Die
weisse Schlange
Ein
Märchen der Brüder Grimm - KHM 017
s ist nun schon lange her, da lebte ein
König, dessen Weisheit im ganzen Lande berühmt war. Nichts blieb ihm unbekannt
und es war, als ob ihm Nachricht von den verborgensten Dingen durch die Luft
zugetragen würde. Er hatte aber eine seltsame Sitte. Jeden Mittag, wenn von der
Tafel alles abgetragen und niemand mehr zugegen war, musste ein vertrauter
Diener noch eine Schüssel bringen. Sie war aber zugedeckt, und der Diener
wusste selbst nicht, was darinlag, und kein Mensch wüsste es, denn der König
deckte sie nicht eher auf und ass nicht davon, bis er ganz allein war. Das
hatte schon lange Zeit gedauert, da überkam eines Tages den Diener, der die
Schüssel wieder wegtrug, die Neugierde, dass er nicht widerstehen konnte,
sondern die Schüssel in seine Kammer brachte. Als er die Tür sorgfältig
verschlössen hatte, hob er den Deckel auf und da sah er, dass eine weisse
Schlange darinlag. Bei ihrem Anblick konnte er die Lust nicht zurückhalten, sie
zu kosten; er schnitt ein Stückchen davon ab und steckte es in den Mund. Kaum
aber hatte es seine Zunge berührt, so hörte er vor seinem Fenster ein seltsames
Gewisper von feinen Stimmen. Er ging und horchte, da merkte er, dass es die
Sperlinge waren, die miteinander sprachen und sich allerlei erzählten, was sie
im Felde und Walde gesehen hatten. Der Genuss der Schlange hatte ihm die
Fähigkeit verliehen, die Sprache der Tiere zu verstehen.
Nun trug es sich zu, dass gerade an diesem
Tage der Königin ihr schönster Ring fortkam und auf den vertrauten Diener, der
überall Zugang hatte, der Verdacht fiel, er habe ihn gestohlen. Der König liess
ihn vor sich kommen und drohte ihm unter heftigen Scheltworten, wenn er bis
morgen den Täter nicht zu nennen wüsste, so sollte er dafür angesehen und
gerichtet werden. Es half nichts, dass er seine Unschuld beteuerte, er ward mit
keinem besseren Bescheid entlassen. In seiner Unruhe und Angst ging er hinab
auf den Hof und bedachte, wie er sich aus seiner Not helfen könne. Da sassen
die Enten an einem fliessenden Wasser friedlich nebeneinander und ruhten, sie
putzten sich mit ihren Schnäbeln glatt und hielten ein vertrauliches Gespräch.
Der Diener blieb stehen und hörte ihnen zu. Sie erzählten sich, wo sie heute
morgen all herumgewackelt wären und was für gutes Futter sie gefunden hätten.
Da sagte eine verdriesslich: "Mir liegt etwas schwer im Magen, ich habe
einen Ring, der unter der Königin Fenster lag, in der Hast mit
hinuntergeschluckt." Da packte sie der Diener gleich beim Kragen, trug sie
in die Küche und sprach zum Koch: "Schlachte doch diese ab, sie ist
wohlgenährt." - "Ja," sagte der Koch und wog sie in der Hand;
"die hat keine Mühe gescheut sich zu mästen und schon lange darauf
gewartet, gebraten zu1 werden." Er schnitt ihr den Hals ab, und als sie
ausgenommen ward, fand sich der Ring der Königin in ihrem Magen. Der Diener
konnte nun leicht vor dem Könige seine Unschuld beweisen, und da dieser sein
Unrecht wieder gutmachen wollte, erlaubte er ihm, sich eine Gnade auszubitten
und versprach ihm die grösste Ehrenstelle, die er sich an seinem Hofe wünschte.
Der Diener schlug alles aus und bat nur um
ein Pferd und Reisegeld. Denn er hatte Lust, die Welt zu sehen und eine Weile
darin herumzuziehen. Als seine Bitte erfüllt war, machte er sich auf den Weg
und kam eines Tages an einem Teich vorbei, wo er drei Fische bemerkte, die sich
im Rohr gefangen hatten und nach Wasser schnappten. Obgleich man sagt, die
Fische wären stumm, so vernahm er doch ihre Klage, dass sie so elend umkommen
müssten. Weil er ein mitleidiges Herz hatte, so stieg er vom Pferde ab und
setzte die drei Gefangenen wieder ins Wasser. Sie zappelten vor Freude,
steckten die Köpfe heraus und riefen ihm zu: "Wir wollen dir's gedenken
und dir's vergelten, dass du uns errettet hast!" Er ritt weiter, und nach
einem Weilchen kam es ihm vor, als hörte er zu seinen Füssen in dem Sand eine
Stimme. Er horchte und vernahm, wie ein Ameisenkönig klagte: "Wenn uns nur
die Menschen mit den ungeschickten Tieren vom Leib blieben! Da tritt mir das
dumme Pferd mit seinen schweren Hufen meine Leute ohne Barmherzigkeit
nieder!" Er lenkte auf einen Seitenweg ein, und der Ameisenkönig rief ihm
zu: "Wir wollen dir's gedenken und dir's vergelten!" Der Weg führte
ihn in einen Wald, und da sah er einen Rabenvater und eine Rabenmutter, die
standen bei ihrem Nest und warfen ihre Jungen heraus. "Fort mit euch, ihr
Galgenschwengel!" riefen sie, "wir können euch nicht mehr satt
machen, ihr seid gross genug und könnt euch selbst ernähren." Die armen
Jungen lagen auf der Erde, flatterten und schlugen mit ihren Fittichen und
schrien: "Wir hilflosen Kinder, wir sollen uns selbst ernähren und können
noch nicht fliegen! Was bleibt uns übrig, als hier Hungers zu sterben!" Da
stieg der gute Jüngling ab, tötete das Pferd mit seinem Degen und überliess es
den jungen Raben zum Futter. Die kamen herbeigehüpft, sättigten sich und
riefen: "Wir wollen dir's gedenken und dir's vergelten!"
