Haimo L. Handl
Moderne Kunst, politisch korrekt
Kürzlich sah ich in ARTE einen Dokumentarfilm von Nicola
Graef und Susanne Brand mit dem Titel „Expedition Moderne. Auf den Spuren
unentdeckter Kunst“. Es handelt sich um ein eigentümliches Dokument schuldbeladener,
westlicher Orientierungslosigkeit mit fadenscheinigen Prämissen und Schlüssen,
die eher erstaunen oder verärgern aber nicht Verständnis schaffen, wie es
programmatisch den Intentionen der Korrekten entspräche. Im Informationstext
heißt es:
Neu auf fremde Kunst blicken –
ein Anspruch, der mindestens 100 Jahre zu spät kommt. Denn die Entwicklung der
Kunst der Moderne wäre ohne die Beschäftigung mit der Kunst anderer Völker gar
nicht möglich gewesen. Jetzt bemühen sich die Museen und Wissenschaftler um
eine Kurskorrektur. Was wurde übersehen? Und was ist der richtige Umgang mit
der Kunst fremder Völker?
Was macht man, wenn man zu spät ist? Zu spät: aus und
vorbei, versäumt. Der erste Satz klingt unerbittlich wie beim Versäumnis des
letzten Zuges. Zu spät, abgefahren. Und zwar gleich 100 Jahre zu spät. O je,
dann ist es wirklich aus und vorbei.
Schon der Untertitel ist falsch und irreführed. Wer ist auf
welchen Spuren unentdeckter Kunst? Ist Kunst abhängig von der Rezeption? Reicht
nicht die direkte, braucht es die weltweite, globale Rezeption? Hier trüben
unklare Vorstellungen von Öffentlichkeit das Denken, hier vernebeln
verschwommene Sichten den Blick auf Eigenständiges bzw. Fremdes oder Neues im
Verhältnis zu Eigenem oder Bekanntem. Ist entdeckte Kunst wertvoller? Sicher.
Weil unentdeckte keine Ware am Markt ist. Bestimmt also Marktdenken den
Kunstwert und leitet unsere guten Menschen und Kunstexperten? Wenn Sie nein
sagen, zeigen Sie, wo welche Kunst als Nichtware gesammelt, gehandelt, gezeigt
und rezipiert wird.
Zweiter Satz: Die Entwicklung der modernen Kunst wäre ohne
die Beschäftigung mit der Kunst anderer Völker gar nicht möglich gewesen. Da
sich die moderne Kunst aber, wie man allerorten sehen kann, offensichtlich
(offen sichtbar) entwickelt hat, weil wir Veränderungen als Entwicklungen
deuten, obwohl kein eigentlicher, linearer Fortschritt messbar ist im Bereich
der Kunst, da sie nicht, wie die Naturwissenschaften, Theorien und Fakten
schafft, die messbar als neu gegenüber alten, überholten, angesehen werden
können oder müssen, spricht man doch von ältester, alter und neuer oder
neuester Kunst. Die Attribute sind Hilfskonstruktionen, grob, simpel, aber
gerade deswegen im gängigen Gebrauch.
Schlussfolgerung: weil es Entwicklung gab, hatten sich viele
also mit der Kunst anderer Völker beschäftigt. Es gibt allerdings keinen
Raster, keine Reihung, wie vollständig diese Beschäftigung mit dem Anderen sein
kann oder soll, weil nie das GANZE zur Kommunikation steht, weil nie ALLES
erfasst werden kann (Das Ganze ist das Unwahre. Adorno). Sogar in der eigenen
Kultur gibt es künstlerische Äußerungen und Artefakte, die der Mehrheit
entgehen, obwohl sie niemand intendiert versteckt. Könnte es auch eine
Entwicklung der modernen Kunst ohne Auseinandersetzung mit der Kunst anderer
Völker gegeben haben? Wie haben sich denn die Künste der nicht modernen Völker
entwickelt? Auf einem Sonderweg?
Aber stimmt das, kann das stimmen? Das hieße ja, dass jene
Gesellschaften, die sich nicht mit der Kunst der Welt, also mit der
Allerweltkunst offen dauernd auseinandersetzen, keine Entwicklung ihrer eigenen
Kunst hätten erreichen können. Wie sähe jedoch ihre isolierte Kunst aus? Sie
wäre idiotisch im Sinne von selbstbezogen und selbstreferentiell, primitiv, wie
die Modernen eben das Fremde sahen. Wobei „primitiv“ keine Abwertung war oder
ist, sondern eine Unterscheidung. Aber sie wäre immer noch Kunst bzw. sie ist
Kunst, auch jenseits der Maßstäbe der Korrekten, die nur die globale gelten
lassen wollen und nicht die lokale oder gar persönliche. Stammeskunst, wie man
heute nicht mehr sagen darf, war Kunst, auch wenn kein gleichwertiger Austausch
mit den anderen Kulturen stattfand, und blieb Kunst, auch als Westler sie sich
aneigneten. (Unabhängig der Frage, wann Kulte und Kultobjekte „Kunst“ in
unserem Sinne waren oder sind.) Was heißt aber „gleichwertig“ oder „global“?
