Freitag, 30. September 2011

Handls Bücherbeute - Book Haul

H. L. Handl hat ein neues Video, seinen ersten Book Haul, die Büchereinkaufsbeute, in den Driesch Videokanal gestellt; vielleicht finden Sie ihn so lustig wie er.

Schauen Sie mal rein:
http://www.youtube.com/user/Drieschverlag#p/a/u/1/B_jmIZUzbo8

Dienstag, 27. September 2011

Büchereiausflug

Heute fuhr und wanderte ich in die Wiener Hauptbücherei am Urban Loritz-Platz. Ein Gebäude, das besser aussieht, als es den Nutzern dienlich wäre; die Architektur bietet keine Voraussetzungen für einen ernsthaften Bibliotheksbetrieb. Darunter zähle ich unter anderem, dass man ungestört lesen kann. Also kein Lärm. Dass die Besucher die Regeln einhalten und nicht laut quasseln, rufen, kreischen etc.

Aber die Bücherei ist ein Sozialzentrum, in welchem junge und ältere Mütter mit ihren Kindern sich aufhalten. Kinder machen Lärm. Fein. Aber weshalb in der Bücherei? In Wien ist das Gebäude „offen“, das heißt, man hört alles überall. Wenn dann das ungehobelte Benehmen der Ungebildeten hinzukommt, ist man nicht mehr in einer Bibliothek, sondern in einer Lärmstätte.

Manchmal scheint mir, sie wollen der nahen Lugner City Konkurrenz machen: Hauptsache, die Jungen kommen. Die Bücherei holt sie ab, wo sie sind. Sie sind laut.

Eigentlich wollte ich nicht darüber was sagen. Aber es kam halt hoch. Es gibt auch lustige Erlebnisse, auch wenn sie eigen oder laut sind. Als ich bei einem Zeitschriftenregal etwas suche, beginnt ein Mann, über seinen Laptop gebeugt, zu reden. Zuerst vermute ich, er telefoniert. Nein. Er redet mit sich. Aber so laut, dass er alle andern in der Umgebung miteinbezieht. Sehr sozial. Plötzlich klappt er seinen Laptop zu, steht auf und redet noch lauter. Jetzt wird es fast ein Schimpfen. Das ist für mich schwer zu beurteilen, weil er als offensichtlicher Orientale in einer mir fremden Sprache spricht. Die kann leicht schimpfend klingen, während sie nur intensiv ist. Er ist in einem Dialog mit sich. Lauter Abgang. Eine Studierende, die ihn verdutzt, aber ruhig und ohne eine Bemerkung zu äußern, angesehen hatte, blickt ihm, wie ich, nach. Jetzt prustet sie mit einem Lachen los. „Ja, das gibt’s hier und noch vieles mehr.“ Prima, echt lebendig.

Ich suche das WC auf. Einige Frauen im Vorraum. Eine putzt sich umständlich die Zähne. Ihre großen Taschen liegen am Boden. Als sie fertig ist und noch umständlicher ihren Mund spült, beginnt sie zu reden. Mit sich. Das gibt’s doch nicht! Schon wieder. Dort ein Mann, hier eine Frau. Wer als nächstes? Während sie ihre Zahnbürste verstaut, redet sie in einem Schwall von Selbstgespräch weiter, ohne uns andere zu beachten. Wir sind Luft für sie, inexistent. Ich vermute aber, sie rechnet sehr wohl mit unserer Gegenwart, sonst würde sie nicht so laut reden. Zu sich könnte sie doch auch leiser reden? Vielleicht täusche ich mich. In harten Zeiten muss frau anhörend lauter werden.

Ich gehe zum Fotokopierer. Vis-a-vis sitzt eine junge, blonde, bebrillte Frau mit dunklen Strumpfhosen. Es ist heiß. Draußen und drinnen. Sie hat die Beine übereinander geschlagen. Sie liest konzentriert. Ihr gegenüber sitzt ein junges Mädchen, die jetzt aufsteht, seine Sachen zusammenklaubt und abgeht. Ein Junge setzt sich in den Sessel und blickt konzentriert auf die ihm gegenübersitzende Strumpfhosendame, die liest. Er beginnt zu lesen, aber, wie ich sehe, während ich das Buch zum Kopieren umlege, äugt er gierig auf ihren Schenkelansatz. Schöne Lektüre.

Zwei Jugendliche kommen den Gang entlang und reden überlaut. Englisch oder Amerikanisch. Auch sie sind so sozial, dass sie niemanden von ihrem Mitteilungsbedürfnis ausschließen. Einfach nett hier.

Als ich meine Kopien habe, verlasse ich die Bildungsstätte und trete auf den Vorplatz. Dort ist es, bis auf den Straßenverkehr, leiser als in der Bücherburg. Im Moment zumindest grölt kein Besoffener, kotzt kein Junky, wimmert kein geschlagenes Kind, kreischt keine Nervöse. Fast unwirklich für eine Großstadt.

Montag, 26. September 2011

Das Gesicht des Bösen



Mit The Smurfs hat Sony ein schönes, buntes, nicht so spannendes, vorhersehbares, überlanges Werbevideo gedreht. Während des Screenings habe ich mich gewundert, dass Schleichwerbung gar nicht so dahin schleicht, sondern manchmal in Minutenlänge hingezogen wird; das Drehbuch scheint für das Produkt geschrieben zu sein. Pure product placement!
So werden die beliebten Schlümpfe widerliche Werbeikonen. Süße blaue Charaktere werden von den Schatten von Babylon entstellt. Gut, der Junior war begeistert. Auf die frage wie viele punkte vergeben sie für das Film von 1 bis 10, haben sie geantwortet 1024 und 100546. Wenigstens er und sein Freund haben sich amüsiert (2:1) , während ich zähneknirschend eingeknickt bin. Die Begeisterung hielt an, bis wir in einer bekanten "Burger Bar" das neue Spielzeug Nummero 4 erwarben für die nächsten 3D-Abenteuer.

