Haimo L. Handl
Die prosperierende Opfergesellschaft
Das gesellschaftliche Differenzierungsvermögen oder, besser
gesagt, die Fähigkeit zu differenzieren ist für eine Mehrheit in unseren
Gesellschaften extrem reduziert und teilt die Welt manichäisch in gut und böse,
hell und dunkel. Täter und Opfer. Die Realitäten sind anders, aber die
simplifizierende Wahrnehmung erleichtert die Abwehr einerseits, die Reklamation
und Forderung andererseits. Diese Reduktionssicht wird zudem nicht kritisch
argumentiert, sondern als authentischer Ausdruck auf- und entgegengestellt. Es
geht nicht mehr um Überzeugen oder Verstehen, es geht um Annahme oder
Ablehnung, Gefolgschaft oder Feindschaft.
Dabei stimmen viele Äußerungen, auch wenn sie pauschal
vorgebracht werden bzw. wenn die reklamierten Fälle verjährt sind. Die
Missbrauchsfälle der katholischen Kirche sind so ein Tatbestand und Skandal.
Aber was geschieht gerade mit dieser riesigen Organisation? Der Staat
interveniert nicht, setzt Rechte gegen die Täter nicht durch, behandelt die
Organisation z. B. nicht als kriminelle Vereinigung. Er könnte die Herausgabe
der Originaldokumente erzwingen, er könnte, anders als soeben in Deutschland,
auch die Klöster, die Brutstätten sexueller Verbrechen über Jahrzehnte, die
kirchlichen Sozialeinrichtungen untersuchen. Er könnte Druck machen. Vor allem
über die Finanzierung und der Durchsetzung rechtsstaatlicher Mittel, wie es
überall sonst „normal“, regulär wäre. Die „Sonderbehandlung“ (ein schreckliches
Wort, hier aber angemessen) ist eigentlich eine Kollaboration mit dem
Verbrechen. Die öffentlich bekundete Scham und Reue der Bischöfe ist ja
rührend. Sie ersetzt aber nicht die Rechtsprechung und entsprechende
Verfolgung. Sie beschwichtigt und hilf, den Gerichtsgang zu vermeiden. Die Kirche
als Staat im Staate. Unerträglich. Dabei könnte der Staat diese Organisation
ganz hart treffen: durch die Einstellung jeder Finanzierung. Er will nicht. Die
Kirche ist politisch wichtiger als „Unregelmäßigkeiten“ abzustellen und zu
ahnden.
[Dass die Kirche nach dem 1. Weltkrieg in der Ersten
Republik nicht enteignet wurde, ebensowenig wie die Aristokratie, die so
vernichtend gewirkt hatte, stellt ein historisches Versäumnis dar. Es erfolgten
zwar einige Verstaatlichungen, aber viel zu geringe und zu wenig radikale, als
dass man von einer adäquaten historischen Antwort sprechen dürfte.]
Die Macht der Kirche war und ist stark. Sogar im
Josephinismus konnte sie nur gemindert, nicht wirklich kontrolliert werden. Auch
später wurden in Österreich Maßnehmen für eine saubere Trennung von Staat und
Kirche geschwächt und nicht durchgezogen. Viele sehen immer noch in der Kirche
eine normgebende, moralische Anstalt, der sie mit Ehrfurcht begegnen. Diese
Ehrfurcht verhindert einen offenen Umgang mit dieser Organisation. Als Furcht
paralysiert sie. Sie hilft den Herren, sprich dem System.
Die vielen Opfer mit ihren sozialen Hintergründen stehen
nicht nur alleine da, sie werden durch diese Praxis gehöhnt. Klar, was verjährt
ist, kann nicht behandelt werden wie etwas, das jetzt oder kürzlich geschah. Aber
auch eine historisch-kritische Aufarbeitung wäre zu begrüßen, weil die
immanenten Strukturen dieser mafiaähnlichen Organisation, die nicht nur den
sexuellen Missbrauch begünstigte, sondern auch die aktive, erfolgreiche
Vertuschung bis zur Perfektion übt(e), offengelegt würden.
Während ängstliche und wohl auch etwas beschränkte Menschen
pauschal von der Lügenpresse schreien, wird die Lüge als Kulturbestandteil
dieser Organisation geflissentlich negiert. Eigentümlich, nicht? Täter ist
nicht gleich Täter, Opfer ist nicht gleich Opfer.
Zynisch wird das im Lichte der gegenwärtigen Bemühungen
seitens der konservativen und faschistoiden Kräfte im Land, das
Sexualstrafrecht zu verschärfen (neben anderen Maßnahmen, die vor allem gegen
Asylanten gerichtet sind), aber hinsichtlich der Kirche, die eine horrible
Geschichte von Missbräuchen aufweist, sich zurückhielt und zurückhält. Mit dem
Fokus auf die Asylanten als verdächtige oder potentielle Missbrauchstäter, wie
es vor allem die FPÖ unternimmt, lässt sich gut ablenken. Die
Sündenbockstrategie scheint zu funktionieren.
Weiters fällt auf, dass die Gewalt in den Familien, der
Missbrauch im Militär und, vor allem, in den Gefängnissen, nicht genügend
problematisiert wird. Es gelten offensichtlich unterschiedliche Maßstäbe.
Ein anderer Problemfall: In der Psychologie wird eifrig
geforscht, wie erlittene Traumata vererbt werden. Die Vererbung zeichnet dann
neue Opfer als Opfer aus. So kann man dann Determinierungen feststellen und
deuten. Die Befunde dienen aber auch einer Entlastung persönlicher
Verantwortung: ich kann nicht anders, es ist genetisch fortgeschrieben, ich
leide an Traumata, die mein Handeln bestimmen. Eine neue Form des Rassismus
wird damit begünstigt.
Interessant dabei ist, dass, wenn dies der Fall wäre, man
auch nachforschen müsste, was z. B. die Nazis, also jene Menschen, die als
Nazis aktiv handelten, dazu gebracht hat sich zu verhalten, wie sie es taten.
Welche vererbten Traumata hatten diese Opfer zu Tätern werden lassen? Wie
verantwortlich konnten sie überhaupt sein? Oder gilt die Trauma-Erblehre nur
für eine ausgewählte Opfergruppe? Wenn nicht, kommen wir in sehr schwierige
Erklärnöte, was wie weit gilt, was nicht. Nicht nur das Konzept der Person und
Persönlichkeit wackelt und steht auf dem Spiel, sondern auch das des „freien
Willens“, einer Grundbedingung für „Verantwortlichkeit“. Aber ohne
Verantwortung bzw. Verantwortlichkeit keine Schuld. Gibt es diese nicht,
erübrigt sich jede Debatte hinsichtlich Verhalten und Handlungen. Wenn schon,
dann ist die ideologische Stoßrichtung herausgekehrt und entwertet
politisch-sozial das Konzept und die darauf beruhenden Maßnahmen.
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