Montag, 14. Januar 2013

Roth: Proletarisierung der Häuser



Joseph Roth

Aus: Reportagen aus Wien und Frankreich

Proletarisierung der Häuser

Ich kenne eine alte kleine Gasse in der Inneren Stadt. Sie ist nicht sonderlich rein. In der Ecke lagert sogar ein Misthaufen. Die Häuser sind alt, solide und bescheiden, zweistöckig, aber nicht hochmütig, wie Menschen aus guter bürgerlicher Familie. Nur ein Haus ist just in der Mitte, das stolzer, adeliger als die anderen aus der schnurgeraden Häuserlinie etwas bauchig hervortritt, als ziemte ihm nicht, ganz in derselben Reihe mit den anderen zu stehen. Es ist irgendein Amtsgebäude mit Sockeln und Sockelchen, pausbackigen Engeln unter dem Dachfirst und einem mächtigen, doppelflügeligen braunen Haustor, das weit offensteht, um seinen Portier, einen Menschen aus Bauch, Goldtressen und blondem Schnurrbart, zu zeigen. Dieses Haus präsentiert nicht aufdringlich, sondern vornehm zurückhaltend eine Visitenkarte aus Marmor mit schwarzen Buchstaben, die besagen, daß das Haus aus dem Jahre 1700 stammt. Wenn es dunkelt, rücken die anderen Häuser alle ein bißchen zusammen; nur das eine stolze, schöne Haus bleibt weiß, stark und leuchtend allein. Es fürchtet sich nicht vor dem Abend. Es zündet seine mächtige alte Laterne vor dem Eingang an und wird nur noch stolzer und stärker. Seine Kanten werfen schwere Schatten, und ich ermesse daran, wie dick seine Mauern sind. Die Fenster sind tief eingebaut, zwei Menschen könnten gemütlich in jeder Fensternische sitzen. Der Schatten eines Pausback-Engels zeichnet sich am Dachfirst ab, und ich sehe, wie groß er ist. Auf dem Gesicht dieses Engels könnte man ein Gartenbeet aufschütten. Vierzehn Tage lang muß ein Mann an einem solchen Engel gearbeitet haben.
Ich liebe dieses Haus um seiner Schönheit willen und die Gasse dieses Hauses wegen, und ich wäre unendlich traurig, wenn eines Tages an einen Umbau gegangen würde und die Schädelplatte eines Engels zertrümmert am Boden läge.

Diese jungen Häuser sind alle Schwindelbauten. Der Herr Baumeister hat in drei Tagen seinen Plan fertig, und vierhundert Arbeiter sind mit der Errichtung des neuen Hauses beschäftigt. In vierzehn Tagen kann man einziehen. Ein halbwegs ehrgeiziger Windstoß könnte dieses Gebilde aus zentimeterdünnen Wänden umblasen wie ein Kartenhaus. Es ist aus Papiermaché. Ein paar armselige Blumenornamente unter dem First, auf denen nicht einmal ein Spatz ordentlich stehen kann, sollen eine Physiognomie vortäuschen. In Wirklichkeit haben diese Häuser alle dasselbe Gesicht. Keine Physiognomien, nur Nummern. Die Namen der Straßen sind ohne innere Berechtigung, man könnte sie miteinander verwechseln, wenn sie nicht verschiedene Straßenbahnwagen durchfahren würden. Kein Haus tritt vor, keines zurück, sondern alle stehen schnurgerade ausgerichtet in einer Reihe. Es ist der Militarismus der Häuser. Jahre-, jahrzehntelang wohnen wir in diesen Phantomen von Häusern. Sie sind keine Wohnhäuser, nur Schutzhütten vor den Stürmen des Tages, in denen wir nächtigen, essen und trinken, aber nicht wohnen.
»Wohnen«, »Häuser«, »Wände«, »Stuben« sind neue Begriffe geworden. Der Arme wohnt in einem Zimmer, der Wohlhabende in fünf, der Reiche in zehn. Aber alle Zimmer sind aus Papiermaché. Dennoch konnte man Kleinigkeiten, Zierrate anbringen, Teppiche, Bilder, wenn man Geld hatte. Bis die allgemeine Militarisierung und Mechanisierung des Lebens den Krieg brachte.