Samstag, 24. September 2011

Vom positiven Wahnsinn

Nur 318 000 Einwohner hat Island, doch der Schriftstellerverband zählt 400 Mitglieder, von denen 70 von ihrem Schreiben leben können. Auf 1000 Isländer kommen jedes Jahr im Schnitt 5 Neuerscheinungen. Zum Vergleich: Die deutsche Buchproduktion müsste mehr als viermal so hoch sein, um eine ähnliche Relation zu erreichen.

Zitat aus:

Lauter Büchernarren
Islands Auftritt an Frankfurts Buchmesse
Joachim Güntner, NZZ, 24. September 2011

Donnerstag, 22. September 2011

Was ist die effizienteste Kommunikationssprache?

Ein Team von Sprachwissenschaftlern der Universität Lyon hat sich mit Fragen der Effizienz von Informationsübermittlung in verschiedenen Sprachen beschäftigt. Auch wenn alle menschlichen Sprachen grundsätzlich als gleichwertig angesehen werden – da sie dieselben Ideen vermitteln können –, ist die Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten beachtlich. Drei Forscher des Labors für Sprachendynamik der Universität Lyon und des CNRS haben die Charakteristika von sieben verschiedenen Sprachen analysiert: Französisch, Deutsch, Spanisch, Englisch, Italienisch, Japanisch und Chinesisch (Mandarin), wobei das Vietnamesische als Referenzsprache diente.

Die Forscher haben 60 Muttersprachler gebeten, 20 kurze Texte– von jeweils nicht mehr als fünf Sätzen – in jeder dieser sieben Sprachen zu lesen, mit 6 bis 10 Muttersprachlern pro Sprache. Sie konnten eine allgemeine Tendenz feststellen: Je schneller eine Sprache gesprochen wird, umso weniger Informationen verschlüsselt eine Silbe. Die Studie zeigt ebenfalls auf, dass derselbe Inhalt eine oft sehr unterschiedliche Zeit benötigt, um ausgesprochen zu werden. Die Informationsdichte weist in den verschiedenen Sprachen einen gewissen Harmonisierungsgrad auf: Die Sprachen, die schnell gesprochen werden, wie z.B. das Spanische, enthalten in der Regel weniger Informationen pro Silbe und haben daher eine geringere Informationsdichte.

Im Gegensatz dazu wird eine Sprache wie das Chinesische, die komplexer ist und mehr Informationen pro Silbe verschlüsselt, langsamer gesprochen – eine Korrelation wurde des Weiteren zwischen der Informationsdichte pro Silbe und der Komplexität der Sprachstruktur festgestellt.

Jedoch bleibt die Sprach-Effizienz (die Informationsdichte pro Silbe multipliziert durch die Anzahl der Silben pro Sekunde) letztlich relativ ähnlich – der gemessene Unterschied zwischen dem Spanischen und dem Chinesischen z.B. erhöht sich nur um einige Prozent. Auch wenn das Englische die beste Leistung zu erbringen scheint – obwohl die Daten hier keine endgültige Schlussfolgerung zulassen –, so erzielen alle Sprachen, die dieser Studie unterzogen wurden, einen ähnlichen Effizienzgrad: Nur das Japanische produziert einen eindeutig geringeren Wert, trotz einer sehr hohen Silbenanzahl pro Sekunde.

Kontakt: François Pellegrino - Leiter des Labors für Sprachendynamik -
E-Mail: francois.pellegrino@univ-lyon2.fr

Quellen:
- Die Studie "A Cross-Language Perspective on Speech Information Rate"
finden Sie hier (auf Englisch).

Verlagsführung und Verlagskulturen

Buchwissenschaftler tagen in Mainz

Institut für Buchwissenschaft der JGU ist Gastgeber der Jahrestagung 2011 der Internationalen Buchwissenschaftlichen Gesellschaft (IBG)

Verlagskultur(en) – von Dynastien und ‚Heuschrecken‘“ findet am 11. und 12. Oktober 2011 auf dem Uni-Campus statt und beschäftigt sich mit dem Thema Verlagskulturen und Verlags-Governance aus unterschiedlichen Perspektiven: von der der Verlagsgeschichte über die von Zeitzeugen bis zu der von Investoren und Wirtschaftswissenschaftlern. Abschluss und Höhepunkt wird ein Vortrag des bekannten Verlegers und ausgewiesenen Verlagswelt-Kritikers André Schiffrin mit dem Titel „Saving the word. New structures and new options" bilden.

Verlagsunternehmen werden häufig in besonderer Weise durch Personen und Personenkonstellationen geprägt. Vielfach bestimmen Verleger und ihre Familienangehörigen die Ausrichtung von Verlagen, beeinflussen deren Bild in der Öffentlichkeit und agieren oftmals auch operativ. Nicht selten treten dabei – z.B. beim Generationenübergang – öffentlich wahrnehmbare oder gar ausgetragene innerfamiliäre Konflikte auf, was diese Konstellationen in den Blickpunkt öffentlicher Interessen rücken lässt.

