisten gemieden oder als Nörgler
abgetan wird. Der Schluss aus dem Kapitel „In dieser grossen Zeit“ möge dennoch
beachtet werden:
Möge die Zeit groß genug werden,
daß sie nicht zur Beute werde eines Siegers, der seinen Fuß auf Geist und
Wirtschaft setzt! Daß sie den Alpdruck der Gelegenheit überwinde, in der der
Sieg zum Verdienst der Unbeteiligten wird, die verkehrte Ordensstreberei sich
ihrer Ehren entäußert, die gerade Dummheit Fremdwörter und Speisennamen ablegt
und in der Sklaven, deren letztes Ziel ihr Lebtag war, Sprachen zu
»beherrschen«, fortan mit der Fähigkeit durch die Welt kommen wollen, Sprachen
nicht zu beherrschen! — Was wißt ihr, die ihr im Krieg seid, vom Krieg?! Ihr
kämpft ja! Ihr seid ja nicht hier geblieben! Auch denen, die für das Leben das
Ideal geopfert haben, ist es einmal vergönnt, das Leben selbst zu opfern. Möge
die Zeit so groß werden, daß sie an diese Opfer hinanreicht, und nie so groß,
daß sie über ihr Andenken ins Leben wachse!
Soweit Karl Kraus. Er hat viel zur Lüge und zur Wahrheit
geschrieben, zur Ehre und Verrat, zum adeligen Dreck und zur Verkommenheit der
Elite, zum Hurentum der Journaille. Er hat verbissen die Schleier gehoben, vom
verdeckten Haupt der Wahrheit, und das hat man ihm eigentlich nie verziehen.
Springen wir in die Nachkriegszeit der Fünfziger- und
Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts. Nach dem 2. Weltkrieg sammelte sich
ziemlich rasch wieder die alte Genossenschaft der Kriegsteilnehmer, der Heimattreuen,
der Volksgenossen, der reaktionären Haudegen und Vertreter deutscher
Gründlichkeit. Auch in Österreich wusste man, ohne die Nazis lässt sich kein
Staat machen, wir brauchen die Exnazis, weil sie Fachleute sind. Es gab immer
gute Gründe. Es gibt sie immer zuhauf. Heute braucht man die faschistische
Türkei, weil ohne dieses diktatorische Regime die Flüchtlingsströme wieder
stärker fließen würden. Was kümmert den feinen Deutschen oder andere Europäer, die
Diktatur, die hat man ja selbst erlebt und ist darüber hinweggekommen, gleich
zweimal. Nur keine Übertreibungen. Chemnitz lehrt uns, was passiert, wenn man
zu tolerant ist, wenn man die Zügel schleifen lässt.
1964 brachte Heinz Friedrich (1922-2004) ein Büchlein
heraus, das dem Zeitgeist Ausdruck verlieh: „Schwierigkeiten heute die Wahrheit
zu schreiben. Eine Frage und einundzwanzig Antworten.“ Diese stammen von Carl
Amery, Stefan Andres, Reinhard Baumgart, Heimito von Doderer, Herbert
Eisenreich, Helmut Heissenbüttel, Walter Jens, Marie Luise Kaschnitz, Hermann Kesten, Rudolf Krämer-Badoni, Siegfried Lenz, Reinhard Lettau, Ludwig
Marcuse, Ernst Meister, Hans Erich Nossack, Christa Reinig, Arno Schmidt,
Friedrich Sieburg, Wolfgang Weyrauch, Gerhard Zwerenz.
In der Einleitung der Anthologie stellt der Herausgeber
bedauernd fest: „Wichtige Namen wie Heinrich Böll, Günter Grass, Martin Walser,
Carl Zuckmayer, Wolfdietrich Schnurre, Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Alfred
Andersch und andere fehlen; sie wurden aufgefordert, aber sie haben – zum
überwiegenden Teil mit ausführlicher Begründung – die Auseinandersetzung mit
dem Thema abgelehnt.“ Der Herausgeber ist so freundlich zu spekulieren, „und
zwar nicht etwa aus Feigheit oder aus Scheu vor der Öffentlichkeit, sondern
weil sie der Auffassung sind, der Autor könne auf eine derart schwerwiegende
Frage nur durch den Hinweis auf sein Werk antworten.
Das versteht man sofort. Nur die zweite und dritte Riege
vermag „eine derart schwerwiegende Frage“ in kurzgefassten Essays zu
beantworten versuchen, die Meister brauchen dafür ihr ganzes Werk. Schade.
Klingt hochgeschraubt und unglaubwürdig. Mich hätte die Antwort von Frau
Bachmann sehr interessiert. Da dürfte viel Eitelkeit mitgespielt haben,
Empfindlichkeiten, sich mit Minderen in einer Anthologie zu versammeln, das
könnte in einigen Fällen der wahr Grund gewesen sein. Oder tatsächlich
fehlendes Engagement? Nein, nicht gut möglich bei den Aposteln Böll und Grass
(von dem damals noch nichts bekannt war seiner kurzen Waffenbruderschaft mit
der Waffen-SS). Ein anderer Vergesslicher, damals untadeliger Linksliberaler,
Walter Jens, hat ja mitgemacht, ebenso einige sehr konservative Autoren mit
Naziverstrickungen. Der schlimmste davon der aktive Nazi Gerd Gaiser. Wenigstens
war der winkeladvokatisch smarte SSler Holthusen nicht eingeladen worden. Es
blieb der „Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken“, dem MERKUR
vorbehalten, ihn als fleißigen Hausautor zu halten, sogar nach der Affäre mit
Jean Amery. Das ist also ein weiteres Dokument der Wahrheitsauseinandersetzung
im Nachkriegsdeutschland. Aber man soll ja nicht ein Köpferollen einfordern.
Weder bei Jens noch bei Sieburg. Das gilt auch für die linke Gegenseite.
Die antwortenden Autoren machten es sich nicht leicht und
reflektierten verschiedene Aspekte: Tatsachen, wissenschaftliche Aussagen,
Interpretationen, Deutungen. Ideologie, Kunst. Ich stelle mir vor, dieses Thema
wird heute behandelt von Schriftstellerinnen und Journalistinnen. Was käme
raus? Von welcher Art Wahrheit kann fiktionale Literatur sein? Weshalb überwiegt
das Dokumentarische, als authentisch Nachweisbare auch in der Literatur?
Umtreibt eine tiefe Angst vor der Imagination Autorinnen und Autoren?
Vielleicht liege ich falsch und die Frage führte heute zu
keinen nennenswerten Antworten. Der Literaturbetrieb liefert dafür ja einige
Indizien. Wäre es dennoch einen Versuch wert?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen