In der New York Review of Books erschien ein interessanter Artikel dazu:
Study the Panther!
January 10, 2013
John Banville, The New York Review of Books
Hier die Briefe:
Brief, Geschrieben in, Datum
1. Paris, 17. Februar 1903
2. Viareggio, 5. April 1903
3. Viareggio, 23. April 1903
4. Worpswede, 16. Juli 1903
5. Rom, 29. Oktober 1903
6. Rom, 23. Dezember 1903
7. Rom, 14. Mai 1904
8. Borgeby gård (Flädie, Schweden), 12. August 1904
9. Furuborg (Jonsered, Schweden), 4. November 1904
10. Paris, 26. Dezember 1908
1.
Paris am 17. Februar 1903
Sehr geehrter Herr,
Ihr Brief hat mich erst vor einigen Tagen erreicht. Ich will Ihnen
danken für sein großes und liebes Vertrauen. Ich kann kaum mehr. Ich kann nicht auf die Art Ihrer Verse
eingehen; denn mir liegt jede kritische Absicht zu fern. Mit nichts kann man
ein Kunst-Werk so wenig berühren als mit kritischen Worten: es kommt dabei
immer auf mehr oder minder glückliche Mißverständnisse heraus. Die Dinge sind
alle nicht so faßbar und sagbar, als man uns meistens glauben machen möchte;
die meisten Ereignisse sind unsagbar, vollziehen sich in einem Raume, den nie
ein Wort betreten hat, und unsagbarer als alle sind die Kunst-Werke,
geheimnisvolle Existenzen, deren Leben neben dem unseren, das vergeht,
dauert.
Wenn ich diese Notiz vorausschicke, darf ich Ihnen nur noch sagen, daß
Ihre Verse keine eigene Art haben, wohl aber stille und verdeckte Ansätze zu
Persönlichem. Am deutlichsten fühle ich das in dem letzten Gedicht «Meine
Seele». Da will etwas Eigenes zu Wort und Weise kommen. Und in dem schönen
Gedicht «An Leopardi» wächst vielleicht eine Art Verwandtschaft mit diesem
Großen, Einsamen auf. Trotzdem sind die Gedichte noch nichts für sich, nichts
Selbständiges, auch das letzte und das an Leopardi nicht. Ihr gütiger Brief,
der sie begleitet hat, verfehlt nicht, mir manchen Mangel zu erkläre, den ich
im Lesen Ihrer Verse fühlte, ohne ihn indessen namentlich nennen zu können.
Sie fragen, ob Ihre Verse gut sind. Sie fragen mich. Sie haben vorher
andere gefragt. Sie senden sie an Zeitschriften. Sie vergleichen sie mit
anderen Gedichten, und Sie beunruhigen sich, wenn gewisse Redaktionen Ihre
Versuche ablehnen. Nun (da Sie mir gestattet haben, Ihnen zu raten) bitte ich
Sie, das alles aufzugeben. Sie sehen nach außen, und das vor allem dürften
Sie jetzt nicht tun. Niemand kann Ihnen raten und
helfen, niemand. Es gibt nur ein einziges Mittel. Gehen Sie in sich.
Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt; prüfen Sie, ob er in der
tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich
ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben.
Dieses vor allem: fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: muß ich schreiben? Graben Sie in sich nach einer tiefen Antwort. Und wenn diese zustimmend lauten sollte, wenn Sie mit einem starken und einfachen ich muß dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit; Ihr Leben bis hinein in seine gleichgültigste und geringste Stunde muß ein Zeichen und Zeugnis werden diesem Drange. Dann nähern Sie sich der Natur. Dann versuchen Sie, wie ein erster Mensch, zu sagen, was Sie sehen und erleben und lieben und verlieren. |
Schreiben Sie nicht Liebesgedichte; weichen Sie
zuerst denjenigen Formen aus, die zu geläufig und gewöhnlich sind: sie sind
die schwersten, denn es gehört eine große, ausgereifte Kraft dazu, Eigenes zu
geben, wo sich gute und zum Teil glänzende Überlieferungen in Menge
einstellen.
Darum retten
Sie sich vor den allgemeinen Motiven zu denen, die Ihnen Ihr eigener Alltag
bietet; schildern Sie Ihre Traurigkeiten und Wünsche, die vorübergehenden
Gedanken und den Glauben an irgendeine Schönheit - schildern Sie das alles
mit inniger, stiller, demütiger Aufrichtigkeit und gebrauchen Sie, um sich
auszudrücken, die Dinge Ihrer Umgebung, die Bilder Ihrer Träume und die
Gegenstände ihrer Erinnerung.
Wenn Ihr
Alltag Ihnen arm scheint, klagen Sie ihn nicht an; klagen Sie sich an, sagen
Sie sich, daß Sie nicht Dichter genug sind, seine Reichtümer zu rufen; denn
für den Schaffenden gibt es keine Armut und keinen armen, gleichgültigen Ort.
Und wenn Sie selbst in einem Gefängnis wären, dessen Wände keines von den
Geräuschen der Welt zu Ihren Sinnen kommen ließen - hätten Sie dann nicht
immer noch Ihre Kindheit, diesen köstlichen, königlichen Reichtum, dieses
Schatzhaus der Erinnerungen? Wenden Sie dorthin Ihre Aufmerksamkeit.
Versuchen Sie die versunkenen Sensationen dieser weiten Vergangenheit zu
heben; Ihre Persönlichkeit wird sich festigen, Ihre Einsamkeit wird sich
erweitern und wird eine dämmernde Wohnung werden, daran der Lärm der anderen
fern vorüber geht. Und wenn aus dieser Wendung nach innen, aus dieser
Versenkung in die eigene Welt Verse kommen, dann werden Sie nicht
daran denken, jemanden zu fragen, ob es gute Verse sind. Sie werden
auch nicht den Versuch machen, Zeitschriften für diese Arbeiten zu
interessieren: denn Sie werden in ihnen Ihren lieben natürlichen Besitz, ein
Stück und eine Stimme Ihres Lebens sehen.
|
Ein Kunstwerk
ist gut, wenn es aus Notwendigkeit entstand. In dieser Art seines Ursprungs
liegt sein Urteil: es gibt kein anderes. Darum, sehr geehrter Herr, wußte ich
Ihnen keinen Rat als diesen: in sich zu gehen und die Tiefen zu prüfen, in
denen Ihr Leben entspringt; an seiner Quelle werden Sie die Antwort auf die
Frage finden, ob Sie schaffen müssen.
Nehmen Sie sie, wie sie klingt, an, ohne
daran zu deuten. Vielleicht erweist es sich, daß Sie berufen sind, Künstler
zu sein. Dann nehmen Sie das Los auf sich, und tragen Sie es, seine Last und
seine Größe, ohne je nach dem Lohne zu fragen, der von außen kommen könnte.
Denn der Schaffende muß eine Welt für sich sein und alles in sich finden und
in der Natur, an die er sich angeschlossen hat.
Vielleicht aber müssen Sie auch nach
diesem Abstieg in sich und Ihr Einsames darauf verzichten, ein Dichter zu
werden (es genügt, wie gesagt, zu fühlen, daß man, ohne zu schreiben, leben
könnte, um es überhaupt nicht zu dürfen). Aber auch dann ist diese Einkehr,
um die ich Sie bitte, nicht vergebens gewesen. Ihr Leben wird auf jeden Fall
von da ab eigene Wege finden, und daß es gute, reiche und weite sein mögen,
das wünsche ich Ihnen mehr, als ich sagen kann.
Was soll ich Ihnen noch sagen? Mir scheint alles betont nach seinem Recht; und schließlich wollte ich Ihnen ja auch nur raten, still und ernst durch Ihre Entwicklung durchzuwachsen; Sie können sie gar nicht heftiger stören, als wenn Sie nach außen sehen und von außen Antwort erwarten auf Fragen, die nur Ihr innerstes Gefühl in Ihrer leisesten Stunde vielleicht beantworten kann.
Es war mir eine Freude, in Ihrem
Schreiben den Namen des Herrn Professor Horacek zu finden; ich bewahre diesem
liebenswürdigen Gelehrten eine große Verehrung und eine durch die Jahre
dauernde Dankbarkeit. Wollen Sie ihm, bitte, von dieser meiner Empfindung
sagen; es ist sehr gütig, daß er meiner noch gedenkt, und ich weiß es zu
schätzen.
Mit aller Ergebenheit und
Teilnahme: Die Verse, welche Sie mir freundlich vertrauen kamen, gebe ich Ihnen gleichzeitig wieder zurück. Und ich danke Ihnen nochmals für die Größe und Herzlichkeit Ihres Vertrauens, dessen ich mich durch diese aufrichtige, nach bestem Wissen gegebene Antwort ein wenig würdiger zu machen suchte, als ich es, als ein Fremder, wirklich bin. |
2.
An Franz Xaver Kappus
Viareggio bei Pisa (Italien), am 5. April 1903
Sie müssen es mir verzeihen, lieber und geehrter Herr, daß ich Ihres
Briefes vom 24. Februar erst heute dankbar gedenke: ich war die ganze Zeit
leidend, nicht gerade krank, aber von einer influenza-artigen Mattigkeit
bedrückt, die mich unfähig machte zu allem. Und schließlich, als es gar nicht
anders werden wollte, fuhr ich an dieses südliche Meer, dessen Wohltun mir
schon einmal geholfen hat. Aber ich bin noch nicht gesund, das Schreiben fällt
mir schwer, und so müssen Sie diese wenigen Zeilen nehmen für mehr.
Natürlich müssen Sie wissen, daß Sie mich mit jedem Briefe immer erfreuen werden, und nur nachsichtig sein gegen die Antwort, die Sie vielleicht oft mit leeren Händen lassen wird; denn im Grunde, und gerade in den tiefsten und wichtigsten Dingen, sind wir namenlos allein, und damit einer dem andern raten oder gar helfen kann, muß viel geschehen, viel muß gelingen, eine ganze Konstellation von Dingen muß eintreffen, damit es einmal glückt.
Ich wollte Ihnen heute nur noch zwei Dinge sagen: Ironie: Lassen Sie
sich nicht von ihr beherrschen; besonders nicht in unschöpferischen Momenten.
In schöpferischen versuchen Sie es, sich ihrer zu bedienen, als eines Mittels
mehr, das Leben zu fassen. Rein gebraucht, ist sie auch rein, und man muß
sich ihrer nicht schämen; und fühlen Sie sich ihr zu vertraut, fürchten Sie
die wachsende Vertraulichkeit mit ihr, dann wenden Sie sich an große und
ernste Gegenstände, vor denen sie klein und hilflos wird. Suchen Sie die
Tiefe der Dinge: dort steigt Ironie nie hinab, - und wenn Sie so an den Rand
des Großen führen, erproben Sie gleichzeitig, ob diese Auffassungsart einer
Notwendigkeit Ihres Wesens entspringt. Denn unter dem Einfluß ernster Dinge
wird sie entweder von Ihnen abfallen (wenn sie etwas Zufälliges ist), oder
aber sie wird (so sie wirklich eingeboren Ihnen zugehört) erstarken zu einem
ernsten Werkzeug und sich einordnen in die Reihe der Mittel, mit denen Sie
Ihre Kunst werden bilden müssen.
Und das zweite, was ich Ihnen heute erzählen wollte, ist dieses: |
Von allen meinen
Büchern sind mir nur wenige unentbehrlich, und zwei sind sogar immer unter
meinen Dingen, wo ich auch bin. Sie sind auch hier um mich: die Bibel, und
die Bücher des großen dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen.
Es fällt mir ein, ob Sie seine Werke
kennen. Sie können sich dieselben leicht verschaffen, denn ein Teil derselben
ist in Reclams Universal-Bibliothek in sehr guter Übertragung erschienen.
Verschaffen Sie sich das Bändchen «Sechs Novellen» von J. P. Jacobsen und
seinen Roman «Niels Lyhne», und beginnen Sie des ersten Bändchens erste
Novelle, welche «Mogens» heißt. Eine Welt wird über Sie kommen, das Glück,
der Reichtum, die unbegereifliche Größe einer Welt. Leben Sie eine Weile in
diesen Büchern, lernen Sie davon, was Ihnen lernenswert scheint, aber vor
allem lieben Sie sie. Diese Liebe wird Ihnen tausend- und tausendmal vergolten
werden, und wie Ihr Leben auch werden mag, - sie wird, ich bin dessen gewiß,
durch das Gewebe Ihres Werdens gehen als einer von den wichtigsten Fäden
unter allen Fäden Ihrer Erfahrungen, Enttäuschungen und Freuden.
Wenn ich sagen soll, von wem ich etwas
über das Wesen des Schaffens, über seine Tiefe und Ewigkeit erfuhr, so sind
es nur zwei Namen, die ich nennen kann: den Jacobsens, des großen,
großen Dichters, und den Auguste Rodins, des Bildhauers, der
seinesgleichen nicht hat unter allen Künstlern, die heute leben. –
Und alles Gelingen über Ihre Wege!
Ihr:
Rainer Maria Rilke |
3.
An Franz Xaver Kappus
Viareggio bei Pisa (Italien), am 23. April 1903
Sie haben mir, lieber und geehrter Herr, mit
Ihrem österlichen Briefe viel Freude gemacht; denn er sagte viel Gutes von
Ihnen, und die Art, wie Sie über Jacobsens große und liebe Kunst sprachen,
zeigte mir, daß ich nicht geirrt habe, als ich Ihr Leben und seine vielen
Fragen an diese Fülle führte.
Nun wird sich Ihnen «Niels Lyhne» auftun, ein Buch der Herrlichkeiten und der Tiefen; je öfter man es liest: es scheint alles darin zu sein von des Lebens allerleisestem Dufte bis zu dem vollen, großen Geschmack seiner schwersten Früchte. Da ist nichts, was nicht verstanden, erfaßt, erfahren und in des Erinnerns zitterndem Nachklingen erkannt worden wäre; kein Erleben ist zu gering gewesen, und das kleinste Geschehen entfaltet sich wie ein Schicksal, und das Schicksal selbst ist wie ein wunderbares, weites Gewebe, darin jeder Faden von einer unendlich zärtlichen Hand geführt und neben einen anderen gelegt und von hundert anderen gehalten und getragen wird. Sie werden das große Glück erfahren, dieses Buch zum ersten Male zu lesen, und werden durch seine unzähligen Überraschungen gehen wie in einem neuen Traum. Aber ich kann Ihnen sagen, daß man auch später immer wieder als derselbe Staunende durch diese Bücher geht und daß sie nichts von der wunderbaren Macht verlieren und nichts von der Märchenhaftigkeit aufgeben, mit der sie den Lesenden das erste Mal überschütten.
Man wird nur immer genießender an ihnen, immer dankbarer, und irgendwie
besser und einfacher im Schauen, tiefer im Glauben an das Leben und im Leben
seliger und größer.
Und später müssen Sie das wunderbare Buch vom Schicksal und Sehnen der Marie Grubbe lesen und Jacobsens Briefe und Tagebuchblätter und Fragmente und endlich seine Verse, die (wenn sie auch nur mäßig übertragen sind) in unendlichem Klingen leben. (Dazu würde ich Ihnen raten, gelegentlich die schöne Gesamtausgabe von Jacobsens Werken die alles das enthält zu kaufen. Sie erschien in drei Bänden und gut übertragen bei Eugen Diederichs in Leipzig und kostet, soviel ich glaube, nur fünf oder sechs Mark pro Band.)
Mit Ihrer Meinung über «Hier sollten Rosen stehen...» (dieses Werk von
so unvergleichlicher Feinheit und Form) haben Sie natürlich gegen den, der die
Einleitung geschrieben hat, ganz, ganz unantastbar recht. Und es sei hier
gleich die Bitte gesagt: Lesen Sie möglichst wenig ästhetisch-kritische
Dinge, - es sind entweder Parteiansichten, versteinert und sinnlos geworden
in ihrem leblosen Verhärtetsein, oder es sind geschickte Wortspiele, bei
denen heute diese Ansicht gewinnt und morgen die entgegengesetzte.
|
Kunst-Werke sind
von einer unendlichen Einsamkeit und mit nichts so wenig erreichbar als mit
Kritik. Nur Liebe kann sie erfassen und halten und kann gerecht sein gegen
sie.
Geben Sie jedesmal sich und Ihrem
Gefühl recht, jeder solche Auseinandersetzung, Besprechung oder Einführung
gegenüber; sollten Sie doch unrecht haben, so wird das natürliche Wachstum
Ihres innern Lebens Sie langsam und mit der Zeit zu anderen Erkenntnissen
führen. Lassen Sie Ihren Urteilen die eigene stille, ungestörte Entwicklung,
die, wie jeder Fortschritt, tief aus innen kommen muß und durch nichts
gedrängt oder beschleunigt werden kann. Alles ist austragen und dann
gebären. Jeden Eindruck und jeden Keim eines Gefühls ganz in sich, im Dunkel,
im Unsagbaren, Unbewußten, dem eigenen Verstande Unerreichbaren sich
vollenden lassen und mit tiefer Demut und Geduld die Stunde der Niederkunft
einer neuen Klarheit abwarten: das allein heißt künstlerisch leben: im
Verstehen wie im Schaffen.
Richard Dehmel: Mir geht
es mit seinen Büchern (und nebenbei gesagt auch mit dem Menschen, den ich
flüchtig kenne) so, daß, wenn ich eine seiner schönen Seiten gefunden habe,
ich mich immer vor der nächsten fürchte, die alles wieder zerstören und das
Liebenswerte in Unwürdiges verkehren kann. Sie haben ihn ganz gut
charakterisiert mit dem Wort: «brünstig leben und dichten». Und tatsächlich
liegt ja künstlerisches Erleben so unglaublich nahe am geschlechtlichen, an
seinem Weh und seiner Lust, daß die beiden Erscheinungen eigentlich nur
verschiedene Formen einer und derselben Sehnsucht und Seligkeit sind. Und
wenn man statt Brunst Geschlecht sagen dürfte, Geschlecht im großen, weiten,
reinen, durch keinen Kirchenirrtum verdächtigen Sinne, so wäre seine Kunst
sehr groß und unendlich wichtig. Seine dichterische Kraft ist groß und wie
ein Urtrieb stark, sie hat eigene rücksichtslose Rhythmen in sich und bricht
wie aus Bergen aus ihm aus. Da gibt es kein Messen mit der Zeit, da gilt kein Jahr, und zehn Jahre sind nichts, Künstler sein heißt: nicht rechnen und zählen; reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht ohne die Angst, daß dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch. Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit. Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles! Aber es scheint, daß diese Kraft nicht immer ganz aufrichtig und ohne Pose ist. (Aber das ist ja auch eine der schwersten Prüfungen an dem Schaffenden: er muß immer der Unbewußte, der Ahnungslose seiner besten Tugenden bleiben, wenn er diesen nicht ihre Unbefangenheit und Unberührtheit nehmen will!) Und dann, wo sie, durch sein Wesen rauschend, zum Geschlechtlichen kommt, da findet sie keinen ganz so reinen Menschen, wie sie ihn brauchte. Da ist keine ganz reife und reine Geschlechtswelt, eine, die nicht menschlich genug, die nur männlich ist, Brunst ist, Rausch und Ruhelosigkeit, und beladen mit den alten Vorurteilen und Hoffarten, mit denen der Mann die Liebe entstellt und beladen hat. Weil er nur als Mann liebt, nicht als Mensch, darum ist in seiner Geschlechtsempfindung etwas Enges, scheinbar Wildes, Gehässiges, Zeitliches, Unewiges, das seine Kunst verringert und sie zweideutig und zweifelhaft macht. Sie ist nicht ohne Makel, sie ist gezeichnet von der Zeit und von der Leidenschaft, und wenig aus ihr wird dauern und bestehen. (Die meiste Kunst ist aber so!) Aber trotzdem kann man sich an dem, was in ihr Großes ist, tief freuen und muß nur nicht daran verloren gehen und Anhänger jener Dehmelschen Welt werden, die so unendlich bange, voll Ehebruch und Wirrnis, ist und fern von den wirklichen Schicksalen, die mehr leiden machen als diese zeitlichen Trübnisse, aber auch mehr Gelegenheit zu Größe geben und mehr Mut zur Ewigkeit. Was endlich meine Bücher anlangt, so möchte ich Ihnen am liebsten alle senden, die Sie irgend freuen könnten. Aber ich bin sehr arm, und meine Bücher gehören, sobald sie einmal erschienen sind, nicht mehr mir. Ich kann sie selbst nicht kaufen und, wie ich so oft möchte, denen geben, die ihnen Liebes erweisen würden. Deshalb schreibe ich Ihnen auf einen Zettel die Titel (und Verlage) meiner jüngsterschienenen Bücher (der neuesten, im ganzen habe ich wohl 12 oder 13 veröffentlicht) auf und muß es Ihnen, lieber Herr, überlassen, sich gelegentlich mal etwas davon zu bestellen. Ich weiß meine Bücher gerne bei Ihnen. Leben Sie wohl!