Themen der Mainzer Tagung sind zunächst die mit Familienbesitz bzw. Familienkontrolle verbundenen Chancen und Risiken für Verlage. Es werden, im Hinblick auf Gegenwart und jüngere Geschichte seit 1945, aber auch offensichtliche und weniger offensichtliche Alternativen zum prägenden Einfluss von Familien auf das Handeln von Verlagsunternehmen in den Blick genommen, wie beispielsweis die Übernahme von Verlagen durch Investoren oder Modelle der kollektiven Verlagsführung. Wissenschaftlich-analytische Zugriffe und Fallbeispiele von Betroffenen und Gestaltenden aus der Buchbranche ergänzen sich bei dieser Tagung auf besondere Weise.

Zur Tagung werden ca. 50 Teilnehmer, u.a. aus den USA und aus Korea, in Mainz erwartet, die durch die Terminwahl die Möglichkeit haben, die Tagung mit dem Besuch der Frankfurter Buchmesse zu verbinden. Die Veranstaltung findet am Dienstag, 11. Oktober in der Alten Mensa, Atrium maximum und am Mittwoch, 12. Oktober im NatFak-Gebäude, Senatssaal (7. Stock) statt. Zum Hauptvortrag des französisch-amerikanischen Verlegers André Schiffrin am Mittwoch um 11:30 Uhr (NatFak-Gebäude, Senatssaal, 7. Stock) ist die Öffentlichkeit herzlich eingeladen.

Weitere Informationen:
Univ.-Prof. Dr. Christoph Bläsi
Institut für Buchwissenschaft
Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) D 55099 Mainz Tel. +49 6131 39-36289 Fax +49 6131 39-25487
E-Mail: christoph.blaesi@uni-mainz.de

Tagungsprogramm

Buchpreise - Nach der Longlist die Shortlist

Als ich einen Kollegen fragte, ober er die neue Buchpreis-Shortlist schon kenne, fragte er erstaunt zurück, ob schon wieder neue Verkaufspreise gelten. Für ihn war die Shortlist eine neue Übersichtsliste der geregelten, verbindlichen Buchverkaufspreise. Aber nein, antwortete ich, ich meine die Preisauszeichnungen an Autorinnen und Autoren durch den deutschen Buchhandel. Aha. (Das wäre einen eigenen Artikel wert, über die Zusammenhänge von Buchpreisen und Buchpreisen zu reflektieren. Vielleicht beschäftigt sich einmal ein Leipziger Literaturprofessor, anstatt im Zug oder Flugzeug zu dösen oder mit der Assistentin zu flirten, mit dieser Frage...)

Lesen Sie das informative Stimmungsbild aus dem meinungsbildenden SPIEGEL:

Günter, hol schon mal die Pfeife
Sebastian Hammelehle, DER SPIEGEL, 14.09.2011

Nachtrag vom 23.9.2011:
FEUDALISMUS
Privatisierung & Gutsherrenart
Christian Schlüter, Berliner Zeitung

Nonkonformismus

Im Merkur, nicht dem Lebensmittelmarkt, den bei uns viele kennen, sondern in der Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken, widmet sich die Doppelnummer als Abschiedsausgabe der beiden Herausgeber und Redakteure Kurt Scheel und Karl Heinz Bohrer einem kniffligen Thema:

Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind.


Im Inhaltsverzeichnis kann man einige Beiträge zu Gratislesen oder Runterladen finden.

In der TAZ vom 19.9.2011 ist ein von Jan Feddersen geführtes Interview mit Kurt Scheel zu finden, worin man schon eine Kostprobe von seinem Nonkonformismus erfährt:

Kurt Scheel über Europa und das Rauchen

"Denken muss sein wie ein Foxterrier"
Kurt Scheel war dreißig Jahre Redakteur und Herausgeber des "Merkur". Nun hört er auf - mit einem Heft über "Nonkonformismus".



Mittwoch, 21. September 2011

Handke schon wieder nicht preiswürdig fürs Establishment

Eklat um Ehrung von Peter Handke Falscher Kandidat

Kaum eine Preisvergabe ist riskanter als die an Peter Handke. Das musste nun auch der Literarische Verein der ostwestfälischen Stadt Minden erfahren, der den österreichischen Schriftsteller mit dem Candide-Preis ehren wollte. Doch der Alleinsponsor ließ die Prämierung platzen - wegen der vermeintlichen Nähe des Laureaten zum früheren Serbenführer Slobodan Milosevic.

Christopher Schmidt, Süddeutsche Zeitung, 21.09.2011

Vgl. auch: Die Düsseldorf-Affäre, Kolumne "Wort zum Sonntag" vom 4.6.2006 von Haimo L. Handl

Vgl. auch die Review:

Peter Handke’s wilful controversies
Ben Hutchinson, The Times Literary Supplement, 23 August 2011
Review of: Malte Herwig: MEISTER DER DÄMMERUNG. Peter Handke: Eine Biographie. 364pp. Munich: DVA. €22.99. 978 3 421 04449 5

Sonntag, 18. September 2011

Nachkriegsgeneration - kaputte Generation

Generation Kaputt

Der Filmregisseur Oskar Roehler, Kind der Gruppe 47, zerstört mit seinem Roman "Herkunft" den Mythos von der ach so anspruchsvollen deutschen Nachkriegsliteratur (mit Hieben auf die Gruppe 47)

Tilman Krause, DIE WELT, 17.09.2011

Samstag, 17. September 2011

traduire - retraduire ...

Translation: an impossible art?

