Sonntag, 5. Februar 2012

75. Todestag von Lou Andreas-Salomé

Lou Andreas-Salomé – geborene Louise von Salomé; gelegentliches Pseudonym „Henry Lou“ – (12. Februar 1861 in St. Petersburg - 5. Februar 1937 in Göttingen), war eine weitgereiste Schriftstellerin, Erzählerin, Essayistin und Psychoanalytikerin aus russisch-deutscher Familie. Die Art ihrer persönlichen Beziehungen zu prominenten Vertretern des deutschen Geisteslebens – in erster Linie zu Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud – war und ist bis heute Gegenstand unterschiedlicher Interpretationen.

Wikipedia

Lou Andreas-Salomé - Internetseite

H. Walther:  Die Lou-Episode: Friedrich Nietzsche, Paul Rée und Lou Salomé

MedienEdition Welsch zu LAS

Lou Andreas-Salomé:Fenitschka. Eine Ausschweifung (1898)

Hinweise zum Text hier


Auszug des Beginns:


Es war im September, der ſtillſten Zeit des Pariſer Lebens. Die vornehme Welt ſteckte in den Seebädern, die Fremden wurden ſcharenweiſe von der drückenden Hitze vertrieben. Trotzdem drängte ſich an den ſchwülen Abenden auf den Boulevards eine ſo vielköpfige Menge, daß ſie der Hochſaiſon jeder andern Stadt immer noch genügt hätte.
Max Werner flanierte nach Mitternacht über den Boulevard St. Michel, als er in eine kleine Geſellſchaft ihm bekannter Familien hineingeriet. Sie hatten mit durchreiſenden Freunden ein Theater beſucht, und wollten nun dieſen Herren und Damen ein wenig „Paris bei Nacht“ zeigen, — nämlich erſt in einem charakteriſtiſchen Nachtcafé des Quartier latin einkehren, und dann, im Morgengrauen, um die Stunde, wo die Stadt ſchläft, den intereſſanten Trubel bei den Hallen betrachten, wenn der verödete Platz ſich mit den Marktleuten belebt, die ihre Waren vom Lande einfahren und ſie ausbreiten.
Nach einigem Zögern und Schwanken von ſeiten der Damen entſchied man ſich für das Café Darcourt, das um dieſe Stunde ſchon überfüllt war mit den Griſetten und Studenten des Quartiers, und beſetzte ein paar der kleinen Marmortiſche draußen, die auf dem Trottoir, mitten unter den Paſſanten, an den weitgeöffneten, hellerleuchteten Fenſtern entlang ſtanden.
Max Werner kam neben eine junge Ruſſin zu ſitzen, die er zum erſtenmal ſah, — ihren langklingenden Namen überhörte er bei der Vorſtellung, doch wurde ſie von den anderen einfach als „Fenia“ oder „Fenitſchka“ angeredet. In ihrem ſchwarzen nonnenhaften Kleidchen, das faſt drollig unpariſeriſch ihre mittelgroße ganz unauffällige Geſtalt umſchloß, und eine beliebte Tracht vieler Züricher Studentinnen ſein ſollte, machte ſie zunächſt auf ihn keinerlei beſonderen Eindruck. Er muſterte ſie nur näher, weil ihn im Grunde alle Frauen ein wenig intereſſierten, wenn nicht den Mann, dann mindeſtens den Menſchen in ihm, der ſeit einem Jahre doktoriert hatte, und nun ein brennendes Verlangen beſaß, in der Welt der Wirklichkeit praktiſch Pſychologie zu lernen, ehe er von einem Katheder herab welche las: was ihm einſtweilen noch keine begehrenswerte Zukunft ſchien.
An Fenia fielen ihm nur die intelligenten braunen Augen auf, die jeden Gegenſtand eigentümlich ſeelen-offen und klar — und jeden Menſchen wie einen Gegenſtand
— anſchauten, ſowie der ſlaviſche Schnitt des Geſichtes mit der kurzen Naſe: einer von Max Werners Lieblingsnaſen, die da vernünftigen Platz zum Kuſſe laſſen, — was eine Naſe doch gewiß thun ſoll.
Aber dieſes gradezu blaß gearbeitete, von Geiſtesanſtrengungen zeugende Geſicht forderte ſo gar nicht zum Küſſen auf.