Ihr:
Rainer Maria Rilke |
4.
An Franz Xaver Kappus
z. Zt. Worpswede bei Bremen, am 16. Juli 1903
Vor etwa zehn Tagen habe ich Paris verlassen, recht leidend und müde,
und bin in eine große nördliche Ebene gefahren, deren Weite und Stille und
Himmel mich wieder gesund machen soll. Aber ich fuhr in einen langen Regen
hinein, der heute erst sich ein wenig lichten will über dem unruhig werdenden
Land; und ich benutze diesen ersten Augenblick Helle, um Sie zu grüßen,
lieber Herr.
Sehr lieber Herr Kappus: Ich habe einen Brief von Ihnen lange ohne
Antwort gelassen, nicht daß ich ihn vergessen hätte - im Gegenteil: er war
von der Art derer, die man wieder liest, wenn man sie unter den Briefen
findet, und ich erkannte Sie darin wie aus großer Nähe. Es war der Brief vom
zweiten Mai, und Sie erinnern sich seiner gewiß. Wenn ich ihn, wie jetzt, in
der großen Stille dieser Ferne lese, dann rührt mich Ihre schöne Sorge um das
Leben, mehr noch, als ich das schon in Paris empfunden
habe, wo alles anders anklingt und verhallt wegen des übergroßen Lärmes, von
dem die Dinge zittern. Hier, wo ein gewaltiges Land um mich ist, über das von
den Meeren her die Winde gehen, hier fühle ich, daß auf jene Fragen und
Gefühle, die in ihren Tiefen ein eigenes Leben haben, nirgend ein Mensch
Ihnen antworten kann; denn es irren auch die Besten in den Worten, wenn sie
Leisestes bedeuten sollen und fast Unsägliches. Aber ich glaube trotzdem, daß
Sie nicht ohne Lösung bleiben müssen, wenn Sie sich an Dinge halten, die
denen ähnlich sind, an welchen jetzt meine Augen sich erholen. Wenn Sie sich
an die Natur halten, an das Einfache in ihr, an das Kleine, das kaum einer
sieht, und das so unversehens zum Großen und Unermeßlichen werden kann; wenn
Sie diese Liebe haben zu dem Geringen und ganz schlicht als ein Dienender das
Vertrauen dessen zu gewinnen suchen, was arm scheint: dann wird Ihnen alles
leichter, einheitlicher und irgendwie versöhnender werden, nicht im Verstande
vielleicht, der staunend zurückbleibt, aber in Ihrem innersten Bewußtsein,
Wach-sein und Wissen.
|
Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich
möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen
alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst
liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr
fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den
Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben
könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt
die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines
fernen Tages in die Antwort hinein.
Vielleicht
tragen Sie ja in sich die Möglichkeit, zu bilden und zu formen, als eine
besonders selige und reine Art des Lebens; erziehen Sie sich dazu, - aber
nehmen Sie das, was kommt, in großem Vertrauen hin, und wenn es nur aus Ihrem
Willen kommt, aus irgendeiner Not Ihres Innern, so nehmen Sie es auf sich und
hassen Sie nichts. Das Geschlecht ist schwer; ja. Aber es ist Schweres, was
uns aufgetragen wurde, fast alles Ernste ist schwer, und alles ist ernst. Wenn
Sie das nur erkennen und dazu kommen, aus sich, aus Ihrer Erfahrung
und Kindheit und Kraft heraus ein ganz eigenes (von Konvention und Kindheit
und Sitte nicht beeinflußtes) Verhältnis zu dem Geschlecht zu erringen, dann
müssen Sie nicht mehr fürchten, sich zu verlieren und unwürdig zu werden
Ihres besten Besitzes.
Die
körperliche Wollust ist ein sinnliches Erlebnis, nicht anders als das reine
Schauen oder das reine Gefühl, mit dem eine schöne Frucht die Zunge füllt;
sie ist eine große, unendliche Erfahrung, die uns gegeben wird, ein Wissen
von der Welt, die Fülle und der Glanz alles Wissens. Und nicht, daß wir sie
empfangen, ist schlecht; schlecht ist, daß fast alle diese Erfahrung
mißbrauchen und vergeuden und sie als Reiz an die müden Stellen ihres Lebens
setzen und als Zerstreuung statt als Sammlung zu Höhepunkten. Die Menschen
haben ja auch das Essen zu etwas anderem gemacht: Not auf der einen, Überfluß
auf der anderen Seite haben die Klarheit dieses Bedürfnisses getrübt, und
ähnlich trübe sind alle die tiefen, einfachen Notdürfte geworden, in denen
das Leben sich erneuert. Aber der einzelne kann sie für sich klären und klar
leben (und wenn nicht der einzelne, der zu abhängig ist, so doch der
Einsame). Er kann sich erinnern, daß alle Schönheit in Tieren und Pflanzen
eine stille dauernde Form von Liebe und Sehnsucht ist, und er kann das Tier
sehen, wie er die Pflanze sieht, geduldig und willig sich vereinigend und
vermehrend und wachsend nicht aus physischer Lust, nicht aus physischem Leid,
Notwendigkeiten sich neigend, die größer sind als Lust und Leid und
gewaltiger denn Wille und Widerstand. O daß der Mensch dieses Geheimnis,
dessen die Erde voll ist bis in ihre kleinsten Dinge, demütiger empfinge und
ernster trüge, ertrüge und fühlte, wie schrecklich schwer es ist, statt es
leicht zu nehmen. Daß er ehrfürchtig wäre gegen seine Fruchtbarkeit, die nur eine
ist, ob sie geistig oder körperlich scheint; denn auch das geistige Schaffen
stammt von dem physischen her, ist eines Wesens mit ihm und nur wie eine
leisere, entzücktere und ewigere Wiederholung leiblicher Wollust. «Der
Gedanke, Schöpfer zu sein, zu zeugen, zu bilden», ist nichts ohne seine
fortwährende, große Bestätigung und Verwirklichung in der Welt, nichts ohne
die tausendfältige Zustimmung aus Dingen und Tieren, - und sein Genuß ist nur
deshalb so unbeschreiblich schön und reich, weil er voll ererbter
Erinnerungen ist aus Zeugen und Gebären von Millionen. In einem
Schöpfergedanken leben tausend vergessene Liebesnächte auf und erfüllen ihn
mit Hoheit und Höhe. Und die in den Nächten zusammenkommen und verflochten
sind in wiegender Wollust, tun eine ernste Arbeit und sammeln Süßigkeiten an,
Tiefe und Kraft für das Lied irgendeines kommenden Dichters, der aufstehn
wird, um unsägliche Wonnen zu sagen. Und rufen die Zukunft herbei; und wenn
sie auch irren und sich blindlings umfassen, die Zukunft kommt doch, ein
neuer Mensch erhebt sich, und auf dem Grunde des Zufalls, der hier vollzogen
scheint, erwacht das Gesetz, mit dem ein widerstandsfähiger kräftiger Samen
sich durchdrängt zu der Eizelle, die ihm offen entgegenzieht. Lassen Sie sich
nicht beirren durch die Oberfläche; in den Tiefen wird alles Gesetz. Und die
das Geheimnis falsch und schlecht leben (und es sind sehr viele), verlieren
es nur für sich selbst und geben es doch weiter wie einen verschlossenen
Brief, ohne es zu wissen. Und werden Sie nicht irre an der Vielheit der Namen
und an der Kompliziertheit der Fälle. Vielleicht ist über allem eine große
Mutterschaft, als gemeinsame Sehnsucht. Die Schönheit der Jungfrau, eines
Wesens, «das (wie Sie so schön sagen) noch nichts geleistet hat», ist
Mutterschaft, die sich ahnt und vorbereitet, ängstigt und sehnt. Und der
Mutter Schönheit ist dienende Mutterschaft, und in der Greisin ist eine große
Erinnerung. Und auch im Mann ist Mutterschaft, scheint mir, leibliche und
geistige; sein Zeugen ist auch eine Art Gebären, und Gebären ist es, wenn er
schafft aus innerster Fülle. Und vielleicht sind die Geschlechter verwandter,
als man meint, und die große Erneuerung der Welt wird vielleicht darin
bestehen, daß Mann und Mädchen sich, befreit von allen Irrgefühlen und
Unlüsten, nicht als Gegensätze suchen werden, sondern als Geschwister und
Nachbarn und sich zusammentun werden als Menschen, um einfach, ernst
und geduldig das schwere Geschlecht, das ihnen auferlegt ist, gemeinsam zu
tragen. Aber alles, was vielleicht einmal vielen möglich sein wird, kann der
Einsame jetzt schon vorbereiten und bauen mit seinen Händen, die weniger
irren.
|
Darum, lieber
Herr, lieben Sie Ihre Einsamkeit, und tragen Sie den Schmerz, den sie Ihnen
verursacht, mit schön klingender Klage. Denn die Ihnen nahe sind, sind fern,
sagen Sie, und das zeigt, daß es anfängt, weit um Sie zu werden. Und wenn
Ihre Nähe fern ist, dann ist Ihre Weite schon unter den Sternen und sehr
groß; freuen Sie sich Ihres Wachstums, in das Sie ja niemanden mitnehmen
können, und seien Sie gut gegen die, welche zurückbleiben, und seien Sie
sicher und ruhig vor ihnen und quälen Sie sie nicht mit Ihren Zweifeln und erschrecken
Sie sie nicht mit Ihrer Zuversicht oder Freude, die sie nicht begreifen
könnten.