Er musste jetzt seine Beine gebrauchen, und
als er lange Wege gegangen war, kam er in eine grosse Stadt. Da war grosser
Lärm und Gedränge in den Strassen und kam einer zu Pferde und machte bekannt:
Die Königstochter suche einen Gemahl, wer sich aber um sie bewerben wolle, der
müsse eine schwere Aufgabe vollbringen, und könne er es nicht glücklich
ausführen, so habe er sein Leben verwirkt. Viele hatten es schon versucht, aber
vergeblich ihr Leben daran gesetzt. Der Jüngling, als er die Königstochter sah,
ward von ihrer grossen Schönheit so verblendet, dass er alle Gefahr vergass,
vor den König trat und sich als Freier meldete.
Alsbald ward er hinaus ans Meer geführt und
vor seinen Augen ein goldener Ring hineingeworfen. Dann hiess ihn der König
diesen Ring aus dem Meeresgrund wieder hervorzuholen, und fügte hinzu:
"Wenn du ohne ihn wieder in die Höhe kommst, so wirst du immer aufs neue
hinabgestürzt, bis du in den Wellen umkommst." Alle bedauerten den schönen
Jüngling und liessen ihn dann einsam am Meer zurück. Er stand am Ufer und
überlegte, was er wohl tun sollte. Da sah er auf einmal drei Fische
daherschwimmen, und es waren keine andern als jene, welchen er das Leben
gerettet hatte. Der mittelste hielt eine Muschel im Munde, die er an den Strand
zu den Füssen des Jünglings hinlegte, und als dieser sie aufhob und öffnete, so
lag der Goldring darin. Voll Freude brachte er ihn dem Könige und erwartete,
dass er ihm den verheissenen Lohn gewähren würde. Die stolze Königstochter
aber, als sie vernahm, dass er ihr nicht ebenbürtig war, verschmähte ihn und
verlangte, er sollte zuvor eine zweite Aufgabe lösen. Sie ging hinab in den
Garten und streute selbst zehn Säcke voll Hirse ins Gras. "Die muss Er
morgen, eh die Sonne hervorkommt, aufgelesen haben," sprach sie, "und
es darf kein Körnchen fehlen." Der Jüngling setzte sich in den Garten und
dachte nach, wie es möglich wäre, die Aufgabe zu lösen; aber er konnte nichts
ersinnen, sass da ganz traurig und erwartete bei Anbruch des Morgens, zum Tode
geführt zu werden. Als aber die ersten Sonnenstrahlen in den Garten fielen, so
sah er die zehn Säcke alle wohlgefüllt nebeneinander stehen, und kein Körnchen
fehlte darin. Der Ameisenkönig war mit seinen tausend und tausend Ameisen in
der Nacht angekommen, und die dankbaren Tiere hatten die Hirse mit grosser
Emsigkeit gelesen und in die Säcke gesammelt. Die Königstochter kam selbst in
den Garten herab und sah mit Verwunderung, dass der Jüngling vollbracht hatte,
was ihm aufgegeben war. Aber sie konnte ihr stolzes Herz noch nicht bezwingen
und sprach: "Hat er auch die beiden Aufgaben gelöst, so soll er doch nicht
eher mein Gemahl werden, bis er mir einen Apfel vom Baume des Lebens gebracht
hat." Der Jüngling wusste nicht, wo der Baum des Lebens stand. Er machte
sich auf und wollte immer zugehen, solange ihn seine Beine trügen, aber er
hatte keine Hoffnung, ihn zu finden. Als er schon durch drei Königreiche
gewandert war und abends in einen Wald kam, setzte er sich unter einen Baum und
wollte schlafen. Da hörte er in den Ästen ein Geräusch und ein goldener Apfel
fiel in seine Hand. Zugleich flogen drei Raben zu ihm herab, setzten sich auf
seine Knie und sagten: "Wir sind die drei jungen Raben, die du vom
Hungertod errettet hast. Als wir gross geworden waren und hörten, dass du den
goldenen Apfel suchtest, so sind wir über das Meer geflogen bis ans Ende der
Welt, wo der Baum des Lebens steht, und haben dir den Apfel geholt." Voll
Freude machte sich der Jüngling auf den Heimweg und brachte der schönen
Königstochter den goldenen Apfel, der nun keine Ausrede mehr übrig blieb. Sie
teilten den Apfel des Lebens und assen ihn zusammen. Da ward ihr Herz mit Liebe
zu ihm erfüllt, und sie erreichten in ungestörtem Glück ein hohes Alter.
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