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In Österreich beklagen wir seit Jahren eine prekäre
Bildungssituation. Heuer gibt es Deutschförderklassen für jene, die nicht oder
kaum Deutsch können. Aber viele jener, die als deutsche Muttersprachler gesehen
werden, können, oft auch später als Studentinnen oder Berufstätige, nicht
richtig deutsch. Nur wenige lesen über das Häppchen-Erfassen im Internet
hinaus. Für die meisten Maturanten wäre die Forderung, Bücher ganz zu lesen,
eine Zumutung.
Mit der funktionalen Analphabetisierung sinkt das
Sprachvermögen. Wir müssen das auch im Journalismus beobachten, der uns
tagtäglich lehrt, wie die Sprache verarmt, an Komplexität einbüßt, obwohl ein
Heer von Expertinnen und Experten uns das Gegenteil weismachen will.
In dieser Situation ist der Fokus auf die Alphabetisierung
zwar notwendig, aber keinesfalls ausreichend. Es bedarf schon mehr als des Vermögens
zu entziffern und mühsam Schriftzeichen zu lesen.
Unsere guten Menschen wollen den Jungen nichts mehr zumuten.
Man darf und muss sie abholen, wo sie sind, aber man darf nicht in die Höhe
steigen. Keine Anforderungen stellen. Keinen Ballast aufbürden. Es gibt keine
positive Tradition, keine guten Klassiker, keinen akzeptierten Literaturkanon.
Das alles ist eine Zumutung der (früheren) Bildungselite, gegen die die
Unteren, die Depravierten, meist die Frauen, vor allem the gender police women,
erbost und empört auftreten. Keine Zeitverschwendung mit Unnützem! Unnütz ist
Lektüre, die nicht Ratgebern oder Kochbüchern entstammt, die meist von Männern
verfassten Romane oder Dramen. Diesen ganzen Dreck (white trash) brauchen und
wollen sie nicht, der gehört entsorgt. Sie entsorgen. Die Jungen sollen betreut
lesen, vor allem in der Gruppe, beaufsichtigt, geleitet, gelenkt, möglichst
unfrei, aber korrekt. Es gilt, jedes Kind, jeden Jugendlichen zu einem
funktionierenden Funktionär, einem Erfüllungsagenten und -werkzeug zu machen.
Alphabetisierung nur soweit, dass „das Mensch“ Anleitungen, Manuals etc. zu
lesen vermag. Den Rest macht die Maschine. Der neue Mensch muss nur in der Lage
sein zu erkennen, wann er welchen Knopf drückt, in welche Richtung am Monitor
schiebt und dann die Ergebnisse befolgt und umsetzt.
In totalitären Gesellschaften waren und sind den
diktatorischen Regimes die "schönen Künste", vor allem die Literatur,
immer verdächtig, immer gefährlich. Heute erhält diese Inquisitionshaltung, bei
uns über die Kirchen überlange eingeübt und im "Kulturerbe" fest
verankert, von den Identitären neuen Auftrieb. Die Maximen der universalen
Aufklärung werden gekündigt, überwunden, zurückgewiesen, als obsolet negiert. Eine
neue Partikularität, eine fatale Beschränkung auf Rasse, Ethnie, Geschlecht und
Religion engt die Blicke ein, das Denken.
Den blökenden, stöhnenden, brüllenden Opfern geht es um
Verweigerung von Bildung, von Wissen, von argumentativem Austausch. Es geht um
das "einfache Leben".
Im Lichte dieser Umtriebe werden Gedenktage wie der
"Weltalphabetisierungstag" selbst zur Lüge oder zur Täuschung.
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