Sonntag, 25. November 2018

Moderne Kunst, politisch korrekt


Haimo L. Handl

Moderne Kunst, politisch korrekt

Kürzlich sah ich in ARTE einen Dokumentarfilm von Nicola Graef und Susanne Brand mit dem Titel „Expedition Moderne. Auf den Spuren unentdeckter Kunst“. Es handelt sich um ein eigentümliches Dokument schuldbeladener, westlicher Orientierungslosigkeit mit fadenscheinigen Prämissen und Schlüssen, die eher erstaunen oder verärgern aber nicht Verständnis schaffen, wie es programmatisch den Intentionen der Korrekten entspräche. Im Informationstext heißt es:

Neu auf fremde Kunst blicken – ein Anspruch, der mindestens 100 Jahre zu spät kommt. Denn die Entwicklung der Kunst der Moderne wäre ohne die Beschäftigung mit der Kunst anderer Völker gar nicht möglich gewesen. Jetzt bemühen sich die Museen und Wissenschaftler um eine Kurskorrektur. Was wurde übersehen? Und was ist der richtige Umgang mit der Kunst fremder Völker?

Was macht man, wenn man zu spät ist? Zu spät: aus und vorbei, versäumt. Der erste Satz klingt unerbittlich wie beim Versäumnis des letzten Zuges. Zu spät, abgefahren. Und zwar gleich 100 Jahre zu spät. O je, dann ist es wirklich aus und vorbei.

Schon der Untertitel ist falsch und irreführed. Wer ist auf welchen Spuren unentdeckter Kunst? Ist Kunst abhängig von der Rezeption? Reicht nicht die direkte, braucht es die weltweite, globale Rezeption? Hier trüben unklare Vorstellungen von Öffentlichkeit das Denken, hier vernebeln verschwommene Sichten den Blick auf Eigenständiges bzw. Fremdes oder Neues im Verhältnis zu Eigenem oder Bekanntem. Ist entdeckte Kunst wertvoller? Sicher. Weil unentdeckte keine Ware am Markt ist. Bestimmt also Marktdenken den Kunstwert und leitet unsere guten Menschen und Kunstexperten? Wenn Sie nein sagen, zeigen Sie, wo welche Kunst als Nichtware gesammelt, gehandelt, gezeigt und rezipiert wird.

Zweiter Satz: Die Entwicklung der modernen Kunst wäre ohne die Beschäftigung mit der Kunst anderer Völker gar nicht möglich gewesen. Da sich die moderne Kunst aber, wie man allerorten sehen kann, offensichtlich (offen sichtbar) entwickelt hat, weil wir Veränderungen als Entwicklungen deuten, obwohl kein eigentlicher, linearer Fortschritt messbar ist im Bereich der Kunst, da sie nicht, wie die Naturwissenschaften, Theorien und Fakten schafft, die messbar als neu gegenüber alten, überholten, angesehen werden können oder müssen, spricht man doch von ältester, alter und neuer oder neuester Kunst. Die Attribute sind Hilfskonstruktionen, grob, simpel, aber gerade deswegen im gängigen Gebrauch.

Schlussfolgerung: weil es Entwicklung gab, hatten sich viele also mit der Kunst anderer Völker beschäftigt. Es gibt allerdings keinen Raster, keine Reihung, wie vollständig diese Beschäftigung mit dem Anderen sein kann oder soll, weil nie das GANZE zur Kommunikation steht, weil nie ALLES erfasst werden kann (Das Ganze ist das Unwahre. Adorno). Sogar in der eigenen Kultur gibt es künstlerische Äußerungen und Artefakte, die der Mehrheit entgehen, obwohl sie niemand intendiert versteckt. Könnte es auch eine Entwicklung der modernen Kunst ohne Auseinandersetzung mit der Kunst anderer Völker gegeben haben? Wie haben sich denn die Künste der nicht modernen Völker entwickelt? Auf einem Sonderweg?

