Johann Christoph Gottsched (2. Februar 1700 in Juditten, Herzogtum Preußen - 12. Dezember 1766 in Leipzig, Kurfürstentum Sachsen) war ein deutscher Schriftsteller, Dramaturg und Literaturtheoretiker in der Frühzeit der Aufklärung, dem im spätbarocken Sprachenstreit eine besondere Bedeutung zukommt um die Definition einer allgemein gültigen deutschen Schriftnorm.
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Vollständigere und Neuerläuterte Deutsche Sprachkunst
Nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und itzigen Jahrhunderts abgefasset, und bey dieser fünften Auflage merklich verbessert, von Johann Christoph Gottscheden, P.P. der Univ. Leipzig Decemv. des großen Fürstencoll. u. der phil. Facult. Sen. der churf. Stipend. Aufs. u. verschiedener Akad. der Wiss. Mitgliede,
Mit Röm. Kaiserl. wie auch Königl. Pohln. und Churf. Sächs. allergnädigster Freyheit.
Vorrede der ersten Ausgabe.
Geneigter Leser,
[9] Hiermit liefere ich dir endlich ein kleines Buch, darauf du vieleicht lange gewartet hast; womit ich aber voller Blödigkeit und Behutsamkeit, von einem Jahre zum andern, von einer Messe zur andern gezaudert habe. So wenig ich sonst gewohnt bin, mein Versprechen auf die lange Bank kommen zu lassen: so ungern habe ich es auch mit dieser Sprachlehre gethan. Allein, die unumgänglichen Schwierigkeiten, womit eine Sprachlehre, und zwar eine deutsche, sonderlich zu unsern Zeiten, verknüpfet ist, haben mir diese Langsamkeit abgedrungen. Da ich aber nunmehr endlich damit ans Licht trete; so kann ich zwar die Liebhaber der deutschen Sprache aufrichtig versichern: daß mich dieses Buch unter allen meinen Schriften die meiste Zeit gekostet. Ich habe mehr als vier und zwanzig Jahre, das ist, die halbe Zeit meines Lebens darauf verwandt, mich zu guter Ausarbeitung desselben geschickt zu machen1. Gleichwohl aber muß ich selber gestehen, daß [10] ich noch nichts vollkommenes liefern kann; ja mir selber damit noch keine völlige Gnüge gethan habe2.
Sollten sich Leute finden, welche dieß mein Vorgeben für übertrieben und ausschweifend halten wollten: so müssen sie sich gewiß niemals die Mühe genommen haben, sich den großen Umfang einer Sprache recht ausführlich vorzustellen; sonderlich einer solchen Sprache, die gleich der deutschen, in einem so großen Striche von Europa, und in so vielen verschiedenen Mundarten gesprochen wird. Von Bern in der Schweiz an, geht ja ihr Gebieth durch ganz Deutschland, Preußen, Curland, Liefland und Ingermannland, bis nach Petersburg, mehr als dreyhundert deutsche Meilen in die Länge: und von den dänischen Gränzen in Schleswig, erstrecket sich selbiges wiederum durch Nieder- und Obersachsen, Böhmen, Mähren und Ungarn, bis nach Siebenbürgen, fast eben so viel Meilen in die Breite. Wie viel Völker, wie viel Mundarten sind in einer so großen Strecke des Erdbodens nicht enthalten? Und wie schwer muß es nicht seyn, in allen diesen Abänderungen die wahre hochdeutsche Mundart, den rechten Stamm und die Schönheit dieser europäischen Hauptsprache, fest zu setzen; sie in wahre und leichte Regeln zu bringen, und ihre Zierde auf eine so leichte und faßliche, als gegründete Weise fest zu setzen?
Indem ich diese Schwierigkeit begreiflich zu machen suche, so will ich mich gar nicht rühmen, daß ich derselben nunmehr völlig abgeholfen habe. Nein, die Größe des Unterfangens soll nur meiner bisherigen Saumseligkeit und Schüchternheit zur Entschuldigung dienen. Man soll daraus nur abnehmen, daß es kein Kinderspiel sey, eine deutsche Sprachkunst abzufassen, [11] wenn man anders einsieht, was demjenigen obliegt, der seiner Pflicht dabey nachkommen will. Itzund aber, da ich solches schreibe, und nachdem ich mir alle Theile dieser Sprache, nach und nach durch den Kopf habe gehen lassen, sehe ich diese Schwierigkeiten so lebhaft ein, daß ich mich eines Theils selbst wundere, wie ich solchen Vorsatz jemals habe fassen können; theils auch, obwohl nach vollendeter Arbeit, es fast bereue, daß ich dieselbe unternommen habe.