Als ich aus dem Felde heimkehrte, bemerkte ich schon im Hausflur eine peinliche Änderung. Die zwei Stangen aus Messing entlang der Stiege waren durch hölzerne, wurmstichige Stöcke ersetzt. Ich weiß nicht, hatte man jene »abgeliefert« oder gestohlen, sie waren nicht da. Die Proletarisierung der Häuser hatte begonnen.
Alle, alle Häuser sind schäbig geworden. Sie tragen gewendete Anzüge und zerbeulte, vom Wetter hergenommene Hüte. Ihre Schornsteine sind rissig, gelb und grau, der Rauch dringt aus Ritzen und Spalten. Die Fensterscheiben sind mit braunen Papierstreifen beklebt und aus billigem grünlichem Glas mit häßlichen Blasen und Warzen. Hier und dort wird die Türe eines Hauses neu angestrichen. Das täuscht nicht über die Armut hinweg. Die Häuser lassen sich nur ihre alten Anzüge sozusagen chemisch putzen.
An den arm gewordenen Häusern werden Wohnungskommissionen Pfändungen vornehmen. Und die reichen, alten und stolzen Häuser werden mit Gewalt arm gemacht. Auch mein Haus in der stillen, alten Gasse. Eines Tages werde ich hinkommen, und das Tor wird zu sein, und ein Volkswehrmann wird davorstehen. Den Portier aus Bauch, Goldtressen und Schnurrbart wird man mit den Kunstschätzen nach dem Ausland verkauft haben. Hinter eisernen Gittern mit blaßgoldenen Spitzen werden Windeln hängen und Nachtgeschirre trocknen. Das Gegenteil von dem geschieht, was die Gegenwart erstrebt: Keine Proletarierbehausung wird würdige Wohnstätte, sondern umgekehrt – alle, alle Häuser sind proletarisiert.

Schlimmer aber ist die Fähigkeit der Menschen, in Buden zu wohnen. Der Krieg hat die Baracken gebracht und die Erdhöhlen. Mit ihnen hatte die Zivilisation ihren Höhepunkt erreicht: die Barbarei.
Gestern war ich am Nordbahnhof. Es war eine stille Nachmittagsstunde. Der Bahnhof ruhte aus. Es schneite, und die rostigen Schienenstränge drückten sich enge zusammen vor Kälte. Vor einem plombierten Wagen stand ein Volkswehrmann; die Hände in den Taschen, das Gewehr baumelte auf der rechten Schulter. Es war ein entmilitarisierter Wachtposten. In einem Tümpel zwischen zwei Schienen plätscherte eine schmutzige Ente. Sie gehörte einem jener Eisenbahner, die drüben in den Baracken wohnen.
Wie diese Baracken sich brüsten. Wie sie Häuser sein wollen! Sie sehen aus wie kleine Moritze, die Erwachsene spielen. Diese Waggons, die ihre Herkunft verleugnen, die sich einbilden, Wohnstuben zu sein, weil die Zwischenwände ausgehoben wurden und die Menschen verfaulte Matratzen in ihnen liegen haben. Und sind doch nur elende Waggons ältester Marke, die nicht mehr fahren können, weil man ihnen die Räder amputiert hat!
Das ist die vorletzte Etappe auf dem Wege zur Proletarisierung der Häuser. Ziegel um Ziegel, Stein um Stein werden wir verpfänden, verkaufen, ins Versatzamt tragen. Und werden uns eingraben in Erdhöhlen. Und jene stolzen, großen, alten Häuser, in denen man Schützengrabensysteme erfand und zeichnete, werden längst nicht mehr sein. Sondern eine Welt aus Schützengräben. Unerbittlicher Kreislauf des Geschehens: Von der Erdhöhle zur Kultur, verflacht durch Zivilisation, zum Militarismus der Technik. Von da durch Krieg Sozialisierung, Proletarisierung bis zur Erdhöhle – nur ein Schritt.
Der Neue Tag, 8. 11. 1919

Interessant ein Vergleich mit einem ganz anderen Autor zur gleichen Thematik, mit Theodor W. Adorno, der in seinen Minima Moralia in "Asyl für Obdachlose" schrieb:

Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind, haben etwas Unerträgliches angenommen: jeder Zug des Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt.
    ...
Die Möglichkeit des Wohnens wird vernichtet von der der sozialistischen Gesellschaft, die, als versäumte, der bürgerlichen zum schleichenden Unheil gerät.

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