Nach welchen Kriterien? Denen des Zugangs, der Marktposition westlicher Façon?
Denen der jeweiligen Staatsmacht? (Hier sind auf benachbartem, engem Raum die
„Weltunterschiede“ besonders deutlich in den beiden Koreas!) Und wie fremd oder
unverständig darf eine bislang „übersehene“ Kunst sein? Gilt sie erst, wenn sie
inkorporiert worden ist, wenn ihr das Eigene genommen wurde, jenes Eigene, das
das Fremde war, wenn also in der modernen Welt das Andere handelbare Ware
geworden ist, damit vermessen und bewertet? Es scheint, die Filmemacherinnen
sind nicht bedächtig und bedenkend genug gewesen, eher politisch korrekt und
sich einpassend im Gewand jener, die voranschreiten, Avantgarde bilden. Wofür?
Für eine richtige Kurskorrektur.
Dritter Satz: Kurskorrektur. Endlich befleißigen sich die
Museen mit Hilfe der Wissenschaftlerinnen um eine Kurskorrektur. Sie stellen
fest, was übersehen worden war. Um das feststellen zu können, muss man wissen,
was man hätte sehen können. Damals, früher. Ein verwegenes Unterfangen, da doch
in der Gegenwart tagtäglich und nachtnächtlich bewiesen wird, dass wir vieles,
vieles übersehen, nicht bemerken oder, auch das, was wir sehen, nicht in seiner
Tragweite, möglicher Bedeutung erfassen bzw. erahnen. Denn das Sehen und
Übersehen hängt weniger mit der Perzeptionsfähigkeit der Sinne zusammen, als
mit der Rezeption nach einem kulturellen Training. Wie will man feststellen,
was man früher hätte sehen müssen, damals, als andere Sichten galten? Sähe
jemand Historisches wie Damalige, also alleine mit damaligen Augen und
Verständnis, sie oder er könnte keinen Übertrag ins gegenwärtige Verständnis
schaffen. Historiker müssen zumindest doppelbödig und mehrzeitig denken, sich
jedoch in der Deutung und Interpretation davor hüten, Vergangenes nach heutigen
Werten abzuurteilen. Ohne Kenntnis des Historischen UND des Gegenwärtigen wäre
kein Brückenschlag möglich. Der Brückenschlag selbst ist anderer Qualität als
die Beschau des Historischen dort oder Gegenwärtigen hier. Es geht um
Eigenheiten und Interpretationen mit heutigem Wissen im Blick des Vergangenen UND
der historischen Lehre für die Gegenwart, für uns heute, wie wir sie mit
unseren heutigen Mitteln gewinnen können. Nie aber geht es um Festlegungen, was
hätte sein müssen. Immer nur, was war und, vielleicht, was dazu führte. Alles
andere ist Moral, Pädagogik oder Ideologie. Hinsichtlich dieser Komplexität
wird es diffizil. Gerade heute, in der globalisierten Welt, verschwinden
Eigenheiten, gewinnen globale Aspekte Bedeutung als Ausweis des Gleichen in
einer sich extrem angleichenden globalisierten Gesellschaft. Was sagen uns also
die Apostellinnen der Korrektheit der Moderne?
Sie sagen den vierten Satz vom richtigen Umgang mit der
Kunst fremder Völker. Welche Völker sind wie bekannt bzw. welche sind wirklich
fremd? Welches Bild von autochthoner Eigenheit pflegen sie, teilen wir? Wie
unterscheidet sich die pluralistische westliche Welt davon? Wie sieht es mit
den Völkern in den Koreas oder China aus, also nicht pluralistischen
Gesellschaften, oder in Japan? Wie vermessen sie Russland? Was heißt „fremd“
für jene, was für uns? Wie fremd sind sich schon die Europäer der Union, ganz
zu schweigen von den anderen? Wie bekannt, anerkannt, heimisch sind die
anderen? Welches Verständnis folgt daraus?
Aber das Hauptproblem ist die Frage nach dem richtigen
Umgang. Welcher ist der richtige? Einer von UNO-Gremien beschlossener? Einer
von Vertretern der nichtwestlichen Welt vorgeschlagener oder praktizierter?