'The rules for using tu and vous in French are a minefield that is almost impossible to sweep'

David Bellos, guardian.co.uk,

Freitag, 16. September 2011

Wiener Strassenkünstlerfestival


http://www.youtube.com/watch?v=kepHt2CR-mk&feature=player_embedded

Ich war heute dort. So wie das Festival von Avignon ist es natürlich noch nicht, trotzdem hat mir sehr gut gefallen. Abgesehen davon, dass die Ursula Stenzl die Straßenkünstler verjagt hat, und der erste Bezirk mit Langweile belegt, komme ich drauf, wie sehr mir die die Straßenkünstler fehlten. Als ich nach Wien gekommen bin, vor 20 Jahren, bin ich oft durch den ersten Bezirk spazieren gegangen nur ihretwegen. Hab ich mich hingesetzt und war begeistert vom Großstadtflair in lauwarmen Sommernächten.
Zurück zum Thema: Ich möchte das Fest gerne Leuten empfehlen, die Kinder haben. Es gibt jede Menge zum Bestaunen für die 5 bis 10 Jährigen!

2 Texte von Sigmund Freud


Zwei Arbeiten des Wiener Psychoanalytikers zur Literatur (als pdf abrufbar):

How a biography shouldn't be

New Statesman

The Inner Man: the Life of J G Ballard

Published 12 September 2011
A model for missing the point of biography.
Crash test dummy
John Gray about the unauthorised biography by John Baxter, Weidenfeld & Nicolson, 400pp, £20








Donnerstag, 15. September 2011

Bankster = Gangster

We should learn from language:

Banker = Bankster = Gangster

When are there new novels abot banksterism?

Dienstag, 13. September 2011

Celans späte Poesiefeindlichkeit

In Ergänzung des Beitrags "Die fatale Art eines Nihilismus, gepaart mit unbändigem Hass" hier ein Zitat aus dem "Gespräch mit Klaus Demus über Paul Celan" von Anja S. Hübner und Detlev Schöttker, SINN & FORM 63(2011)4:475-481

Schöttker: Aber Sie waren doch ungeheuer fasziniert von seinen Gedichten, geradezu magisch angezogen, wie die Briefe zeigen.

Demus: Von seiner Sprache und von seinem dichterischen Genie! Aber sein Gedichtbegriff war für mich nicht verbindlich. Es gab bei ihm, auch wenn er das bestritten hat, einen Zusammenhang mit dem Surrealismus. Und der leugnet ja die Bindung an die Wirklichkeit.

(...)
Hübner: Celan hatte in Wien auch Kontakt zu dem Maler und Grafiker Edgar Jené. 1948 schrieb er den Beitrag "Edgar Jené und der Traum vom Traume" für einen Band mit dessen Lithographien.

Demus: Celan und Jené hatten keine enge Verbindung, obwohl er eine Zeitlang bei den Jenés wohnte. Celan hat nachher die Jené-Graphik aus den Exemplaren von "Der Traum vom Traume" herausgerissen, wenn er sie verschenkt hat. Er wollte sich damit nicht einig zeigen.

(...)
[Zur Begegnung von Heidegger und Celan:]
Demus: Das "Todtnauberg"-Gedicht wird bis jetzt falsch gedeutet. Der Celansche Text ist meiner Überzeugung nach nichts als das schlichte Denkmal einer Begegnung, das die wenigen Einzelheiten, die es gab, als gemeinsam beschrittenen Weg festhalten will – ohne doppelbödige Tendenz. Aber man hat ja sogar die "Knüppelpfade" als KZ-Anspielung deuten wollen! Hierfür gilt doch wohl: "Honni soit qui mal y pense!" Außerdem ist es lächerlich.

(...)
Hübner: War Ihnen und Celan bewußt, welche Bedeutung die "Todesfuge" bekommen sollte, nachdem das Gedicht Ende der vierziger jahre erstmals auf Deutsch gedruckt worden war? In den sechziger jahren wurde es eines der bekanntesten Gedichte überhaupt.

Demus: Nein, das war uns zunächst nicht bewußt. Celan konnte das Gedicht später nicht mehr ausstehen. Es ist hochgespielt worden.Wir haben Celan sehr oft die "Todesfuge" sprechen hörten, aber schließlich hat er gesagt: "Nicht die 'Todesfuge', es ist kein gutes Gedicht."

(...)
Schöttker: Es kommt in den Briefen zum Ausdruck, daß Sie die Veränderungen in der Lyrik Celans mit seiner Krankheit in Verbindung gebracht haben.

Demus: ja, seit dem Band "Niemandsrose" von 1963. Seither habe ich Celans Gedichtbegriff nicht mehr anerkennen können. Er hatte sich sehr verändert. Die einzigartige Liebenswürdigkeit, die sich bis dahin auch in seiner Lyrik ausgesprochen hatte, wich einer ganz anderen Haltung, die ich jetzt gar nicht charakterisieren will. Jedenfalls habe ich dies als poesiefiendlich empfunden.

________________________________________________________________

Celan, das geht aus den zitierten Stellen hervor, konnte also sehr resolut sein. Wie hätte er reagiert, wenn jemand aus einer Zeitschrift, in der Gedichte von ihm abgedruckt sind, just diese herausgerissen hätte, bevord er sie verschenkt?

Celan war liebenswürdig.

Celan litt an Paranoia und sah sich überall von Feinden umgeben. Viele Freundschaften zerbrachen deshalb. Trotzdem ist der Hinweis auf Auswirkungen dieser Krankheit auf sein Werk öffentlich nicht (sehr) bekannt. Demus' Urteil, er habe das Spätwerk "poesiefeindlich" gefunden, verdient näher untersucht zu werden.