Es ist wahr, was man mir einwenden kann: daß es nämlich an gelehrten Männern nicht gefehlet, die mir so zu reden, vorgearbeitet haben. Ich gestehe es auch gern, daß es noch schwerer gewesen seyn würde, in einer Sprache, die noch keine Grammatik gehabt hätte, eine Sprachlehre zu schreiben. Dieses war wirklich, beynahe vor tausend Jahren, eine Arbeit, dazu kein geringerer Heldenmuth, als Karls des Großen3 seiner, gehörete; der auf der Spur Cäsars einher gieng, und sowohl durch die Feder, als durch den Degen, unsterblich werden wollte. Allein, so gern ich also bekenne, daß es schwer sey, in diesem Felde ohne Vorgänger zu arbeiten; eben so schwer dünkt es mich zu seyn, sich in eben dasselbe zu wagen, wenn man schon so viel geschickte Vorgänger gehabt hat. Nur unerfahrne bilden sich ein, Deutschland hätte bisher keine Grammatiken, oder doch nur schlechtes Zeug gehabt, welches nicht gelesen zu werden verdienete. Das Gegentheil hat uns neulich ein gelehrter Mann in seiner Historie der deutschen Sprachkunst gewiesen. Jemehr aber darinn bereits geleistet worden, und je geschickter meine Vorgänger gewesen sind; desto schwerer dünkt es mich, sich an eben die Arbeit zu wagen.
Was kostet es nicht für Mühe, nur alle die größern und kleinen grammatischen Schriften unserer Vorfahren kennen [12] zu lernen? Wie viel schwerer ist es, nur die meisten und besten davon aufzutreiben? Wie viel Zeit endlich brauchet es nicht, sie zu lesen, zu prüfen, und theils unter sich, theils mit der heutigen besten Mundart zu vergleichen? Und wenn man nun dieses alles gethan hat: so geht nunmehr erst die rechte Schwierigkeit an. Man soll alles Gute, das man darinn angetroffen hat, zusammen nehmen, ohne seine Vorgänger zu bestehlen. Man soll alles in gute Verbindung und Ordnung bringen, ohne jemanden gar zu sclavisch zu folgen. Man soll aber auch manche Lacken, die unsere lieben Alten noch übrig gelassen, ergänzen; manches veraltete weglassen; manches, das heute zu Tage anstößig ist, erneuern; und alles nach dem heutigen, weit feinern Geschmacke der Deutschen, einrichten. Mit einem Worte, man soll es auch besser machen, als es unsere Vorgänger gemachet haben; ja ohne sie abzuschreiben, soll man sie auch weit, weit übertreffen! Dieses, dieses alles fodern unsere heutigen kritischen Zeiten: und ich überlasse einem jeden das Urtheil, ob es so leicht ist, solche Foderungen zu erfüllen?
Ich gestehe es hier nochmals aufrichtig, daß ich mir keinesweges schmäuchle, alles dieses in seiner gewünschten Vollkommenheit geleistet zu haben. Desto eher hoffe ich aber Nachsicht und Vergebung zu erhalten, wenn ich diese meine Sprachlehre nur für eine Grundlegung ausgebe, darauf ich künftig noch immer mehr und mehr zu bauen gedenke. Ich habe diejenigen Begriffe, die ich seit mehr als dreyßig Jahren, (denn so lange ist es wenigstens, daß ich mich beflissen habe, gut deutsch zu schreiben) gesammlet, und hier zuerst in einige Ordnung zu bringen gesuchet. Ich habe mir nunmehr einen Grundriß gemachet, auf dem ich künftig fortarbeiten kann; wenn ich theils bey andern Sprachlehrern gute Anmerkungen finden, theils selbst in guten Schriftstellern etwas anmerken werde. Ich habe endlich darinnen, so zu reden, mein grammatisches Glaubensbekenntniß abgeleget; und den gelehrten Sprachkennern unsers Vaterlandes entdecket, nach was für [13] Regeln ich mich bisher im Reden und Schreiben gerichtet: so wie ich dieselben in den besten Schriftstellern voriger und itziger Zeiten beobachtet gefunden habe.
