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Ulrich Sonnemann-Gesellschaft
Der negative Anthropologe
Zum 100. Geburtstag des Sozialphilosoßphen Ulrich Sonnemann
JUNGLE WORLD, 2.2.2012
Theodor W. Adorno hat eine Rezension zu Sonnemanns Hauptwerk verfasst:
Zu Ulrich Sonnemanns »Negativer Anthropologie«*
Meine Beziehung zur »Negativen Anthropologie« Sonnemanns ist, wenn davon die Rede sein darf, von der merkwürdigsten Art, der einer ganz unvorhergesehenen Koinzidenz: der Titel seines Buches stand fest wie der des meinen: »Negative Dialektik«, ohne daß wir davon wußten. Darin prägt sich eine ungeplante, einzig durch die Sache motivierte Nähe der Intentionen aus, die mich als Bestätigung beglückt.
Anthropologie und Philosophie waren in den zwanziger Jahren, durch Scheler und seine Schule, aber auch durch Autoren wie Groethuysen, miteinander verschwistert. Im Zusammenhang mit den ontologischen und existentialistischen Bestrebungen jener Epoche glaubte man, etwas wie einen zugleich geschichtslos tragenden und konkreten Grund für alle philosophisch wesentlichen Fragen, nicht nur die vielberufenen des Menschen, zu haben. Horkheimers Arbeit über die philosophische Anthropologie gehörte zu den ersten eingreifenden Kritiken jener Ansicht. Seitdem hat ebenso die in Betracht kommende Philosophie von den Deklamationen über den Menschen sich entfernt, wie umgekehrt die Anthropologie sich mit emphatischer Bescheidenheit in ihr Bereich zurückzog und, wesentlich, in positivistische Ethnologie oder in soziologische cultural anthropology verwandelte.
Von den kritischen Prozessen, die es dahin brachten, ist Sonnemanns Buch durchdrungen. Es nimmt in gewisser Weise die abgebrochene, zerbrochene Diskussion über die Anthropologie wieder auf, im Geist von Philosophie nicht weniger als dem der Kritik an den Invarianten. Wissenschaft vom Menschen wird ihm zur Kritik am Gegebenen von menschlichen Verhältnissen, zur Einsicht in das, wozu die Menschen wurden. Deren Verdinglichung ist ihr Thema, nicht ihr Maß; kritische Anthropologie verlangt zugleich Kritik des Positivismus.
Im Geist dieser Konzeption werden die beiden letzten großen Theorien behandelt, welche mit dem Begriff des Menschen etwas zu tun hatten, die Marxische und die Freudsche. Zu den wichtigsten Funden des Sonnemannschen Buchs gehört, daß diese Theorien nicht als zwei komplementäre Instrumente aufgefaßt werden können, die gemeinsam, oder nebeneinander, der Aufklärung dienen können. Vielmehr erkennt er sie als einander wesentlich entgegengesetzt, ja betrachtet sie – vielleicht darin apodiktischer, als ich es zu sein vermöchte – als aneinander gescheitert. Berichtigen können sie sich wechselseitig nur durch eine Kritik, die sie, wie er es nennt, »entfetischisiert«, dem Bann monistischer Konstruktion aus einem Prinzip heraus entreißt, in dem selbst nur der Bann des Bestehenden sich reproduziert. Was der Mensch sei, wird dieser Konzeption von Anthropologie, mit Recht, zu einer negativen Bestimmung; das Humane sei einzig »aus seiner Verleugnung und Abwesenheit« zu erschließen.
Die sprachliche Darstellung in Sonnemanns neuem Buch, dem Kulminationspunkt einer äußerst intensiven, auch selbstkritischen Entwicklung, ist von größter Dichte, allergisch gegen das Banale, mit dem Strom Schwimmende. Sie setzt der Sache zuliebe allerorten Widerstände gegen das, was die gängige Phrase Kommunikation nennt. Die Kraft des Widerstands ist in ihr nicht geringer als in den Gedanken, beides wahrhaft durcheinander vermittelt. Positivistischen Fachmenschen ist solche Sprache zu essayistisch, Journalisten zu schwierig und anspruchsvoll: Bestätigung ihrer Wahrheit.
* Vgl. Ulrich Sonnemann, Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals. Reinbek bei Hamburg 1969.
Theoder W. Adorno: Vermischte Schriften I/II: Zu Ulrich Sonnemanns »Negativer Anthropologie«. GS 20.1, S. 262 ff.
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