Suchen Sie sich mit ihnen irgendeine
schlichte und treue Gemeinsamkeit, die sich nicht notwendig verändern muß,
wenn Sie selbst anders und anders werden; lieben Sie an ihnen das Leben in
einer fremden Form und haben Sie Nachsicht gegen die alternden Menschen, die
das Alleinsein fürchten, zu dem Sie Vertrauen haben. Vermeiden Sie, jenem
Drama, das zwischen Eltern und Kindern immer ausgespannt ist, Stoff
zuzuführen; es verbraucht viel Kraft der Kinder und zehrt die Liebe der Alten
auf, die wirkt und wärmt, auch wenn sie nicht begreift. Verlangen Sie keinen
Rat von ihnen und rechnen Sie mit keinem Verstehen; aber glauben Sie an eine
Liebe, die für Sie aufbewahrt wird wie eine Erbschaft, und vertrauen Sie, daß
in dieser Liebe eine Kraft ist und ein Segen, aus dem Sie nicht herausgehen
müssen, um ganz weit zu gehen!
Es ist gut, daß Sie zunächst in einen
Beruf münden, der Sie selbständig macht und Sie vollkommen auf sich selbst
stellt in jedem Sinne. Warten Sie geduldig ab, ob Ihr innerstes Leben sich
beschränkt fühlt durch die Form dieses Berufes. Ich halte ihn für sehr schwer
und für sehr anspruchsvoll, da er von großen Konventionen belastet ist und
einer persönlichen Auffassung seiner Aufgaben fast keinen Raum läßt. Aber
Ihre Einsamkeit wird Ihnen auch inmitten sehr fremder Verhältnisse Halt und
Heimat sein, und aus ihr heraus werden Sie alle Ihre Wege finden. Alle meine
Wünsche sind bereit, Sie zu begleiten, und mein Vertrauen ist mit Ihnen,
Ihr:
Rainer Maria Rilke
5.
An Franz Xaver Kappus
Rom, am 29. Oktober 1903
Lieber und geehrter Herr,Ihren Brief vom 29, August empfing in ich Florenz, und nun - nach zwei Monaten erst - sage ich Ihnen davon. Verzeihen Sie nur diese Säumigkeit, - aber ich schreibe unterwegs ungern Briefe, weil ich zum Briefschreiben mehr brauche als das allernötigste Gerät: etwas Stille und Einsamkeit und eine nicht allzu fremde Stunde. In Rom trafen wir vor etwas sechs Wochen ein, zu einer Zeit, da es noch das leere, das heiße, das fieberverrufene Rom war, und dieser Umstand trug mit anderen praktischen Einrichtungsschwierigkeiten dazu bei, daß die Unruhe um uns kein Ende nehmen wollte und die Fremde mit der Last der Heimatlosigkeit auf uns lag. Dazu ist noch zu rechnen, daß Rom (wenn man es noch nicht kennt) in den ersten Tagen erdrückend traurig wirkt: durch die unlebendige und trübe Museumsstimmung, die es ausatmet, durch die Fülle seiner hervorgeholten und mühsam aufrecht erhaltenen Vergangenheiten (von denen eine kleine Gegenwart sich ernährt), durch die namenlose, von Gelehrten und Philologen unterstützte und von den gewohnheitsmäßigen Italienreisenden nachgeahmte Überschätzung aller dieser entstellten und verdorbenen Dinge, die doch im Grunde nicht mehr sind als zufällige Reste einer anderen Zeit und eines Lebens, das nicht unseres ist und unseres nicht sein soll. Schließlich, nach Wochen täglicher Abwehr, findet man sich, obwohl noch ein wenig verwirrt, zu sich selber zurück, und man sagt sich: Nein, es ist hier nicht mehr Schönheit als anderswo, und alle diese von Generationen immer weiterbewunderten Gegenstände, an denen Handlangerhände gebessert und ergänzt haben, bedeuten nichts, sind nichts und haben kein Herz und keinen Wert; - aber es ist viel Schönheit hier, weil überall viel Schönheit ist. Unendlich lebensvolle Wasser gehen über die alten Aquädukte in die große Stadt und tanzen auf den vielen Plätzen über steinernen weißen Schalen und breiten sich aus in weiten, geräumigen Becken und rauschen bei Tag und erheben ihr Rauschen zur Nacht, die hier groß und gestirnt ist und weich von Winden. Und Gärten sind hier, unvergeßliche Alleen und Treppen, Treppen, von Michelangelo ersonnen, Treppen, die nach dem Vorbild abwärts gleitender Wasser erbaut sind, - breit im Gefäll Stufe aus Stufe gebärend wie Welle aus Welle. Durch solche Eindrücke sammelt man sich, gewinnt sich zurück aus dem anspruchsvollen Vielen, das da spricht und schwätzt (und wie gesprächig ist es!), und lernt langsam die sehr wenigen Dinge erkennen, in denen Ewiges dauert, das man lieben, und Einsames, daran man leise teilnehmen kann. Noch wohne ich in der Stadt auf dem Kapitol, nicht weit von dem schönsten Reiterbilde, das uns aus römischer Kunst erhalten geblieben ist, - dem des Marc Aurel; aber in einigen Wochen werde ich einen stillen schlichten Raum beziehen, einen alten Altan, der ganz tief in einem großen Park verloren liegt, der Stadt, ihrem Geräusch und Zufall verborgen. Dort werde ich den ganzen Winter wohnen und mich freuen an der großen Stille, von der ich das Geschenk guter und tüchtiger Stunden erwarte... Von dort aus, wo ich mehr zu Hause sein werde, schreibe ich Ihnen einen größeren Brief, darin auch noch von Ihrem Schreiben die Rede sein wird. Heute muß ich Ihnen nur sagen (und vielleicht ist es unrecht, daß ich dies nicht schon früher getan habe), daß das in Ihrem Briefe angekündigte Buch (welches Arbeiten von Ihnen enthalten sollte) nicht hier eingetroffen ist. Ist es an Sie zurückgegangen, vielleicht von Worpswede aus? (Denn: man darf Pakete ins Ausland nicht nachsenden.) Diese Möglichkeit ist die günstigste, die ich gern bestätigt wüßte. Hoffentlich hadelt es sich nicht um einen Verlust, - der ja bei italienischen Postverhältnissen nicht zu den Ausnahmen gehört - leider. Ich hätte auch dieses Buch (wie alles, was ein Zeichen von Ihnen gibt) gern empfangen; und Verse, die inzwischen entstanden sind, werde ich immer (wenn Sie mir sie anvertrauen) lesen und wieder lesen und erleben, so gut und so herzlich ich kann. Mit Wünschen und Grüßen
Ihr:
Rainer Maria Rilke |
6.
An Franz Xaver Kappus
Rom, am 23. Dezember 1903
Mein lieber Herr Kappus,
Sie sollen nicht ohne einen Gruß von mir sein, wenn es Weihnachten wird und wenn Sie, inmitten des Festes, Ihre Einsamkeit schwerer tragen als sonst. Aber wenn Sie dann merken, daß sie groß ist, so freuen Sie sich dessen; denn was (so fragen Sie sich) wäre eine Einsamkeit, welche nicht Größe hätte; es gibt nur eine Einsamkeit, und die ist groß und ist nicht leicht zu tragen, und es kommen fast allen die Stunden, da Sie sie gerne vertauschen möchten gegen irgendeine noch so banale und billige Gemeinsamkeit, gegen den Schein einer geringen Übereinstimmung mit dem Nächstbesten, mit dem Unwürdigsten ... Aber vielleicht sind das gerade die Stunden, wo die Einsamkeit wächst; denn ihr Wachsen ist schmerzhaft wie das Wachsen der Knaben und traurig wie der Anfang der Frühlinge. Aber das darf Sie nicht irre machen. Was not tut, ist doch nur dieses: Einsamkeit, große innere Einsamkeit. Insich-Gehen und stundenlang niemandem begegnen, - das muß man erreichen können. Einsam sein, wie man als Kind einsam war, als die Erwachsenen umhergingen, mit Dingen verflochten, die wichtig und groß schienen, weil die Großen so geschäftigt aussahen und weil man von ihrem Tun nichts begriff.
Und wenn man eines Tages einsieht, daß ihre Beschäftigungen armselig,
ihre Berufe erstarrt und mit dem Leben nicht mehr verbunden sind, warum dann nicht weiter wie
ein Kind darauf hinsehen als auf ein Fremdes, aus der Tiefe der eigenen Welt
heraus, aus der Weite der eigenen Einsamkeit, die selber Arbeit ist und Rang
und Beruf? Warum eines Kindes weises Nicht-Verstehen vertauschen wollen gegen
Abwehr und Verachtung, da doch Nicht-Verstehen Alleinsein ist, Abwehr und
Verachtung aber Teilnahme an dem, wovon man sich mit diesen Mitteln scheiden
will.
Denken Sie, lieber Herr, an die Welt, die Sie in sich tragen, und
nennen Sie dieses Denken, wie Sie wollen; mag es Erinnerung an die eigene
Kindheit sein oder Sehnsucht zur eigenen Zukunft hin, - nur seien Sie
aufmerksam gegen das, was in Ihnen aufsteht, und stellen Sie es über alles,
was Sie um sich bemerken. Ihr innerstes Geschehen ist Ihrer ganzen Liebe
wert, an ihm müssen Sie irgendwie arbeiten und nicht zu viel Zeit und zu viel
Mut damit verlieren, Ihre Stellung zu den Menschen aufzuklären. Wer sagt
Ihnen denn, daß Sie überhaupt eine haben?