Anfangs ſprachen ſie kaum miteinander, denn im Innern des Lokals, neben demſelben Fenſter, an deſſen Außenſeite ſie ſaßen, ſpielte ſich eine erregte Scene ab, die aller Aufmerkſamkeit auf ſich zog. Dort befanden ſich zwei Pärchen am Tiſch, die ihre Unterhaltung mit Scherzreden und Neckereien begannen, und damit endeten, ſich fürchterlich zu zanken.
Das eine der beiden Mädchen — wenig ſchön und am Verblühen, aber trotzdem ein unverwüſtlich graziöſes Pariſer Köpfchen — wurde ſchließlich vom Gegenpaar mit einer Flut häßlicher Schmähreden überſchüttet, ohne daß ihr eigner Begleiter ihr auch nur im mindeſten beigeſtanden hätte. Vielmehr ſtimmte er bei jedem erneuten Angriff johlend in das brutale Gelächter der beiden andern ein, das ſich bald auch auf die benachbarten Tiſche fortpflanzte, wo neben den erhitzten halbbezechten Männern die geputzten Genoſſinnen des mißhandelten Geſchöpfs mit lärmender Schadenfreude ihre Konkurrentin niederjubelten.
Durch die ſchwere, dumpfe, vom Tabaksrauch und vom Dunſt der Menſchen, Gasflammen und Getränke erfüllte Luft des Lokals ſchallten die rohen Stimmen
laut bis zu dem Tiſch draußen hinüber, an dem es ganz ſtill geworden war. Auf den Geſichtern der Damen prägten ſich deutlich Mitleid, Ekel, Entrüſtung und eine gewiſſe Verlegenheit darüber aus, einer ſolchen Situation beizuwohnen; eine von ihnen knüpfte furchtſam ihren Schleier feſter. Niemand aber war ſo benommen von
dem, was er ſah, wie Fenia.
Sie hatte von allem Anfang an mit ſachlichem Intereſſe um ſich geblickt, jede Einzelheit, die ihr auffiel, mit großer Unbefangenheit beobachtet. Jetzt aber
wurde ſie ganz ſichtlich von einer ſo intenſiven Anteilnahme erfüllt, daß ſie zuletzt, — offenbar ganz unwillkürlich, wie außer ſtande länger paſſiv zu verharren, — ſich langſam erhob und die eine Hand gegen die Lärmenden ausſtreckte, als müſſe ſie eingreifen oder Halt gebieten. Im ſelben Augenblick ward ſie ſich ihrer ſpontanen Bewegung bewußt, hielt ſich zurück, und errötete ſtark, wodurch ſie plötzlich ganz lieb und kindlich, und ein wenig hilflos ausſah.
Während ſie aber ſo daſtand, traf ihr Blick den der Griſette, die in ihrer Ratloſigkeit und Verlaſſenheit angefangen hatte zu weinen, ſo daß große Thränen ihr über die heißen geſchminkten Wangen rollten, und ihre Lippen ſich konvulſiviſch verzogen. Unter dem langen, eigentümlichen Blick, den ſie mit Fenia austauſchte, ver¬
änderte ſich der Ausdruck des weinenden Geſichts; von Fenias Augen ſchien eine Hilfe, eine Liebkoſung, eine Aufrichtung auszugehn, etwas, was die Einſamkeit dieſes
getretenen Geſchöpfes aufhob. Man konnte vom Tiſch aus deutlich den Stimmungswechſel auf ihren Zügen verfolgen, denn ſie ſaß faſt grade gegenüber am Fenſter. Ein Danken, Staunen, Nachſinnen, — ein momentanes Taubwerden für ihre lärmende Umgebung und deren Schmähreden ließ ihre Thränen verſiegen, und ſie achtete kaum noch darauf, daß das Paar neben ihr ſich erhob, um fortzugehn, und auch ihr Begleiter ſeinen ſchäbigen Cylinder vom Wandhaken abhob.
Da ſtieß er ſie brutal mit dem Ellenbogen an und forderte ſie auf, ſich zu beeilen. Sie ſchüttelte den Kopf und erwiderte einige Worte im Pariſer Argot, die man draußen nicht deutlich vernehmen konnte, die aber eine äußerſt deutliche Gebärde der Geringſchätzung und Ablehnung begleitete. Er machte eine verdutzte Miene und rief dadurch neues Gelächter hervor. Diesmal jedoch galt es ihm, dem Geprellten, der mit wütendem Geſicht das Lokal verließ.
