Das Rätsel
Ein
Märchen der Brüder Grimm - KHM 022
Es war einmal ein Königssohn, der bekam
Lust, in der Welt umherzuziehen, und nahm niemand mit als einen treuen Diener.
Eines Tags geriet er in einen grossen Wald, und als der Abend kam, konnte er
keine Herberge finden und wusste nicht, wo er die Nacht zubringen sollte. Da
sah er ein Mädchen, das nach einem kleinen Häuschen zuging, und als er näher
kam, sah er, dass das Mädchen jung und schön war. Er redete es an und sprach
"liebes Kind, kann ich und mein Diener in dem Häuschen für die Nacht ein
Unterkommen finden?" - "Ach ja," sagte das Mädchen mit trauriger
Stimme, "das könnt ihr wohl, aber ich rate euch nicht dazu; geht nicht
hinein." - "Warum soll ich nicht?" fragte der Königssohn. Das
Mädchen seufzte und sprach "meine Stiefmutter treibt böse Künste, sie
meints nicht gut mit den Fremden."
Da merkte er wohl, dass er zu dem Hause
einer Hexe gekommen war, doch weil es finster ward und er nicht weiter konnte,
sich auch nicht fürchtete, so trat er ein. Die Alte sass auf einem Lehnstuhl
beim Feuer und sah mit ihren roten Augen die Fremden an. "Guten
Abend," schnarrte sie und tat ganz freundlich, "lasst euch nieder und
ruht euch aus." Sie blies die Kohlen an, bei welchen sie in einem kleinen
Topf etwas kochte. Die Tochter warnte die beiden, vorsichtig zu sein, nichts zu
essen und nichts zu trinken, denn die Alte braue böse Getränke.
Sie schliefen ruhig bis zum frühen Morgen.
Als sie sich zur Abreise fertig machten und der Königssohn schon zu Pferde
sass, sprach die Alte "warte einen Augenblick, ich will euch erst einen
Abschiedstrank reichen." Während sie ihn holte, ritt der Königssohn fort,
und der Diener, der seinen Sattel festschnallen musste, war allein noch
zugegen, als die böse Hexe mit dem Trank kam. "Das bring deinem
Herrn," sagte sie, aber in dem Augenblick sprang das Glas, und das Gift
spritzte auf das Pferd, und war so heftig, dass das Tier gleich tot hinst
ürzte. Der Diener lief seinem Herrn nach und erzählte ihm, was geschehen war,
wollte aber den Sattel nicht im Stich lassen und lief zurück, um ihn zu holen.
Wie er aber zu dem toten Pferde kam, sass schon ein Rabe darauf und frass davon.
"Wer weiss, ob wir heute noch etwas Besseres finden," sagte der
Diener, tötete den Raben und nahm ihn mit.
Nun zogen sie in dem Walde den ganzen Tag
weiter, konnten aber nicht herauskommen. Bei Anbruch der Nacht fanden sie ein
Wirtshaus und gingen hinein. Der Diener gab dem Wirt den Raben, den er zum
Abendessen bereiten sollte. Sie waren aber in eine Mördergrube geraten, und in
der Dunkelheit kamen zwölf Mörder und wollten die Fremden umbringen und
berauben. Ehe sie sich aber ans Werk machten, setzten sie sich zu Tisch, und
der Wirt und die Hexe setzten sich zu ihnen, und sie assen zusammen eine
Schüssel mit Suppe, in die das Fleisch des Raben gehackt war.
Kaum aber hatten sie ein paar Bissen
hinuntergeschluckt, so fielen sie alle tot nieder, denn dem Raben hatte sich
das Gift von dem Pferdefleisch mitgeteilt. Es war nun niemand mehr im Hause
übrig als die Tochter des Wirts, die es redlich meinte und an den gottlosen
Dingen keinen Teil genommen hatte. Sie öffnete dem Fremden alle Türen und
zeigte ihm die angehäuften Schätze. Der Königssohn aber sagte, sie möchte alles
behalten, er wollte nichts davon, und ritt mit seinem Diener weiter.
Nachdem sie lange herumgezogen waren, kamen
sie in eine Stadt, worin eine schöne, aber übermütige Königstochter war, die
hatte bekanntmachen lassen, wer ihr ein Rätsel vorlegte, das sie nicht erraten
könnte, der sollte ihr Gemahl werden: erriete sie es aber, so müsste er sich
das Haupt abschlagen lassen. Drei Tage hatte sie Zeit, sich zu besinnen, sie
war aber so klug, dass sie immer die vorgelegten Rätsel vor der bestimmten Zeit
erriet. Schon waren neune auf diese Weise umgekommen, als der Königssohn
anlangte und, von ihrer grossen Schönheit geblendet, sein Leben daransetzen
wollte.
Da trat er vor sie hin und gab ihr sein Rätsel
auf, "was ist das," sagte er, "einer schlug keinen und schlug
doch zwölfe." Sie wusste nicht, was das war, sie sann und sann, aber sie
brachte es nicht heraus: sie schlug ihre Rätselbücher auf, aber es stand nicht
darin: kurz, ihre Weisheit war zu Ende. Da sie sich nicht zu helfen wusste,
befahl sie ihrer Magd, in das Schlafgemach des Herrn zu schleichen, da sollte
sie seine Träume behorchen, und dachte, er rede vielleicht im Schlaf und
verrate das Rätsel. Aber der kluge Diener hatte sich statt des Herrn ins Bett
gelegt, und als die Magd herankam, riss er ihr den Mantel ab, in den sie sich
verhüllt hatte, und jagte sie mit Ruten hinaus.
In der zweiten Nacht schickte die
Königstochter ihre Kammerjungfer, die sollte sehen, ob es ihr mit Horchen
besser glückte, aber der Diener nahm auch ihr den Mantel weg und jagte sie mit
Ruten hinaus. Nun glaubte der Herr für die dritte Nacht sicher zu sein und
legte sich in sein Bett, da kam die Königstochter selbst, hatte einen
nebelgrauen Mantel umgetan und setzte sich neben ihn. Und als sie dachte, er
schliefe und träumte, so redete sie ihn an und hoffte, er werde im Traume
antworten, wie viele tun.
Aber er war wach und verstand und hörte
alles sehr wohl. Da fragte sie "einer schlug keinen, was ist das?" Er
antwortete "ein Rabe, der von einem toten und vergifteten Pferde frass und
davon starb." Weiter fragte sie "und schlug doch zwölfe, was ist
das?" - "Das sind zwölf Mörder, die den Raben verzehrten und daran
starben."
Als sie das Rätsel wusste, wollte sie sich
fortschleichen, aber er hielt ihren Mantel fest, dass sie ihn zurücklassen
musste. Am andern Morgen verkündigte die Königstochter, sie habe das Rätsel
erraten, und liess die zwölf Richter kommen und löste es vor ihnen. Aber der
Jüngling bat sich Gehör aus und sagte "sie ist in der Nacht zu mir
geschlichen und hat mich ausgefragt, denn sonst hätte sie es nicht
erraten." Die Richter sprachen "bringt uns ein Wahrzeichen." Da
wurden die drei Mäntel von dem Diener herbeigebracht, und als die Richter den
nebelgrauen erblickten, den die Königstochter zu tragen pflegte, so sagten sie
"lasst den Mantel sticken mit Gold und Silber, so wirds Euer
Hochzeitsmantel sein."
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