Ich weiß, Ihr Beruf ist hart und voll Widerspruch gegen Sie, und ich
sah Ihre Klage voraus und wußte, daß sie kommen würde. Nun sie gekommen ist,
kann ich Sie nicht beruhigen, ich kann Ihnen nur raten, zu überleben, ob
nicht alle Berufe so sind, voll von Ansprüchen, voll Feindschaft gegen den
einzelnen, vollgesogen gleichsam mit dem Haß derer, die sich stumm und
mürrisch in die nüchterne Pflicht gefunden haben. Der Stand, in dem Sie jetzt leben müssen, ist nicht schwerer mit
Konventionen, Vorurteilen und Irrtümern belastet als alle die anderen Stände,
und wenn es welche gibt, die eine größere Freiheit zur Schau tragen, so gibt
es doch keinen, der in sich weit und geräumig und mit den großen Dingen, aus
denen das wirkliche Leben besteht, in Beziehung ist. Nur der einzelne, der
einsam ist, ist wie ein Ding unter die tiefen Gesetze gestellt, und wenn
einer hinausgeht in den Morgen, der anhebt, oder hinaus in den Abend schaut,
der voll Ereignis ist, und wenn er fühlt, was da geschieht, so fällt aller
Stand von ihm ab, wie von einem Toten, obwohl er mitten in lauter Leben
steht. Was Sie, lieber Herr Kappus, jetzt als Offizier erfahren müssen, Sie
hätten es ähnlich in jedem der bestehenden Berufe gefühlt, ja sogar wenn Sie,
außerhalb jeder Stellung, mit der Gesellschaft allein leichte und
selbständige Berührung gesucht hätten, würde ihnen dieses beengende Gefühlt
nicht erspart geblieben sein.
Es ist überall so; aber das ist kein Grund zu Angst oder Traurigkeit;
wenn keine Gemeinsamkeit zwischen den Menschen ist und Ihnen, versuchen Sie
es, den Dingen nahe zu sein, die Sie nicht verlassen werden; noch sind die
Nächte da und die Winde, die durch die Bäume gehen und über viele Länder;
noch ist unter den Dingen und bei den Tieren alles voll Geschehen, daran Sie
teilnehmen dürfen; und die Kinder sind noch so, wie Sie gewesen sind als
Kind, so traurig und glücklich, - und wenn Sie an Ihre Kindheit denken, dann
leben Sie wieder unter ihnen, unter den einsamen Kindern, und die Erwachsenen
sind nichts, und ihre Würde hat keinen Wert.
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Und wenn es
Ihnen bang und quälend ist, an die Kindheit zu denken und an das Einfache und
Stille, das mit ihr zusammenhängt, weil Sie an Gott nicht mehr glauben können
der überall darin vorkommt, dann fragen Sie sich, lieber Herr Kappus, ob Sie
Gott denn wirklich verloren haben. Ist es nicht vielmehr so, daß Sie ihn noch
nie besessen haben? Denn wann sollte das gewesen sein? Glauben Sie, ein Kind
kann ihn halten, ihn den Männer nur mit Mühe tragen und dessen Gewicht die
Greise zusammendrückt? Glauben Sie, es könnte, wer ihn wirklich hat, ihn
verlieren wie einen kleinen Stein, oder meinen Sie nicht auch, wer ihn hätte,
könnte nur noch von ihm verloren werden? –
Wenn Sie aber erkennen, daß er in Ihrer
Kindheit nicht war, und nicht vorher, wenn Sie ahnen, daß Christus getäuscht
worden ist von seiner Sehnsucht und Muhammed betrogen von seinem Stolze, -
und wenn Sie mit Schrecken fühlen, daß er auch jetzt nicht ist, in dieser
Stunde da wir von ihm reden, - was berechtigt Sie dann, ihn, welcher niemals
war, wie einen Vergangenen zu vermissen und zu suchen, als ob er verlören
wäre?
Warum denken Sie nicht, daß er der
Kommende ist, der von Ewigkeit her bevorsteht, der Zukünftige, die endliche
Frucht eines Baumes, dessen Blätter wir sind? Was hält Sie ab, seine Geburt
hinauszuwerfen in die werdenden Zeiten und Ihr Leben zu leben wie einen
schmerzhaften und schönen Tag in der Geschichte einer großen Schwangerschaft?
Sehen Sie denn nicht, wie alles, was geschieht, immer wieder Anfang ist, und
könnte es nicht Sein Anfang sein, da doch Beginn an sich immer so
schön ist? Wenn er der Vollkommenste ist, muß nicht Geringeres vor ihm
sein, damit er sich auswählen kann aus Fülle und Überfluß? Muß er
nicht der Letzte sein, um alles in sich zu umfassen, und welchen Sinn hätten
wir, wenn der, nach dem wir verlangen, schon gewesen wäre?
Wie die Bienen den Honig zusammentragen, so holen wir das Süßeste aus allem und bauen Ihn. Mit dem Geringen sogar, mit dem Unscheinbaren (wenn es nur aus Liebe geschieht) fangen wir an, mit der Arbeit und mit dem Ruhen hernach, mit einem Schweigen oder mit einer kleinen einsamen Freude, mit allem, was wir allein, ohne Teilnehmer und Anhänger tun, beginnen wir Ihn, den wir nicht erleben werden, so wenig unsere Vorfahren uns erleben konnten. Und doch sind sie, diese Langvergangenen, in uns, als Anlage, als Last auf unserem Schicksal, als Blut, das rauscht, und als Gebärde, die aufsteigt aus den Tiefen der Zeit.
Gibt es etwas, was Ihnen die Hoffnung
nehmen kann, so einstens in Ihm, in dem Fernsten, Äußersten zu sein? Feiern
Sie, lieber Herr Kappus, Weihnachten in diesem frommen Gefühl, daß Er
vielleicht gerade diese Lebensangst von Ihnen braucht, um zu beginnen; gerade
diese Tage Ihres Überganges sind vielleicht die Zeit, da alles in Ihnen an
Ihm arbeitet, wie Sie schon einmal, als Kind, atemlos an Ihm gearbeitet
haben. Seien Sie geduldig und ohne Unwillen und denken Sie, daß das wenigste,
was wir tun können, ist, Ihm das Werden nicht schwerer zu machen, als die
Erde es dem Frühling macht, wenn er kommen will.
Und seien Sie froh und getrost.
Ihr:
Rainer Maria Rilke |
7.
An Franz Xaver Kappus
Rom, am 14. Mai 1904
Mein lieber Herr Kappus,
es ist viel Zeit hingegangen, seit ich Ihren letzten Brief empfangen habe. Tragen Sie mir das nicht nach; erst war es Arbeit, dann Störung und endlich Kränklichkeit, was mich immer wieder von dieser Antwort abhielt, die (so wollte ich es) aus ruhigen und guten Tagen zu Ihnen kommen sollte. Nun fühle ich mich wieder etwas wohler (der Frühlingsanfang mit seinen bösen, launischen Übergängen war auch hier arg zu fühlen) und komme dazu, Sie, lieber Herr Kappus, zu grüßen und Ihnen (was ich so herzlich gerne tue) das und jenes auf Ihren Brief zu sagen, so gut ich es weiß.
Sie sehen: ich habe Ihr Sonett abgeschrieben, weil ich fand, daß es
schön und einfach ist und in der Form geboren, in der es mit so stillem
Anstand geht. Es sind die besten von den Versen, die ich von Ihnen lesen
durfte. Und nun gebe ich Ihnen jene Abschrift, weil ich weiß, daß es wichtig
und voll neuer Erfahrung ist, eine eigene Arbeit in fremder Niederschrift
wiederzufinden. Lesen Sie die Verse, als ob es fremde wären, und Sie werden
im Innersten fühlen, wie sehr es die Ihrigen sind.
Es war eine Freude für mich, dieses Sonett und Ihren Brief oft zu
lesen; ich danke Ihnen für beides. Und sie dürfen sich nicht beirren lassen
in Ihrer Einsamkeit, dadurch, daß etwas in Ihnen ist, das sich herauswünscht
aus ihr. Gerade dieser Wunsch wird Ihnen, wenn Sie ihn ruhig und überlegen
und wie ein Werkzeug gebrauchen, Ihre Einsamkeit ausbreiten helfen über
weites Land. Die Leute haben (mit Hilfe von Konventionen) alles nach dem
Leichten hin gelöst und nach des Leichten leichtester Seite; es ist aber
klar, daß wir uns an das Schwere halten müssen; alles Lebendige hält sich
daran, alles in der Natur wächst und wehrt sich nach seiner Art und ist ein
Eigenes aus sich heraus, versucht es um jeden Preis zu sein und gegen allen
Widerstand. Wir wissen wenig, aber daß wir uns zu Schwerem halten müssen, ist
eine Sicherheit, die uns nicht verlassen wird; es ist gut, einsam zu sein,
denn Einsamkeit ist schwer; daß etwas schwer ist, muß uns ein Grund mehr sein, es zu tun.
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Auch zu lieben ist gut: denn Liebe ist schwer.
Liebhaben von Mensch zu Mensch: das ist vielleicht das Schwerste, was uns aufgegeben
ist, das Äußerste, die letzte Probe und Prüfung, die Arbeit, für die alle
andere Arbeit nur Vorbereitung ist.
Darum können
junge Menschen, die Anfänger in allem sind, die Liebe noch nicht: sie müssen
sie lernen. Mit dem ganzen Wesen, mit allen Kräften, versammelt um ihr
einsames, banges, aufwärts schlagendes Herz, müssen sie lieben lernen.
Lernzeit
aber ist immer eine lange, abgeschlossene Zeit, und so ist Lieben für lange
hinaus und weit ins Leben hinein -: Einsamkeit, gesteigertes und vertieftes
Alleinsein für den, der liebt. Lieben ist zunächst nichts, was aufgehen,
hingeben und sich mit einem Zweiten vereinen heißt (denn was wäre eine
Vereinigung von Ungeklärtem und Unfertigem, noch Ungeordnetem -?), es ist ein
erhabener Anlaß für den einzelnen, zu reifen, in sich etwas zu werden, Welt
zu werden, Welt zu werden für sich um eines anderen willen, es ist ein
großer, unbescheidener Anspruch an ihn, etwas, was ihn auserwählt und zu
Weitem beruft. Nur in diesem Sinne, als Aufgabe, an sich zu arbeiten («zu
horchen und zu hämmern Tag und Nacht»), dürften junge Menschen die Liebe, die
ihnen gegeben wird, gebrauchen. Das Aufgehen und das Hingeben und alle Art
der Gemeinsamkeit ist nicht für sie (die noch lange, lange sparen und sammeln
müssen), ist das Endliche, ist vielleicht das, wofür Menschenleben jetzt noch
kaum ausreichen.