Unabhängig davon, deshalb habe ich diesen Text als Ergänzung notiert, wird aber aufgezeigt, dass er später in "einer ganz anderen Haltung" schrieb. Hierin sehe ich eine Nachbarschaft zur hassenden Jelinek, obwohl ihr Hass keiner Paranoia entspringt (soweit öffentlich bekannt). Die Wahrscheinlichkeit, dass seine dunklen Gedichte eingefärbt sind vom Verfolgungswahn, von der generellen Feindsicht (Max Frisch war ihm ein Nazi ebenso wie René Char, um nur zwei prominente zu nennen), klingt plausibel. Dass sie wie Gebete, wie Heiliges verehrt werden, entspricht nicht nur der eigentümlichen Rezeptionshaltung, sondern auch den Texten.

Bemerkenswert auch die Anmerkung zur gängigen, falschen Deutung am Beispiel von "Todtnauberg". Das ließe sich auf viele andere Gedichte übertragen. Ein Beleg mehr für die Gewalt der herrschenden Rezeptionshaltung.

Montag, 12. September 2011

Die fatale Art eines Nihilismus, gepaart mit unbändigem Hass

Lektüreanmerkung mit nachdenklicher Erweiterung:
 
„In seinen Versen war keine Bejahung der Welt, jene Bejahung, die wir in dere Kunst als Sympathie des Künstlers zum Dargestellten, sei es ein Apfel oder ein Baum, herausfühlen. Sie offenbarten nur eine tiefe Störung des Gleichgewichts. Die Kunst lässt uns manches ahnen. Die Welt Bachs oder die Welt Breughels war geordnet, hierarchisch geschichtet; die moderne Kunst enthält viele Beispiele blinder Leidenschaft, die an Formen, Farben und Tönen sich nicht sättigen kann. Die sinnliche Betrachtung des Schönen ist nur möglich, wenn der Künstler Liebe fühlt zu der ihn umgebenden Welt. Wenn er aber nur Ekel empfindet, dann hält es ihn an keinem Ort, und er wird unfähig, sich umzusehen. Er schämt sich jeder Liebesregung, er ist verurteilt zu ständiger Bewegung und nur skizzenhaftem Festhalten von Brocken der beobachteten Natur. Er gleicht dem Nachtwandler, der nur so lange das Gleichgewicht bewahren kann, als er geht. Die Bilder, die Beta gebrauchte, waren ein wirbelnder nebel, und vor dem völligen Zusammenbruch rettete ihn nur der trockene Rhythmus des Hexameters. Diese Eigenart seiner Dichtung kann man zum Teil seiner Zugehörigkeit zu einer unglücklichen Generation und zu einem unglücklichen Volk, zuschreiben.“
Czesław Miłosz: Verführtes Denken. S. 119f

Mit dem Decknamen „Beta“ ist Tadeusz Borowski (1922-1951) gemeint.
Czesław Miłosz (1911-2004) erhielt 1980 den Nobelpreis für Literatur.

„Das Erlebnis des Konzentrationslagers hat aus Beta einen Schriftsteller gemacht. Er entdeckte, dass sein eigentliches Gebiet die Prosa sei. In seinen Erzählungen ist Beta ein Nihilist. Unter Nihilismus verstehe ich aber nicht Amoralität. Im Gegenteil, er entspringt ener ethischen Leidenschaft, es ist die enttäuschte Liebe zur Welt und zu den Menschen. Beta will in seinen Beschreibungen bis ans Ende gehen, er will die Welt genau darstellen, in der für Empörung kein Platz mehr ist. Die Spezies Mensch steht in Betas Erzählungen nackt da, entkleidet von allen guten Gefühlen, die nur so lange andauern, als die Sittlichkeit der Zivilisation andauert. Die Sittlichkeit der Zivilisation ist zerbrechlich. Es genügt ein plötzlicher Wechsel der Lebensbedingungen, und die Menschheit kehrt in den Urzustand der Wildheit zurück.“
S. 127

„Viele hervorragende Autoren, wie Swift, Stendhal oder Tolstoj, haben in ihren Werken politische Leidenschaften ausgedrückt. Man darf sogar sagen: Dank der politischen Leidenschaft, h. h. dank einer wichtigen Wendung, die der Schriftsteller seinen Lesern mitteilen will, gewinnt das Werk an Kraft. Der wesentliche Unterschied zwischen den großen Schriftstellern, die die politischen Einrichtungen ihrer Zeit kritisierten, und den Schreibern vom Typus Beta scheint auf dem völligen Non-Konformismus der ersteren zu beruhen; sie standen im Gegensatz zu ihrer Umgebung, während Beta, wenn seine Feder übers Papier eilt, schon den Beifall der Parteikollegen hört.“
S. 134

Als ich diese Zeilen wieder las, stieg in mir unwillkürlich das Bild der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hoch. Sie ist eine, die für ihren tiefen Hass, ihre Zorn- und Wuttiraden bewundert, akklamiert und bezahlt wird. Sie schüttet Geifer auf die Österreicher, die fast alle in ihren Augen Nazis sind, inhumane Monster. Sie wütet gegen die Männer. Das Wüten hat seine Gründe, wird aber durch die Maßlosigkeit entwertet, gewinnt selbst Züge dessen, was sie kritisiert. Sie ist, wie Borowski, so eindimensional eingenommen von IHRER Sicht, IHRER Wut, dass sie nichts Anderes mehr wahrnehmen kann, als das alte Hassobjekt, das sie permanent füttert und pflegt. Eine Leiderin. Dankenswerter Weise schreibt sie nur. Würde eine Person mit diesem Hass in mächtigen Handlungspositionen walten, gewänne die Barbarei, gegen die sie anschreibt, reale Gewalt.