Das Mädchen nahm ihr fadenſcheiniges Seidenmäntelchen von der Stuhllehne, hing es um, und ſchaute dabei mit einem ſtolzen und leuchtenden Blick zu Fenia hinüber, die unbeweglich ſtehn geblieben war, — eine ganz wunderlich ernſte, ergriffene Geſtalt inmitten der verſchleierten Damen und der buntgekleideten, lachenden Dämchen um uns her.
Gleich darauf ſah man ihren Schützling aus der Thür treten und am Tiſch vorüberkommen. Aber da geſchah etwas allen ganz Unerwartetes: denn neben Fenia blieb das Mädel ſtehn, öffnete die Lippen, wie um ſie anzuſprechen, und plötzlich, mit einer impulſiven Bewegung, deren Natürlichkeit eine mit ſich fortreißende Anmut beſaß, ſtreckte ſie Fenia beide Hände entgegen.
Dieſe ergriff die dargebotenen Hände und ſchüttelte ſie mit herzhaftem Druck. Einige Augenblicke lang ſtanden ſie da und lächelten einander an wie Schweſtern, während alle verblüfft, intereſſiert, amüſiert um die beiden herum ſaßen. Dann entfernte ſich das Mädchen mit einer Kopfneigung gegen die andern und verſchwand im vorüberhaſtenden Menſchenſtrom.
Man lachte über das kleine Drama, man ſcherzte über Fenias „Erfolg“ und neckte ſie nicht wenig. Sie ſelbſt war ſehr einſilbig geworden.
Eine der Damen mißverſtand ihren ernſthaften Geſichtsausdruck und bemerkte: „Ja, chérie, eine ziemlich unerbetene und unbequeme Freundſchaft! Sie könnte Ihnen eines ſchönen Tages recht peinlich werden, wenn dies Weſen Sie irgendwo auf der Straße wiederfindet und Sie auf das intimſte begrüßt, — zur Ueberraſchung derer, die vielleicht mit Ihnen gehen.“
„Das brauchen Sie nicht zu fürchten,“ widerſprach Max Werner raſch, „ich wette darauf, daß dieſes Mädchen ohne merkbaren Gruß an Ihnen vorübergehen wird, falls es Ihnen je begegnet. Anderswo würden Sie vielleicht von ihrer Dankbarkeit verfolgt werden, — die Franzöſin würde es für eine ſchlechte Dankbarkeit halten, Sie eventuell dadurch zu kompromittieren. Das iſt der franzöſiſche Takt, — der Takt einer alten Kultur, die allmählich bis in alle Schichten eines Volkes durchdringt und ihm ſeine faſt inſtinktive Intelligenz giebt.“ „Ich würde ſie aber gern wiederſehen!“ ſagte Fenia
leiſe.
„Um was zu thun?“
„Ich weiß es nicht. Aber was mich vorhin ſo entſetzte, das war das Gefühl, als ob dieſe Mädchen gleichmäßig ſowohl von den Männern wie von den Genoſſinnen preiſgegeben würden, — als ob ſie gradezu wie in Feindesland lebten. — Ich habe noch nie ſo viel höhniſche Verachtung geſehen, wie in den Mienen der Männer, — ſo viel höhniſche Schadenfreude wie in den Blicken der andern Mädchen. — Und das iſt hier im Lokal, wo ſie ſozuſagen bei ſich iſt, unter den Ihrigen. — Außer¬ halb nun erſt! — O ich denke mir, ein ſolches armes Ding muß nach einer freundlichen, einfach menſchlichen Berührung lechzen.“
„Das iſt richtig. Manchmal ſind ſie ſehr dankbar dafür. Ich hab es mitunter auch ſchon beſtätigt gefunden.“
„Sie?“ Fenia heftete voll Intereſſe ihre hellbraunen Augen auf ihn. Sie war ganz und gar bei der Sache.
„Warum nicht ich?“
„Weil ich mir vorſtelle, daß ſolche Mädchen einem jeden Mann mit Mißtrauen begegnen, — müſſen ſie nicht annehmen, er wolle von ihnen etwas ganz andres als ihr Vertrauen?“
„Donnerwetter!“ dachte er und ſah ſich Fenia genauer an. Dieſer Grad von Unbefangenheit, womit ſie über ſo heikle Dinge mit einem ihr ganz fremden Manne ſprach, hier, in Paris, in der Nacht, in dieſem Café, — und dabei ein Ausdruck in ihren Mienen, als unterhielten ſie ſich über fremdländiſche Käfer.



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