Einer von Feministinnen und ihrer gender force formulierter post-kolonialer?
Der Forderung nach dem Richtigen, dem Korrekten, sagt auch, dass jeder frühere
Umgang unrichtig, inkorrekt war. Überall, global oder nur in der westlichen
Welt? Welches Erbe drückt die Frauen, die so kritisch nach Korrektheit rufen,
nieder? Wie können sie, so beladen und belastet, überhaupt das Fremde als
Fremdes erkennen und seine Bedeutung ermessen? Machen sie es sich nicht zu
einfach, weil sie vordergründig Moralen und Politiken folgen, die jetzt en
vogue sind?
Es ist ziemlich einfach, historische Ereignisse,
Wahrnehmungs- und Deutungsweisen von der heutigen Position aus abzuurteilen. Da
wird Goethe niedergemacht, da plustert man über Winckelmann, da sieht man
Kolonialismus und falsche Griechenausrichtung, sieht engen Nationalismus in
Hölderlin und lächerlichen Idealismus in Schiller: alles war falsch. Wann war
welches Denken nach welchen Kriterien „richtig“ und „korrekt“? Wann war eine
Gesellschaft gut, annehmbar etc.? Die der Bolschewiki nach der
Oktoberrevolution? Die Englands unter Viktoria? Die Amerikas unter den
Gründervätern? Man könnte das schier endlos ausweiten. Sind, umgekehrt, die
gegenwärtigen Gesellschaften „modern“, „gut“? Bedeutet die Beachtung der
Menschenrechte schon eine neokoloniale Bevormundung? Ist nicht schon der
westlich bestimmte Kunstmarkt eine reine Ausbeuteeinrichtung? Heißt nicht,
seine eigene Kultur hochschätzen, jede andere abwerten? Wann bedeutet
unterscheiden NICHT abwerten? Schlussendlich: darf es rechtens überhaupt
Eigenes geben? Muss man nicht Viele(s) sein und das Individualdenken aufgeben
(kein Ich mehr!)?
Die Korrekturmaßnahmen lesen sich allerdings nicht
überzeugend: Leerräumen der Bestände, neue Vermittlung, teure, neue Architektur
als angemessene, „wiedergutmachende“ Verpackung für sogenannte „fremde“ Kunst,
die kultürlich nicht mehr fremd ist, Änderung der „Erzählweise“ (als ob das
neue wäre!). Es geht also um richtige, korrekte Darstellung und die
entsprechende Rezeption und Gewissensbereinigung. Es geht um politische
Korrektheit durch eine neue Platzzuweisung und als korrekt approbierte
Aufmerksamkeit. Nachdem nirgends ein Paradies herrscht, geht es um Schuld. Bei
uns im Westen meistens um eine Erbschuld, die Erbsünde. Sind die Verwalter und
Verwalterinnen also Anwälte Gottes, der aus dem Paradies vertrieb? Erleben wir
auch im Kunstbereich eine fatale Sakralisierung?
Wie werden wir in unserer schnell alternden Zeit in wenigen
Jahren mit neuen, heute ungeahnten, unentdeckten, nicht bekannten Erzählweisen
umgehen? Werden die die späteren, „wahren“ und „guten“ unsere heutigen
korrigierten und „korrekten“ als obsolet und falsch, irrig hinstellen? Was
bedeutet das für die (politisch) Korrekten dann? Welche Korrektheit, welche
Richtigkeit wird gelten?
Es zeigt sich das Problem der Temporalität, der
Unsicherheit. Die Korrekten geben vor, unumstößliche, quasi absolut richtige
Ansichten, Sehweisen, Rezeptionen, Kenntnisse zu haben. Aber außenhalb der
Ingenieurs- und Naturwissenschaften ist die Unsicherheit noch viel, viel
größer, als in diesen. Nirgends, außer in den engstirnigen Religionen, gibt es
(ewige) dauernde Wahrheiten. Ist das das verkappte Ziel der sich modern
Gebenden?
Gerade in der deutschsprachigen Kultur mit so eminenten
modernen Autoren, die sich gehaltvoll und kritisch zur Kunst äußerten, wie
Benjamin oder Adorno, Bürger oder Luhmann, Sloterdijk oder Stierle, Szondi oder
Gombrich oder Brock und viele andere, wäre man eingeladen tiefer nachzudenken,
als vordergründig dem Zeitgeist verpflichtet (filmisch) zu schwadronieren.
Ehrbare Intention und guter Wille ersetzen nicht Gültigkeit oder Qualität des
Denkens.
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