Darin aber
irren die jungen Menschen so oft und so schwer: daß sie (in deren Wesen es
liegt, keine Geduld zu haben) sich einander hinwerfen, wenn die Liebe über
sie kommt, sich ausstreuen, so wie sie sind in all ihrer Unaufgeräumtheit,
Unordnung, Wirrnis...: Was aber soll dann sein? Was soll das Leben an diesem
Haufen von Halbzerschlagenem tun, den sie ihre Gemeinsamkeit heißen und den
sie gerne ihr Glück nennen möchten, ginge es an, und ihre Zukunft? Da
verliert jeder sich um des anderen willen und verliert den anderen und viele
andere, die noch kommen wollten. Und verliert die Weiten und Möglichkeiten,
tauscht das Nahen und Fliehen leiser, ahnungsvoller Dinge gegen eine
unfruchtbare Ratlosigkeit, aus der nichts mehr kommen kann; nichts als ein
wenig Ekel, Enttäuschung und Armut und die Rettung in eine der vielen
Konventionen, die wie allgemeine Schutzhütten an diesem gefährlichsten Wege
in großer Zahl angebracht sind. Kein Gebiet menschlichen Erlebens ist so mit
Konventionen versehen wie dieses: Rettungsgürtel der verschiedensten
Erfindung, Boote und Schwimmblasen sind da; Zuflüchte in jeder Art hat die
gesellschaftliche Auffassung zu schaffen gewußt, denn da sie geneigt war, das
Liebesleben als ein Vergnügen zu nehmen, mußte sie es auch leicht
ausgestalten, billig, gefahrlos und sicher, wie öffentliche Vergnügungen
sind.
Zwar fühlen
viele junge Menschen, die falsch, d. h. einfach hingebend und uneinsam lieben
(der Durchschnitt wird ja immer dabei bleiben -), das Drückende einer
Verfehlung und wollen auch den Zustand, in den sie geraten sind, auf ihre
eigene, persönliche Art lebensfähig und fruchtbar machen -; denn ihre Natur
sagt ihnen, daß die Fragen der Liebe, weniger noch als alles, was sonst
wichtig ist, öffentlich und nach dem und jenem Übereinkommen gelöst werden
können; daß es Fragen sind, nahe Fragen von Mensch zu Mensch, die einer in
jedem Fall neuen, besonderen, nur persönlichen Antwort bedürfen -:
aber wie sollten sie, die sich schon zusammengeworfen haben und sich nicht
mehr abgrenzen und unterscheiden, die also nichts Eigenes mehr besitzen,
einen Ausweg aus sich selbst heraus, aus der Tiefe der schon verschütteten
Einsamkeit finden können?
Sie handeln
aus gemeinsamer Hilflosigkeit, und sie geraten, wenn sie dann, besten
Willens, die Konvention, die ihnen auffällt (etwa die Ehe), vermeiden wollen,
in die Fangarme einer weniger lauten, aber ebenso tödlichen konventionellen
Lösung; denn da ist dann alles, weithin um sie – Konvention; da, wo aus einer
früh zusammengeflossenen, trüben Gemeinsamkeit gehandelt wird, ist jede
Handlung konventionell: jedes Verhältnis, zu dem solche Verwirrung führt, hat
seine Konvention, mag es auch noch so ungebräuchlich (d.h. im gewöhnlichen
Sinn unmoralisch) sein; ja, sogar Trennung wäre da ein konventioneller
Schritt, ein unpersönlicher Zufallsentschluß ohne Kraft und ohne Furcht.
Wer ernst
hinsieht, findet, daß, wie für den Tod, der schwer ist, auch für die schwere
Liebe noch keine Aufklärung, keine Lösung, weder Wink noch Weg erkannt worden
ist; und es wird für diese beiden Aufgaben, die wir verhüllt tragen und
weitergeben, ohne sie aufzutun, keine gemeinsame, in Vereinbarung beruhende
Regel sich erforschen lassen. Aber in demselben Maße, in dem wir beginnen,
als einzelne das Leben zu versuchen, werden diese großen Dinge uns, den
einzelnen, in größerer Nähe begegnen. Die Ansprüche, welche die schwere
Arbeit der Liebe an unsere Entwicklung stellt, sind überlebensgroß, und wir
sind ihnen, als Anfänger, nicht gewachsen. Wenn wir aber doch aushalten und
diese Liebe auf uns nehmen als Last und Lehrzeit, statt uns zu verlieren an
all das leichte und leichtsinnige Spiel, hinter dem die Menschen sich vor dem
ernstesten Ernst ihres Daseins verborgen haben, - so wird ein kleiner
Fortschritt und eine Erleichterung denen, die lange nach uns kommen,
vielleicht fühlbar sein; das wäre viel.
Wir kommen
ja doch eben erst dazu, das Verhältnis eines einzelnen Menschen zu einem
zweiten einzelnen vorurteilslos und sachlich zu betrachten, und unsere
Versuche, solche Beziehung zu leben, haben kein Vorbild vor sich. Und doch
ist in dem Wandel der Zeit schon manches, das unserer zaghaften
Anfängerschaft helfen will.
Das Mädchen
und die Frau, in ihrer neuen, eigenen Enthaltung, werden nur vorübergehend
Nachahmer männlicher Unart und Art und Wiederholer männlicher Berufe sein.
Nach der Unsicherheit solcher Übergänge wird sich zeigen, daß die Frauen
durch die Fülle und den Wechsel jener (oft lächerlichen) Verkleidungen nur
gegangen sind, um ihr eigenstes Wesen von den entstellenden Einflüssen des
anderen Geschlechts zu reinigen. Die Frauen, in denen unmittelbarer,
fruchtbarer und vertrauensvoller das Leben verweilt und wohnt, müssen ja im
Grunde reifere Menschen geworden sein, menschlichere Menschen als der
leichte, durch die Schwere keiner leiblichen Frucht unter die Oberfläche des
Lebens herabgezogene Mann, der, dünkelhaft und hastig, unterschätzt, was er
zu lieben meint. Dieses in Schmerzen und Erniedrigungen ausgetragene Menschentum
der Frau wird dann, wenn sie die Konventionen der Nur-Weiblichkeit in den
Verwandlungen ihres äußeren Standes abgestreift haben wird, zutage treten,
und die Männer, die es heute noch nicht kommen fühlen, werden davon
überrascht und geschlagen werden.
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Eines Tages
(wofür jetzt, zumal in den nordischen Ländern, schon zuverlässige Zeichen
sprechen und leuchten), eines Tages wird das Mädchen da sein und die Frau,
deren Name nicht mehr nur einen Gegensatz zum Männlichen bedeuten wird,
sondern etwas für sich, etwas, wobei man keine Ergänzung und Grenze denkt,
nur an Leben und Dasein -: der weibliche Mensch.
Dieser Fortschritt wird das
Liebe-Erleben, das jetzt voll Irrung ist (sehr gegen den Willen der
überholten Männer zunächst), verwandeln, von Grund aus verändern, zu einer
Beziehung umbilden, die von Mensch zu Mensch gemeint ist, nicht mehr von Mann
zu Weib. Und diese menschlichere Liebe (die unendlich rücksichtsvoll und
leise, und gut und klar in Binden und Lösen sich vollziehen wird) wird jener
ähneln, die wir ringend und mühsam vorbereiten, der Liebe, die darin besteht,
daß zwei Einsamkeiten einander schützen, grenzen und grüßen.
Und das noch: Glauben Sie nicht, daß jene
große Liebe, welche Ihnen, dem Knaben, einst auferlegt worden ist, verloren
war; können Sie sagen, ob damals nicht große und gute Wünsche in Ihnen
gereift sind und Vorsätze, von denen Sie heute noch leben? Ich glaube, daß
jene Liebe so stark und mächtig in Ihrer Erinnerung bleibt, weil sie Ihr
erstes tiefes Alleinsein war und die erste innere Arbeit, die Sie an Ihrem
Leben getan haben. Alle guten Wünsche für Sie, lieber Herr Kappus!
Ihr:
Rainer Maria Rilke
Sonett
Durch mein Leben zittert ohne Klage, ohne Seufzer ein tiefdunkles Weh. Meiner Träume reiner Blütenschnee Ist die Weihe meiner stillsten Tage. Öfter aber kreuzt die große Frage Meinen Pfad. Ich werde klein und geh Kalt vorüber wie an einem See, dessen Flut ich nicht zu messen wage. Und dann sinkt ein Leid auf mich, so trübe Wie das Grau glanzarmer Sommernächte, die ein Stern durchflimmert dann und wann -: Meine Hände tasten dann nach Liebe, weil ich gerne Laute beten möchte, die mein heißer Mund nicht finden kann... (Franz Xaver Kappus) |
8.
An Franz Xaver Kappus
Borgeby gård, Flädie, Schweden,
am 12. August 1904
Mein lieber Herr Kappus,
Ich will wieder eine Weile zu Ihnen reden, lieber Herr Kappus, obwohl ich fast nichts sagen kann, was hilfreich ist, kaum etwas Nützliches. Sie haben viele und große Traurigkeiten gehabt, die vorübergingen. Und Sie sagen, daß auch dieses Vorübergehen schwer und verstimmend für Sie war. Aber, bitte, überlegen Sie, ob diese großen Traurigkeiten nicht vielmehr mitten durch Sie durchgegangen sind? Ob nicht vieles in Ihnen sich verwandelt hat, ob Sie nicht irgendwo, an irgendeiner Stelle Ihres Wesens sich verändert haben, während Sie traurig waren? Gefährlich und schlecht sind nur jene Traurigkeiten, die man unter die Leute trägt, um sie zu übertönen; wie Krankheiten, die oberflächlich und töricht behandelt werden, treten sie nur zurück und brechen nach einer kleinen Pause um so furchtbarer aus; und sammeln sich an im Innern und sind Leben, sind ungelebtes, verschmähtes, verlorenes Leben, an dem man sterben kann. Wäre es uns möglich, weiter zu sehen, als unser Wissen reicht, und noch ein wenig über die Vorwerke unseres Ahnens hinaus, vielleicht würden wir dann unsere Traurigkeiten mit größerem Vertrauen ertragen als unsere Freuden. Denn sie sind die Augenblicke, da etwas Neues in uns eingetreten ist, etwas Unbekanntes; unsere Gefühle verstummen in scheuer Befangenheit, alles in uns tritt zurück, es entsteht eine Stille, und das Neue, das niemand kennt, steht mitten darin und schweigt.