Diese Schriftstellerin richtet sich primär an ein ideales Publikum. Wie Beta, also Borowski, hat sie aber auch treue Leser, die als Jünger und Schwestern an ihren Lippen hängen, die ihr stets Beifall zollen. „“Während Beta, wenn seine Feder übers Papier eilt, schon den Beifall der Parteikollegen hört“ – das ist plausibel auf Jelineks Position und Funktion zu überragen: Der scheinbare Non-Konformismus, die extreme Kritik hat ihren wohlfeilen Platz in der Gesellschaft, erfüllt in ihr eine wesentliche Funktion, wofür sie sich des Beifalls sicher sein darf.  

Je länger ich den Zeilen von Miłosz folge, desto stärker packt mich ein Schrecken. Ich empfehle jedem, der am Totalitären, Barbarischen und allem was dazu führt oder was dessen Ausdruck ist Interesse hat, dieses Buch zu lesen, nicht nur wegen des Beta und Seinesgleichen, sondern wegen der minuziös dargestellten Geschichte der Zusammenhänge, Hinter- und Abgründe, die zum verführten Denken (und Handeln) führten und führen.


Sonntag, 11. September 2011

The books business

Great digital expectations
Digitisation may have came late to book publishing, but it is transforming the business in short order
The Economist, September 10, 2011

Once the industry reacts to assumed consumer habits by such pace, one can measure the seriousness of the changes.

Samstag, 10. September 2011

Schreiben & Bildung & Auftrag

Zwei alte Sichten zu Fragen der Bildung und des Schreibens:

„Wenn Sie nur wüßten, welch tiefe Abneigung Europa während dieser vier Jahre in mir hervorgerufen hat. Mein Gott, was für Vorurteile bei uns in Russland über dieses Europa herrschen! Sind denn diese Russen nicht kindisch, wenn sie glauben, dass der Preuße durch seine Schulen gesiegt habe?... Noch eine Beobachtung: hier kann das ganze Volk schreiben und lesen, aber es ist unglaublich ungebildet, dumm und stumpf und verfolgt die niedrigsten Interessen.“
Dostojewski in einem Brief 1871 an Maikow

Gut schreiben lernen. — Die Zeit des gut-Redens ist vorbei, weil die Zeit der Stadt-Culturen vorbei ist. Die letzte Gränze, welche Aristoteles der grossen Stadt erlaubte — es müsse der Herold noch im Stande sein, sich der ganzen versammelten Gemeinde vernehmbar zu machen —, diese Gränze kümmert uns so wenig, als uns überhaupt noch Stadtgemeinden kümmern, uns, die wir selbst über die Völker hinweg verstanden werden wollen. Desshalb muss jetzt ein Jeder, der gut europäisch gesinnt ist, gut und immer besser schreiben lernen: es hilft Nichts, und wenn er selbst in Deutschland geboren ist, wo man das schlecht-Schreiben als nationales Vorrecht behandelt. Besser schreiben aber heisst zugleich auch besser denken; immer Mittheilenswertheres erfinden und es wirklich mittheilen können; übersetzbar werden für die Sprachen der Nachbarn; zugänglich sich dem Verständnisse jener Ausländer machen, welche unsere Sprache lernen; dahin wirken, dass alles Gute Gemeingut werde und den Freien Alles frei stehe; endlich, jenen jetzt noch so fernen Zustand der Dinge vorbereiten, wo den guten Europäern ihre grosse Aufgabe in die Hände fällt: die Leitung und Ueberwachung der gesammten Erdcultur. — Wer das Gegentheil predigt, sich nicht um das gut-Schreiben und gut-Lesen zu kümmern — beide Tugenden wachsen mit einander und nehmen mit einander ab —, der zeigt in der That den Völkern einen Weg, wie sie immer noch mehr national werden können: er vermehrt die Krankheit dieses Jahrhunderts und ist ein Feind der guten Europäer, ein Feind der freien Geister.
Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, 2. Band, Der Wanderer und sein Schatten

Montag, 5. September 2011

Liao Yiwus "Massaker"

Drei kurze Absätze aus dem Artikel von Detlev Claussen, Süddeutsche Zeitung, 19.07.2011 über Liao Yiwu unter dem Titel „Todesfuge auf chinesisch“

Held wider Willen: Der Schriftsteller Liao Yiwu hat sich nach Deutschland abgesetzt, jetzt erscheint sein umwerfender Bericht aus dem chinesischen Gulag. Das Verbot seines literarischen Gefängnisberichtes umging er durch die Flucht aus der Heimat.

"Massaker" liest sich wie eine Todesfuge auf Chinesisch; es ist der universal verständliche Schrei der gequälten chinesischen Kreatur im Würgegriff des kommunistischen Leviathan. Im Jahr 1989 endete das Short century, ein Jahrhundert der Grausamkeit und zugleich des beispiellosen Anstiegs globalen Wohlstands. Man muss wirklich kein Chinesisch können, um Liaos Literatur zu begreifen, ebenso wie man kein Deutsch können muss, um Celans "Todesfuge" zu verstehen. Aber es hilft ungemein, wenn man sich die Welt vor Augen führt, die diese Aufschreie hervorgebracht hat.