Aber stimmt das, kann das stimmen? Das hieße ja, dass jene Gesellschaften, die sich nicht mit der Kunst der Welt, also mit der Allerweltkunst offen dauernd auseinandersetzen, keine Entwicklung ihrer eigenen Kunst hätten erreichen können. Wie sähe jedoch ihre isolierte Kunst aus? Sie wäre idiotisch im Sinne von selbstbezogen und selbstreferentiell, primitiv, wie die Modernen eben das Fremde sahen. Wobei „primitiv“ keine Abwertung war oder ist, sondern eine Unterscheidung. Aber sie wäre immer noch Kunst bzw. sie ist Kunst, auch jenseits der Maßstäbe der Korrekten, die nur die globale gelten lassen wollen und nicht die lokale oder gar persönliche. Stammeskunst, wie man heute nicht mehr sagen darf, war Kunst, auch wenn kein gleichwertiger Austausch mit den anderen Kulturen stattfand, und blieb Kunst, auch als Westler sie sich aneigneten. (Unabhängig der Frage, wann Kulte und Kultobjekte „Kunst“ in unserem Sinne waren oder sind.) Was heißt aber „gleichwertig“ oder „global“? Nach welchen Kriterien? Denen des Zugangs, der Marktposition westlicher Façon? Denen der jeweiligen Staatsmacht? (Hier sind auf benachbartem, engem Raum die „Weltunterschiede“ besonders deutlich in den beiden Koreas!) Und wie fremd oder unverständig darf eine bislang „übersehene“ Kunst sein? Gilt sie erst, wenn sie inkorporiert worden ist, wenn ihr das Eigene genommen wurde, jenes Eigene, das das Fremde war, wenn also in der modernen Welt das Andere handelbare Ware geworden ist, damit vermessen und bewertet? Es scheint, die Filmemacherinnen sind nicht bedächtig und bedenkend genug gewesen, eher politisch korrekt und sich einpassend im Gewand jener, die voranschreiten, Avantgarde bilden. Wofür? Für eine richtige Kurskorrektur.

Dritter Satz: Kurskorrektur. Endlich befleißigen sich die Museen mit Hilfe der Wissenschaftlerinnen um eine Kurskorrektur. Sie stellen fest, was übersehen worden war. Um das feststellen zu können, muss man wissen, was man hätte sehen können. Damals, früher. Ein verwegenes Unterfangen, da doch in der Gegenwart tagtäglich und nachtnächtlich bewiesen wird, dass wir vieles, vieles übersehen, nicht bemerken oder, auch das, was wir sehen, nicht in seiner Tragweite, möglicher Bedeutung erfassen bzw. erahnen. Denn das Sehen und Übersehen hängt weniger mit der Perzeptionsfähigkeit der Sinne zusammen, als mit der Rezeption nach einem kulturellen Training. Wie will man feststellen, was man früher hätte sehen müssen, damals, als andere Sichten galten? Sähe jemand Historisches wie Damalige, also alleine mit damaligen Augen und Verständnis, sie oder er könnte keinen Übertrag ins gegenwärtige Verständnis schaffen. Historiker müssen zumindest doppelbödig und mehrzeitig denken, sich jedoch in der Deutung und Interpretation davor hüten, Vergangenes nach heutigen Werten abzuurteilen. Ohne Kenntnis des Historischen UND des Gegenwärtigen wäre kein Brückenschlag möglich. Der Brückenschlag selbst ist anderer Qualität als die Beschau des Historischen dort oder Gegenwärtigen hier. Es geht um Eigenheiten und Interpretationen mit heutigem Wissen im Blick des Vergangenen UND der historischen Lehre für die Gegenwart, für uns heute, wie wir sie mit unseren heutigen Mitteln gewinnen können. Nie aber geht es um Festlegungen, was hätte sein müssen. Immer nur, was war und, vielleicht, was dazu führte. Alles andere ist Moral, Pädagogik oder Ideologie. Hinsichtlich dieser Komplexität wird es diffizil. Gerade heute, in der globalisierten Welt, verschwinden Eigenheiten, gewinnen globale Aspekte Bedeutung als Ausweis des Gleichen in einer sich extrem angleichenden globalisierten Gesellschaft. Was sagen uns also die Apostellinnen der Korrektheit der Moderne?

Sie sagen den vierten Satz vom richtigen Umgang mit der Kunst fremder Völker. Welche Völker sind wie bekannt bzw. welche sind wirklich fremd? Welches Bild von autochthoner Eigenheit pflegen sie, teilen wir? Wie unterscheidet sich die pluralistische westliche Welt davon? Wie sieht es mit den Völkern in den Koreas oder China aus, also nicht pluralistischen Gesellschaften, oder in Japan? Wie vermessen sie Russland? Was heißt „fremd“ für jene, was für uns? Wie fremd sind sich schon die Europäer der Union, ganz zu schweigen von den anderen? Wie bekannt, anerkannt, heimisch sind die anderen? Welches Verständnis folgt daraus?