Ich glaube, daß fast alle unsere Traurigkeiten Momente der Spannung
sind, die wir als Lähmung empfinden, weil wir unsere befremdeten Gefühle
nicht mehr leben hören. Weil wir mit dem Fremden, das
bei uns eingetreten ist, allein sind, weil uns alles Vertraute und Gewohnte
für einen Augenblick fortgenommen ist; weil wir mitten in einem Übergang
stehen, wo wir nicht stehen bleiben können. Darum geht die Traurigkeit auch
vorüber: das Neue in uns, das Hinzugekommene, ist in unser Herz eingetreten,
ist in seine innerste Kammer gegangen und ist auch dort nicht mehr, - ist
schon im Blut. Und wir erfahren nicht, was es war. Man könnte uns leicht
glauben machen, es sei nichts geschehen, und doch haben wir uns verwandelt,
wie ein Haus sich verwandelt, in welches ein Gast eingetreten ist. Wir können
nicht sagen, wer gekommen ist, wir werden es vielleicht nie wissen, aber es
sprechen viele Anzeichen dafür, daß die Zukunft in solcher Weise in uns
eintritt, um sich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht. Und darum
ist es so wichtig, einsam und aufmerksam zu sein, wenn man traurig ist: weil
der scheinbar ereignislose und starre Augenblick, da unsere Zukunft uns
betritt, dem Leben so viel näher steht als jener andere laute und zufällige
Zeitpunkt, da sie uns, wie von außen her, geschieht. Je stiller, geduldiger
und offener wir als Traurige sind, um so tiefer und um so unbeirrter geht das
Neue in uns ein, um so besser erwerben wir es, um so mehr wird es unser
Schicksal sein, und wir werden uns ihm, wenn es eines späteren Tages «geschieht»
(das heißt: aus uns heraus zu den anderen tritt), im Innersten verwandt und
nahe fühlen. Und das ist nötig. Es ist nötig und dahin wird nach und nach
unsere Entwicklung gehen -, daß uns nichts Fremdes widerfahre, sondern nur
das, was uns seit lange gehört. Man hat schon so viele Bewegungs-Begriffe
umdenken müssen, man wird auch allmählich erkennen lernen, daß das, was wir
Schicksal nennen, aus den Menschen heraustritt, nicht von außen her in sie
hinein. Nur weil so viele ihre Schicksale, solange sie in ihnen lebten, nicht
aufsaugten und in sich selbst verwandelten, erkannten sie nicht, was aus
ihnen trat; es war ihnen so fremd, daß sie, in ihrem wirren Schrecken,
meinten, es müsse gerade jetzt in sie eingegangen sein, denn sie beschworen,
vorher nie Ähnliches in sich gefunden zu haben. Wie man sich lange über die
Bewegung der Sonne getäuscht hat, so täuscht man sich immer noch über die
Bewegung des Kommenden. Die Zukunft steht fest, lieber Herr Kappus, wir aber
bewegen uns im unendlichen Raume.
Wie sollten wir es nicht schwer haben?
Und wenn wir wieder von der Einsamkeit reden, so wird immer klarer,
daß das im Grunde nichts ist, was man wählen oder lassen kann. Wir sind
einsam. Man kann sich darüber täuschen und tun, als wäre es nicht so. Das ist
alles. Wieviel besser ist es aber, einzusehen, daß wir es sind, ja geradezu,
davon auszugehen. Da wird es freilich geschehen, daß wir schwindeln; denn
alle Punkte, worauf unser Auge zu ruhen pflegte, werden uns fortgenommen, es
gibt nichts Nahes mehr, und alles Ferne ist unendlich fern. Wer aus seiner
Stube, fast ohne Vorbereitung und Übergang, auf die Höhe eines großen
Gebirges gestellt würde, müßte Ähnliches fühlen: eine Unsicherheit
ohnegleichen, ein Preisgegebensein an Namenloses würde ihn fast vernichten. Er
würde vermeinen zu fallen oder sich hinausgeschleudert glauben in den Raum
oder in tausend Stücke auseinandergesprengt: welche ungeheure Lüge müßte sein
Gehirn erfinden, um den Zustand seiner Sinne einzuholen und aufzuklären. So
verändern sich für den, der einsam wird, alle Entfernungen, alle Maße; von
diesen Veränderungen gehen viele plötzlich vor sich, und wie bei jenem Mann
auf dem Berggipfel entstehen dann ungewöhnliche Einbildungen und seltsame
Empfindungen, die über alles Erträgliche hinauszuwachsen scheinen. Aber es
ist notwendig, daß wir auch das erleben. Wir müssen unser Dasein so weit,als
es irgend geht, annehmen; alles, auch das Unerhörte, muß darin möglich sein.
Das ist im Grunde der einzige Mut, den man von uns verlangt: mutig zu sein zu
dem Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbarsten, das uns begegnen kann.
Daß die Menschen in diesem Sinne feige waren, hat dem Leben unendlichen
Schaden getan; die Erlebnisse, die man «Erscheinungen» nennt, die ganze
sogenannte «Geisterwelt», der Tod, alle diese uns so anverwandten Dinge, sind
durch die tägliche Abwehr aus dem Leben so sehr hinausgedrängt worden, daß
die Sinne, mit denen wir sie fassen könnten, verkümmert sind. Von Gott gar
nicht zu reden. Aber die Angst vor dem Unaufklärbaren hat nicht allein das
Dasein des einzelnen ärmer gemacht, auch die Beziehungen von Mensch zu Mensch
sind durch sie beschränkt, gleichsam aus dem Flußbett unendlicher
Möglichkeiten herausgehoben worden auf eine brache Uferstelle, der nichts
geschieht. Denn es ist nicht die Trägheit allein, welche macht, daß die
menschlichen Verhältnisse sich so unsäglich eintönig und unerneut von Fall zu
Fall wiederholen, es ist die Scheu vor irgendeinem neuen, nicht absehbaren
Erlebnis, dem man sich nicht gewachsen glaubt.
Aber nur wer auf alles gefaßt ist, wer nichts, auch das Rätselhafteste
nicht, ausschließt, wird die Beziehung zu einem andren als etwas Lebendiges
leben und wird selbst sein eigenes Dasein ausschöpfen. Denn wie wir dieses
Dasein des einzelnen als einen größeren oder kleineren Raum denken, so zeigt
sich, daß die meisten nur eine Ecke ihres Raumes kennen lernen, einen
Fensterplatz, einen Streifen, auf dem sie auf und nieder gehen. So haben sie
eine gewisse Sicherheit. Und doch ist jene gefahrvolle Unsicherheit so viel
menschlicher, welche die Gefangenen in den Geschichten Poes drängt, die
Formen ihrer fürchterlichen Kerker abzutasten und den unsäglichen Schrecken
ihres Aufenthaltes nicht fremd zu sein. Wir aber sind nicht Gefangene. Nicht
Fallen und Schlingen sind um uns aufgestellt, und es gibt nichts, was uns
ängstigen oder quälen sollte. Wir sind ins Leben gesetzt, als in das Element,
dem wir am meisten entsprechen, und wir sind überdies durch jahrtausendelange
Anpassung diesem Leben so ähnlich geworden, daß wir, wenn wir stille halten,
durch ein glückliches Mimikry von allem, was uns umgibt, kaum zu
unterscheiden sind. Wir haben keinen Grund, gegen unsere Welt Mißtrauen zu
haben, denn sie ist nicht gegen uns. Hat sie Schrecken, so sind es unsere
Schrecken, hat sie Abgründe, so gehören diese Abgründe uns, sind Gefahren da,
so müssen wir versuchen, sie zu lieben.
Und wenn wir nur unser Leben nach jenem Grundsatz einrichten, der uns
rät, daß wir uns immer an das Schwere halten müssen, so wird das, welches uns
jetzt noch als das Fremdeste erscheint, unser Vertrautestes und Treuestes
werden. Wie sollten wir jener alten Mythen vergessen können, die am Anfange
aller Völker stehen, der Mythen von den Drachen, die sich im äußersten
Augenblick in Prinzessinnen verwandeln; vielleicht sind alle Drachen unseres
Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns einmal schön und mutig zu
sehen. Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das
von uns Hilfe will.
Da dürfen Sie, lieber Herr Kappus, nicht erschrecken, wenn eine
Traurigkeit vor Ihnen sich aufhebt, so groß, wie Sie noch keine gesehen
haben; wenn eine Unruhe, wie Licht und Wolkenschatten, über Ihre Hände geht
und über all Ihr Tun. Sie müssen denken, daß etwas an Ihnen geschieht, daß
das Leben Sie nicht vergessen hat, daß es Sie in der Hand hält; es wird Sie
nicht fallen lassen. Warum wollen Sie irgendeine Schwermut von Ihrem Leben
ausschließen, da Sie doch nicht wissen, was diese Zustände an Ihnen arbeiten?
Warum wollen Sie sich mit der Frage verfolgen, woher das alles kommen mag und
wohin es will? Da Sie doch wissen daß sie in den Übergängen sind, und nichts
so sehr wünschten, als sich zu verwandeln.
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Wenn etwas von
Ihren Vorgängen krankhaft ist, so bedenken Sie doch, daß die Krankheit das
Mittel ist, mit dem ein Organismus sich von Fremdem befreit; da muß man ihm
nur helfen, krank zu sein, seine ganze Krankheit zu haben und auszubrechen,
denn das ist sein Fortschritt. In Ihnen, lieber Herr Kappus, geschieht jetzt
so viel; Sie müssen geduldig sein wie ein Kranker und zuversichtlich wie ein
Genesender; denn vielleicht sind Sie beides. Und mehr: Sie sind auch der
Arzt, der sich zu überwachen hat. Aber da gibt es in jeder Krankheit viele
Tage da der Arzt nichts tun kann als abwarten. Und das ist es, was Sie, soweit
Sie Ihr Arzt sind, jetzt vor allem tun müssen.