Um aber Liaos Gedichte zu verstehen, braucht man gar nichts zu wissen. Sie wirken unmittelbar, herzzerreißend und niemals sentimental. Ja, es ist möglich, nach dem 4. Juni Gedichte zu schreiben, wenn sie den Schrei der Gequälten artikulieren. Auch Celan musste die "Todesfuge" schreiben, die er als "Todestango" vorgetragen hat, bevor sie von Feuilletonisten und Deutschlehrern sakralisiert wurde - sie ist aus sich heraus geschrieben, nicht um Ruhm zu erwerben, sondern ebenso ein Schrei wie "Massaker".
Soweit Detlef Claussen.


Dazu gäbe es viel anzumerken. Hier sollen nur drei Aspekte hervorgehoben werden: Die Etikettierung "Todesfuge auf chinesisch", die Behauptung, dass die Sakralisierung von Paul Celans Werk durch Feuilletonisten und Deutschlehrer geschah sowie die Bemerkung, zum Verständnis von Liaos Literatur brauche man „gar nichts zu wissen“. 

Nicht nur die „Todesfuge“, schier das Gesamtwerk von Paul Celan ist sakralisiert und damit über jede Kritik erhaben erhoben worden. Der unselige Vorgang ist das Resultat einer völlig unkritischen Rezeption, die dank der damaligen historischen Bedingungen einlud, diesen Dichter und seine Dichtungen zu überhöhen, weil er Dunkles, Symbolisches lieferte und einen Schauder von Schuldeinkenntnis und Abarbeitung ermöglichte, andererseits positiv für eben diese moderne Form von Kulturarbeit (Rezeption) zu instrumentalisieren war.


Diese Sakralisierung geschah natürlich durch Vermittler, seien es Journalisten oder Kritiker bzw. auch Lehrer. Aber Paul Celan war daran nicht nur nicht unbeteiligt, sondern sehr rührig in seiner gezielten Mythenpflege. Erst nach den Veröffentlichungen verschiedener Briefwechsel lässt sich belegen, dass das Opfer, als welches er litt und sich leidend hinstellte, weder einsam war, noch lebensfremd; er pflegte Affären und Beziehungen mit mehreren Frauen, nutzte diese Kontakte für sein Ego, und äußerte sich, manchmal, für uns hintennach Lesende oft wie ein Ausfluss eines Verfolgungswahn scheinend, extrem bitter, zornig, verletzend, vorurteilend, aburteilend über die vielen Nazis und Antisemiten, die ihm unrecht taten, sein Werk schändeten. 


Eine solche Schändung nennt er in einem Brief an Ingeborg Bachmann vom 12.11.1959 zu einer Rezension bzw. Kritik von Günter Blöcker hinsichtlich seiner „Todesfuge“:
„Du weißt auch – oder vielmehr: Du wusstest es einmal –, was ich in der Todesfuge zu sagen versucht habe. Du weißt – nein, Du wusstest – und so muß ich Dich jetzt daran erinnern –, dass die Todesfuge auch dies für mich ist: eine Grabschrift und ein Grab. Wer über die Todesfuge das schreibt, was dieser Blöcker darüber geschrieben hat, der schändet die Gräber.“ 


Über den Grabschänder Blöcker ließ Celan sich nochmals aus. Auch andere kamen dran, wenn auch mit anderen Aburteilsetiketten. Daraus ist ersichtlich, dass Celan selbst gewisse Gedichte nicht als Gedicht sah, sondern als heilige Grabinschriften. Zwar meint er, sie sei „auch“ eine Grabinschrift. Aber aus seiner Bewertung spricht die eindimensionale Auffassung, die das andere Mögliche neben dem „auch“ negiert, weil das „auch“ alles beansprucht und damit das Urteil spricht. Damit wird der Text ins Sakrale gehievt, dogmatisch durch Celans Deutungshoheit festgelegt und jeder Interpretation, und damit jeder Kritik, enthoben. Missversteht jemand seine Gedichte, sein literarisches Werk, als Literatur, ist er ein Schänder. Dass dies nicht erkannt und sofort zurückgewiesen wurde, diese schreckliche Anmaßung, zeigt, wie unkritisch, wie unterwürfig, wie blind die Haupttendenz der damaligen Rezeption war. 


Dichter, die keine Gedichte schreiben, die ihr Privatestes veröffentlichen, nicht aber der Öffentlichkeit das selbstverständliche Recht der eigenen Deutung und Kritik zubilligen, sind eigentlich Täuscher. 


Sein Schmerz sei ihm unbenommen, auch seine Grabinschriften. Aber warum sie dann als Gedichte, als Literatur veröffentlichen? Hielt er es nicht aus, privat zu bleiben, die Grabinschrift als solche auszugeben? 

Deshalb finde ich Detlev Claussens Vergleich von Liao Yiwus „Massaker“ mit der „Todesfuge“ falsch und untauglich, ja schädlich. Es ist nur zu hoffen, dass Liao Yiwus Werk so eine verzerrte Rezeption erspart bleibt, wie sie Celan schier erzwang. Nein, das „Massaker“ ist keine chinesische Todesfuge. Es ist ein eindrückliches Poem, das uns – gerade deshalb – erreicht und betrifft (betroffen macht).
Im Briefwechsel von Paul Celan mit Ingeborg Bachmann ist nachzulesen, wie sehr sie bedauerte, dass offenbar Celan jede positive Regung und Aufnahme seiner Gedichte geflissentlich übersah oder anders deutete, wie sehr er also seine Opferrolle pflegte. Das muss in der Beurteilung des Sakralisierungsprozesses mitberücksichtigt werden. 