Aber das Hauptproblem ist die Frage nach dem richtigen Umgang. Welcher ist der richtige? Einer von UNO-Gremien beschlossener? Einer von Vertretern der nichtwestlichen Welt vorgeschlagener oder praktizierter? Einer von Feministinnen und ihrer gender force formulierter post-kolonialer? Der Forderung nach dem Richtigen, dem Korrekten, sagt auch, dass jeder frühere Umgang unrichtig, inkorrekt war. Überall, global oder nur in der westlichen Welt? Welches Erbe drückt die Frauen, die so kritisch nach Korrektheit rufen, nieder? Wie können sie, so beladen und belastet, überhaupt das Fremde als Fremdes erkennen und seine Bedeutung ermessen? Machen sie es sich nicht zu einfach, weil sie vordergründig Moralen und Politiken folgen, die jetzt en vogue sind?

Es ist ziemlich einfach, historische Ereignisse, Wahrnehmungs- und Deutungsweisen von der heutigen Position aus abzuurteilen. Da wird Goethe niedergemacht, da plustert man über Winckelmann, da sieht man Kolonialismus und falsche Griechenausrichtung, sieht engen Nationalismus in Hölderlin und lächerlichen Idealismus in Schiller: alles war falsch. Wann war welches Denken nach welchen Kriterien „richtig“ und „korrekt“? Wann war eine Gesellschaft gut, annehmbar etc.? Die der Bolschewiki nach der Oktoberrevolution? Die Englands unter Viktoria? Die Amerikas unter den Gründervätern? Man könnte das schier endlos ausweiten. Sind, umgekehrt, die gegenwärtigen Gesellschaften „modern“, „gut“? Bedeutet die Beachtung der Menschenrechte schon eine neokoloniale Bevormundung? Ist nicht schon der westlich bestimmte Kunstmarkt eine reine Ausbeuteeinrichtung? Heißt nicht, seine eigene Kultur hochschätzen, jede andere abwerten? Wann bedeutet unterscheiden NICHT abwerten? Schlussendlich: darf es rechtens überhaupt Eigenes geben? Muss man nicht Viele(s) sein und das Individualdenken aufgeben (kein Ich mehr!)?

Die Korrekturmaßnahmen lesen sich allerdings nicht überzeugend: Leerräumen der Bestände, neue Vermittlung, teure, neue Architektur als angemessene, „wiedergutmachende“ Verpackung für sogenannte „fremde“ Kunst, die kultürlich nicht mehr fremd ist, Änderung der „Erzählweise“ (als ob das neue wäre!). Es geht also um richtige, korrekte Darstellung und die entsprechende Rezeption und Gewissensbereinigung. Es geht um politische Korrektheit durch eine neue Platzzuweisung und als korrekt approbierte Aufmerksamkeit. Nachdem nirgends ein Paradies herrscht, geht es um Schuld. Bei uns im Westen meistens um eine Erbschuld, die Erbsünde. Sind die Verwalter und Verwalterinnen also Anwälte Gottes, der aus dem Paradies vertrieb? Erleben wir auch im Kunstbereich eine fatale Sakralisierung?

Wie werden wir in unserer schnell alternden Zeit in wenigen Jahren mit neuen, heute ungeahnten, unentdeckten, nicht bekannten Erzählweisen umgehen? Werden die die späteren, „wahren“ und „guten“ unsere heutigen korrigierten und „korrekten“ als obsolet und falsch, irrig hinstellen? Was bedeutet das für die (politisch) Korrekten dann? Welche Korrektheit, welche Richtigkeit wird gelten?

Es zeigt sich das Problem der Temporalität, der Unsicherheit. Die Korrekten geben vor, unumstößliche, quasi absolut richtige Ansichten, Sehweisen, Rezeptionen, Kenntnisse zu haben. Aber außenhalb der Ingenieurs- und Naturwissenschaften ist die Unsicherheit noch viel, viel größer, als in diesen. Nirgends, außer in den engstirnigen Religionen, gibt es (ewige) dauernde Wahrheiten. Ist das das verkappte Ziel der sich modern Gebenden?

Gerade in der deutschsprachigen Kultur mit so eminenten modernen Autoren, die sich gehaltvoll und kritisch zur Kunst äußerten, wie Benjamin oder Adorno, Bürger oder Luhmann, Sloterdijk oder Stierle, Szondi oder Gombrich oder Brock und viele andere, wäre man eingeladen tiefer nachzudenken, als vordergründig dem Zeitgeist verpflichtet (filmisch) zu schwadronieren. Ehrbare Intention und guter Wille ersetzen nicht Gültigkeit oder Qualität des Denkens.

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