Wie ich mich also über niemanden zu einem pedantischen Sprachtyrannen aufzuwerfen verlange; so werde ich es auch sehr gern sehen, wenn andere Liebhaber unserer Muttersprache mir künftig ihre Gedanken darüber eröffnen werden. Man wird sonder Zweifel noch hier und da einige Mängel antreffen; man wird Zweifel finden, die ich nicht gehoben habe; man wird manche Ausnahme anmerken, die mir nicht beygefallen ist; oder vieleicht gar neue Regeln in Vorschlag bringen können. Alle solche Erinnerungen werde ich mit Danke annehmen, mein Buch dadurch bereichern und verbessern; ja auch, wenn es beliebet werden sollte, ihre Urheber bey einer neuen Auflage rühmen. Es würde thöricht seyn, bey einem solchen Werke, welches billig zur Ehre des ganzen Vaterlandes gereichen soll, bloß auf meine eigene Ehre zu denken. Die Ausländer fangen schon häufig an, unsere Sprache zu lernen. Hier müssen wir uns alle gemeinschaftlich bestreben, ihnen diese Mühe zu erleichtern, und ihnen das Vorurtheil zu benehmen, als ob unsere Sprache sich unmöglich in Regeln bringen ließe. Wie viel uns dieses Geständniß, auch wider den klaren Augenschein, bisher geschadet habe, das hat leider! die Erfahrung gelehret: und ist es endlich nicht einmal Zeit, daß wir aufhören, die Fremden von Erlernung unserer Muttersprache selbst abzuschrecken?
Nun ist es zwar gewiß, daß ich meine Sprachlehre zuförderst für unsere Landesleute, sonderlich für die Jugend geschrieben habe. Alle meine Regeln sind bloß deutsch abgefasset: und so lange ein Ausländer noch gar nichts Deutsches versteht, so lange kann er sie nicht einmal lesen. Allein, es fehlet an solchen Sprachlehren nicht, die Wälschen, Franzosen, Engländern, Dänen, Schweden und Pohlen zu gut, in allen diesen Sprachen, oder doch lateinisch geschrieben sind. Aus diesen kann ein Fremder das Deutsche so lange [14] lernen, bis er es so ziemlich versteht: und alsdann kann er auch meine Sprachkunst, mit Beyhülfe eines guten Lehrers brauchen. Vieleicht aber finden sich auch bald geschickte italienische, französische, englische etc. Sprachlehrer, die ihren Landesleuten zu gut, diese meine Sprachlehre übersetzen, oder nach ihrem Gutachten Auszöge daraus machen. Mir sollte es auf solchen Fall lieb seyn, wenn ich die Erlaubniß bekäme, ihre Arbeiten, auch vor dem Drucke, ein wenig durchzugehen; um zu sehen, ob alles dem wahren Sinne gemäß getroffen worden.
Wegen der deutschen Kunstwörter muß ich noch etwas erinnern. Da ich mein Buch den Deutschen, und sonderlich der Jugend, zu gut abgefasset, die nicht allezeit die lateinische Grammatik gelernet hat; sonderlich wenn sie sich dem Soldatenstande, der Schreiberey, dem Handel und Landleben widmet: so habe ich es für unbillig gehalten, mich lauter lateinischer Kunstwörter zu bedienen. Von allen denselben haben solche Anfänger nicht den geringsten Begriff, sondern lernen sie zur Noth auswendig, wie die Nonne den Psalter: da sie hingegen durch deutsche Benennungen sogleich einigen Verstand von der Sache bekommen. Es war aber auch dabey das junge Frauenzimmer in Betrachtung zu ziehen: welches ja nicht unwürdig ist, seine Muttersprache etwas besser und richtiger schreiben zu lernen, als seine Mägde. Zu allem Glücke hatte ich auch schon unsere alten Sprachlehrer zu Vorgängern, welche sich um die Wette bemühet haben, ihre Regeln so vorzutragen, daß sie auch einem bloß deutschen Leser verständlich seyn möchten. Und was kann in der That wunderlicher seyn, als zu fodern: daß ein Deutscher erst eine lateinische, oder französische Grammatik können müsse, ehe er seine Muttersprache recht richtig reden und schreiben lernen kann? Ich habe aber unter allen grammatischen Kunstwörtern unserer Alten, nach meinem Bedünken, die besten, bequemsten, und der gemeinen Art zu reden gemäßesten erwählet. Nur wenige habe ich mich [15] erkühnet, noch etwas besser einzurichten. Ich bin aber auch bereit, Erinnerungen deswegen anzunehmen; und mich, wenn ich eines bessern überführet oder belehret würde, zu bessern. etc. etc.
Der geneigte Leser beliebe die wenigen Druckfehler, die am Ende angemerket worden, gütig zu verbessern; und bediene sich dieser Sprachlehre so lange, bis ich sie mit der Zeit vollständiger und verbesserter, liefern werde. Denn so lange ich lebe, werde ich die Feder nicht niederlegen, bis ich diesen Entwurf der deutschen Sprachkunst, zu derjenigen Vollkommenheit gebracht habe, der er, nach meiner wenigen Einsicht, fähig ist, und die ich ihm, nach meiner geringen Kräften, werde geben können.
Leipzig,
geschrieben an der Michaelsmesse
1748.
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