Nun zum Verständnis von Literatur, sei es solche von Celan oder solche von Liao. Jedes literarische Verständnis ist mehr als Sprachbeherrschung der Sprache, in welcher die Literatur verfasst oder in welche sie übersetzt ist. Klar muss man nicht Chinesisch können. Es reicht die Übersetzung. Jeder, der die Übersetzung liest, weiß, dass es nicht das Original ist. Trotzdem vermittelt die Übersetzung etwas vom Werk. Wenn dem nicht so wäre, müsste man das Übersetzen einstellen und die Werke nur den Sprachkundigen überlassen. 


Anders sieht es mit dem „Wissen“ aus. Gibt es Universalien? Die „Todesfuge“ hat ein präzises Denotat: sie ist Grabinschrift. Sie ist kein Gedicht. Auch als Gedicht zeigt der Text klare Referenz: Was sein Inhalt bildet, ist nicht „universal“, sondern deutsch, der Tod, der ein Meister aus Deutschland ist. Alle Kritik vom Überlebenden Paul Celan orientiert sich und richtet sich auf und am Holocaust, den Nazis. Das Grauen ist präzise umschrieben, genau adressiert. Frühere Deutungsversuche, sie zu „universalisieren“, wurden als Angriff auf das Opfergedenken, als Bagatellisierung der Nazibarbarei und Ähnliches abgeurteilt. Celans Werk lebt von dieser Ausrichtung. 

„Massaker“ ist eine Antwort auf die chinesische Barbarei im Juni 1989. Es ist also ebenfalls adressiert und zeitbezogen. Aber es bindet sich nicht in einer präferierten Deutung. Noch wird keine Deutungshoheit angemeldet und verfolgt, wiewohl die Reaktionen des chinesischen Staates als eine Seite einer Deutung verstanden werden können. Der Unterschied von Liao und Celan liegt auch darin, dass Liao IN der Zeit zur Zeit und zur Barbarei schrieb, weswegen er verfolgt wurde. Celans Hauptwerk wurde NACH der Zeit und ihrer Barbarei geschrieben, wofür er nicht verfolgt wurde, obwohl er Kritik daran als Verfolgung sah. 


„Massaker“ wäre ohne die brutale Niederschlagung der Demonstrationen nicht entstanden. Aber es lebt weiter. Es ist nicht sakralisiert worden. Es bleibt Literatur. Deshalb ist es keine „Todesfuge“.
Aber ist dieses Poem ohne jedes Wissen adäquat zu lesen? Das ist zu bezweifeln. Natürlich kann man alles unbedarft lesen. Sozusagen „werkimmanent“. Aber wer Kontextinformationen hat, über die Gesellschaft, die Ereignisse und das Umfeld des Autors bzw. über ihn selbst, kann sein Verstehen erweitern und vertiefen. Denn jedes noch so direkt bezogene Gedicht geht, wenn es denn ein Gedicht von Wert ist, über sich oder das Bezogene, Referierte, den Anlass hinaus. Darin mag dann das liegen, was manche „universal“ oder „universell“ nennen. 





Freitag, 2. September 2011

A British view on the literary canon

Literature and the psychology lab
Gregory Currie, TLS 31 Agusut 2011

Here’s a suggestion about how to read the literary canon: treat it as an exercise in pretence.

Donnerstag, 1. September 2011

Semprun – Der Schriftsteller

Im privaten Gespräch hat Jorge Semprún im Jahr 2005 einmal geklagt: Sein neues Buch "Zwanzig Jahre und ein Tag", das zur Franco-Zeit in Spanien spielt, habe in Frankreich auf Anhieb nur eine Auflage von 30.000 Exemplaren erzielt. Er fand das enttäuschend: "Wenn ich über Buchenwald schreibe, dann werden ganz schnell mindestens 60.000 Exemplare verkauft. Woran liegt es, dass meine Bücher, die nicht von Buchenwald handeln, sich schlechter verkaufen?" (...) Er wollte als Schriftsteller anerkannt werden, nicht als Überlebender.


So schreibt Franziska Augstein in ihrem Nachruf auf Jorge Semprún (Süddeutsche Zeitung, 8.6.2011)

Von derselben Autorin erschien 2008 bei Beck ihr Buch:

Von Treue und Verrat
Jorge Semprún und sein Jahrhundert
2008. 381 S.: mit 32 Abbildungen. Gebunden
C. H. Beck ISBN 978-3-406-57768-0

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Ein Autor kann die Rezeption seines Werkes, wenn überhaupt, nur gering beeinflussen. Oft überwiegen außerliterarische Kriterien, oft vermengen sich diese mit literarischen. Oft wirkt die Ideologie der Zeit extrem stark. Semprún verdient es, primär als Schriftsteller gelesen zu werden, erst danach als Zeuge.

Nach seinem eigenen, etwas altmodischen Verständnis eines Dichters order Schriftstellers sah er sich selbst nicht als "echten" Schriftsteller, ganz einfach, weil nichts ihn treibe. Er war kein Getriebener. Aber gerade deswegen war er freier. Nur einem Freien steht die Wahl zu. Ein Getriebener, einer, der gar nicht anders als schreiben, weil er MUSS, schreibt wie ein Süchtiger, das heisst, ohne Wahl. Er gibt einer inneren Sucht, einem Drang, einem Trieb nach. Gerade seine Abhängigkeit als Getriebener führt zu seinen Eergüssen. Dass diese von einer verbildeten Leserschaft als geniale Produktionen mehr geschätzt werden, als die Produktionen des frei oder freier Handelnden, wirft ein bezeichnendes Licht auf das Publikum und seine alten, verbohrten Ansichten. Rudimente eines unbewältigten Geniekults, obsolet und peinlich.

Getriebene sollten uns verdächtig sein. Gut, dass Semprún keiner war.