Beobachten Sie sich nicht zu sehr. Ziehen
Sie nicht zu schnelle Schlüsse aus dem, was Ihnen geschieht; lassen Sie es
sich einfach geschehen. Sie kommen sonst zu leicht dazu, mit Vorwürfen (das
heißt: moralisch) auf Ihre Vergangenheit zu schauen, die natürlich an allem,
was Ihnen jetzt begegnet, mitbeteiligt ist. Was aus den Irrungen, Wünschen
und Sehnsüchten Ihrer Knabenzeit in Ihnen wirkt, ist aber nicht das, was Sie
erinnern und verurteilen. Die außergewöhnlichen Verhältnisse einer einsamen
und hilflosen Kindheit sind so schwer, so kompliziert, so vielen Einflüssen
preisgegeben und zugleich so ausgelöst aus allen wirklichen
Lebenszusammenhängen, daß, wo ein Laster in sie eintritt, man es nicht ohne
weiteres Laster nennen darf. Man muß überhaupt mit den Namen so vorsichtig
sein; es ist so oft der Name eines Verbrechens, an dem ein Leben
zerbricht, nicht die namenlose und persönliche Handlung selbst, die
vielleicht eine ganz bestimme Notwendigkeit dieses Lebens war und von ihm
ohne Mühe aufgenommen werden könnte. Und der Kraft-Verbrauch scheint Ihnen
nur deshalb so groß, weil Sie den Sieg überschätzen; nicht er ist das
«Große», das Sie meinen geleistet zu haben, obwohl Sie recht haben mit Ihrem
Gefühl; das Große ist, daß schon etwas da war, was Sie an Stelle jenes
Betruges setzen durften, etwas Wahres und Wirkliches. Ohne dieses wäre auch
Ihr Sie nur eine moralische Reaktion gewesen, ohne weite Bedeutung, so aber
ist er ein Abschnitt Ihres Lebens geworden. Ihres Lebens, lieber Herr Kappus,
an das ich mit so vielen Wünschen denke. Erinnern Sie sich, wie sich dieses
Leben aus der Kindheit heraus nach dem «Großen» gesehnt hat? Ich sehe, wie es
sich jetzt von den Großen fort nach den Größeren sehnt. Darum hört es nicht
auf, schwer zu sein, aber darum wird es auch nicht aufhören zu wachsen.
Und wenn ich Ihnen noch eines sagen soll,
so ist es dies: Glauben Sie nicht, daß der, welcher Sie zu trösten
versucht, mühelos unter den einfachen und stillen Worten lebt, die Ihnen manchmal
wohltun. Sein Leben hat viel Mühsal und Traurigkeit und bleibt weit hinter
Ihnen zurück. Wäre es aber anders, so hätte er jene Worte nie finden können.
Ihr:
Rainer Maria Rilke
9.
An Franz Xaver Kappus
Furuborg, Jonsered, in Schweden
Mein lieber Herr Kappus,am 4. November 1904 in dieser Zeit, die ohne Brief vergangen ist, war ich teils unterwegs, teils so beschäftigt, daß ich nicht schreiben konnte. Und auch heute fällt das Schreiben mir schwer, weil ich schon viele Briefe schreiben mußte, so daß meine Hand müde ist. Könnte ich diktieren, so würde ich Ihnen vieles sagen, so aber nehmen Sie nur wenige Worte für Ihren langen Brief. Ich denke, lieber Herr Kappus, oft und mit so konzentrierten Wünschen an Sie, daß Ihnen das eigentlich irgendwie helfen müßte. Ob meine Briefe wirklich eine Hilfe sein können, daran zweifle ich oft. Sagen Sie nicht: Ja, sie sind es. Nehmen Sie sie ruhig auf und ohne vielen Dank, und lassen Sie uns abwarten, was kommen will. Es nützt vielleicht nichts, daß ich nun auf Ihre einzelnen Worte eingehe; denn was ich über Ihre Neigung zum Zweifel sagen könnte oder über Ihr Unvermögen, das äußere und innere Leben in Einklang zu bringen, oder über alles, was Sie sonst bedrängt -: es ist immer das, was ich schon gesagt habe: immer der Wunsch, Sie möchten Geduld genug in sich finden, zu ertragen, und Einfalt genug, zu glauben; Sie möchten mehr und mehr Vertrauen gewinnen zu dem, was schwer ist, und zu Ihrer Einsamkeit unter den anderen. Und im übrigen lassen Sie sich das Leben geschehen. Glauben Sie mir: das Leben hat recht, auf alle Fälle. Und von den Gefühlen: Rein sind alle Gefühle, die Sie zusammenfassen und aufheben; unrein ist das Gefühl, das nur eine Seite Ihres Wesens erfaßt und Sie so verzerrt. Alles, was Sie angesichts Ihrer Kindheit denken können, ist gut. Alles, was mehr aus Ihnen macht, als Sie bisher in Ihren besten Stunden waren, ist recht. Jede Steigerung ist gut, wenn sie in Ihrem ganzen Blute ist, wenn sie nicht Rausch ist, nicht Trübe, sondern Freude, der man auf den Grund sieht. Verstehen Sie, was ich meine? Und Ihr Zweifel kann eine gute Eigenschaft werden, wenn Sie ihn erziehen. Er muß wissend werden, er muß Kritik werden. Fragen Sie ich, sooft er Ihnen etwas verderben will, weshalb etwas häßlich ist, verlangen Sie Beweise von ihm, prüfen Sie ihn, und Sie werden ihn vielleicht ratlos und verlegen, vielleicht auch aufbegehrend finden. Aber geben Sie nicht nach, fordern Sie Argumente und handeln Sie so, aufmerksam und konsequent, jedes einzelne Mal, und der Tag wird kommen, da er aus einem Zerstörer einer Ihrer besten Arbeiter werden wird, - vielleicht der klügste von allen, die an Ihrem Leben bauen. Das ist alles, lieber Herr Kappus, was ich Ihnen heute zu sagen vermag. Aber ich sende Ihnen zugleich den Separatdruck einer kleinen Dichtung, die jetzt in der Prager «Deutschen Arbeit» erschienen ist. Dort rede ich weiter zu Ihnen vom Leben und vom Tode und davon, daß beides groß und herrlich ist.
Ihr:
Rainer Maria Rilke
10.
An Franz Xaver Kappus
Paris, am zweiten Weihnachtstage 1908
Sie sollen wissen, lieber
Herr Kappus, wie froh ich war, diesen schönen Brief von Ihnen zu haben. Die
Nachrichten, die Sie mir geben, wirklich und aussprechbar, wie sie nun wieder
sind, scheinen mir gut, und je länger ichs bedachte, desto mehr empfand ich sie als tatsächlich gute. Dieses
wollte ich Ihnen eigentlich zum Weihnachtsabend schreiben; aber über der
Arbeit, in der ich diesen Winter vielfach und ununterbrochen lebe, ist das
alte Fest so schnell herangekommen, daß ich kaum mehr Zeit hatte, die
nötigsten Besorgungen zu machen, viel weniger zu schreiben. Aber gedacht hab
ich an Sie in dieses Festtagen oft und mir vorgestellt, wie still Sie sein
müssen in Ihrem einsamen Fort zwischen den leeren Bergen, über die sich jene
großen südlichen Winde stürzen, als wollten Sie sie in großen Stücken
verschlingen. Die Stille muß immens sein, in der solche Geräusche und
Bewegungen Raum haben, und wenn man denkt, daß zu allem noch des
entferntesten Meeres Gegenwart hinzukommt und mittönt, vielleicht als der
innerste Ton in dieser vorhistorischen Harmonie, so kann man Ihnen nur
wünschen, daß Sie vertrauensvoll und geduldig die großartige Einsamkeit an
sich arbeiten lassen, die nicht mehr aus Ihrem Leben wird zu streichen sein;
die in allem, was Ihnen zu erleben und zu tun bevorsteht, als ein anonymer
Einfluß fortgesetzt und leise entscheidend wirken wird, etwa wie in uns Blut
von Vorfahren sich unablässig bewegt und sich mit unserm eigenen zu dem
Einzigen, nicht Wiederholbaren zusammensetzt, das wir an jeder Wendung
unseres Lebens sind. Ja: ich freue mich, daß Sie diese feste, sagbare
Existenz mit sich haben, diesen Titel, diese Uniform, diesen Dienst, alles
dieses Greifbare und Beschränkte, das in solchen Umgebungen mit einer gleich
isolierten nicht zahlreichen Mannschaft Ernst und Notwendigkeit annimmt, über
das Spielerische und Zeithinbringende des militärischen Berufs hinaus eine
wachsame Verwendung bedeutet und eine selbständige Aufmerksamkeit nicht nur
zuläßt, sondern geradezu erzieht. Und daß wir in Verhältnissen sind, die an
uns arbeiten, die uns vor große natürliche Dinge stellen von Zeit zu Zeit,
das ist alles, was not tut. Auch die Kunst ist nur eine Art zu leben, und man
kann sich, irgendwie lebend, ohne es zu wissen, auf sie vorbereiten; in jedem
Wirklichen ist man ihr näher und benachbarter als in den unwirklichen
halbartistischen Berufen, die, indem sie eine Kunstnähe vorspiegeln, das
Dasein aller Kunst praktisch leugnen und angreifen, wie etwa der ganze
Journalismus es tut und fast alle Kritik und dreiviertel dessen, was
Literatur heißt und heißen will. Ich freue mich, mit einem Wort, daß Sie die
Gefahr, dahinein zu geraden, überstanden haben und irgendwo in einer rauhen
Realität einsam und mutig sind. Möchte das Jahr, das bevorsteht, Sie darin
erhalten und bestärken.
Immer
Ihr:
Rainer Maria Rilke |
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