Sonntag, 18. November 2018

Kehrseiten


Haimo L. Handl

Kehrseiten

Uns geht es gut. Im Allgemeinen. In der westlichen Welt und in vielen Teilen der anderen. Es geht uns nicht nur gut, sondern immer besser. Sagen die Statistiken. Obwohl Vieles im Argen liegt. Denn wesentliche Werte sind relativ und nicht absolut, die der Armut, die der politischen Partizipation, die der Selbstverwirklichung. Wir vergleichen dauernd.

Einen extrem starken Einfluss auf den „Fortschritt“ hat das positivistische Denken, das sachbezogene, naturwissenschaftliche, insbesondere  das Ingenieursdenken. Es verspricht messbare Sicherheit bzw., wenn schon Unsicherheit, dann messbare Unsicherheit, bereit, gelöst zu werden.

Der Fortschritt schreitet nicht nur voran, er rast, flutet, überschwemmt, begräbt unter sich, was sich in den Weg stellt. Die Verwaltung der Menschen gewinnt Formen und Ausmaße, die bis anhin unvorstellbar waren. Die Kontrolle jener, die man früher „Mächtige“ nannten, wuchs und wächst ins schier Unermessliche. Es gibt fast keine Rückzugsmöglichkeiten mehr, es gibt fast nichts Privates mehr. Alles ist offen, kontrolliert, überwacht. Was früher „Gleichschaltung“ genannt wurde, ist heute viel ausgereifter, fortschrittlicher. Und, ganz wichtig, nicht direkt an totalitäre Gesellschaftsformen gebunden. Die Überwachungsmaßnahmen der Diktaturen, totalitären Regimes und sogenannter Demokratien westlichen Stils haben sich nicht nur angeglichen, sich richten sich auch mittels gemeinsamer, neuester Techniken rasant entwickelnd aus.

Dabei geht es nicht nur um Facebook und seine Hilfen für Überwachungsregime, sondern überhaupt um hochentwickelte Techniken Künstlicher Intelligenz, die einerseits den Konsumenten abrichten, manipulieren und kontrollieren, sondern auch von staatlichen Einrichtungen (Polizei, Militär), die in „Friedenszeiten“ Wähler beeinflussen und lenken bzw. Bürgerinnen und Bürger „erfassen“ und kontrollieren, wie es früher die Geheimdienste und geheimen Staatspolizeien wegen ihrer Technik nicht vermochten. Heute ist die Horrorvision, wie sie George Orwell in seiner Dystopie „1984“ entworfen hat, Wirklichkeit geworden bzw. überholt. Das Bild von Big Brother“ ist fast verniedlichend gegenüber den Formen der Machtinstanzen, die heute das Regime führen. Orwell sah in seiner Vision noch einen Hoffnungsschimmer: die Proleten.

If there was hope, it must lie in the proles, because only there, in those swarming disregarded masses, eighty-five percent of the population of Oceania, could the force to destroy the  Party ever be generated. The Party could not be overthrown from within.  Its enemies, if it had any enemies, had no way of coming together or even of identifying one another. Even if the legendary Brotherhood existed, as just possibly it might, it was inconceivable that its members could ever assemble in larger numbers than twos and threes.  Rebellion meant a look in the eyes, an inflection of the voice; at the most, an occasional whispered word.

But the proles, if only they could somehow become conscious of their own strength, would have no need to conspire. They need only to rise up and shake themselves like a horse shaking off flies. If they chose they could blow the Party to pieces tomorrow morning. Surely sooner or later it must occur to them to do it.

Der damaligen Technologie entsprechend (1948), war auch in der dystopischen Vision die Totale Kontrolle nicht wirklich vorstellbar. Man hatte den Totalen Krieg erlebt, aber das Nazireich war besiegt worden. Man hegte Hoffnung, das andere totalitäre Regime der Bolschewiken ebenfalls überwinden zu können. Dass die Gefahr aber nicht aus dem Osten oder von der Planwirtschaft kommen werde, sondern vom Westen, dem sich höher entwickelnden Kapitalismus, war noch nicht ausgemalt und in seinen Ausmaßen abseh- und erwartbar.

Viel umfassender und tiefgehender gelingt heute die Überwachung, Kontrolle und Lenkung. Der Unterschied zu totalitären Regimes und blanken Diktaturen zeigt sich wesentlich in der freiwilligen Kollaboration der Massen, die um eines vermeintlichen Vorteils willens freiwillig ihre Daten hergeben und eine gigantische Datenvermarktung in allen Facetten erst ermöglichen. Das gab es nie zuvor. Es gibt gegenwärtig einige Kritik an gewissen Diktaturen und ihren Zensurbemühungen und Verfolgungen, wie in der Türkei oder besonders in China. Aber es wird nicht wirklich bewertet, was die Datensammlungen und Kontrollen westlicher Geheimdienste, insbesondere der NSA oder MI5 und MI6, ausmachen und wohin die „Partnerschaften“ mit Facebook und Google bzw. Amazon führen werden.

Die Kontrolle und Manipulation ist so tiefgreifend und allumfassend, dass das frühere, religiöse Bild vom allwissenden, allmächtigen Gott, dem nichts, gar nichts, entgeht, der alles observiert und weiß, eine Renaissance erlebt, aber nicht religiös, sondern ganz profan. Was sich Widerstand nennt oder zu nennen versucht, ist vom System entweder geduldet oder schon in Vorbereitung der Umfunktionierung, der Unterminierung und Auflösung. Es gibt, anscheinend, keinen realen Widerstand. Hier korrespondieren die höchstentwickelten Staaten des „Westens“ mit den schlimmsten Diktaturen und totalitären Regimes.

Von daher wird Orwells Hoffnung besonders interessant. Er selbst war kein Prolet. Was ihn hoffen ließ, gerade in der Unterschicht ein Widerstandspotential zu sehen, war die Kehrseite, das Gegenüber dem hochtechnisierten Großen Bruder, dessen Herrschaft besonderer Technik bedurfte, neben den penetrierenden Abrichtungsmaßnehmen (viele sahen oder sehen die verschiedenen Erziehungs- oder Umerziehungsmethoden als „Bildungsbeitrag“) zur Herstellung und Verfestigung der korrekten Sklavenmoral und des entsprechenden Mitläuferverhaltens. Die Proleten hatten nichts zu verlieren, nur zu gewinnen. Sie konnten eine Portion „Irrationalität“ einsetzen, die kein wissenschaftliches System planend bestimmen konnte, die nicht vorweggenommen kontrolliert werden konnte. Die Rationale war und ist: jene, die profitieren, wagen nichts, machen mit. Jene, die nichts haben, vegetieren und bekämpfen sich selbst, werden nicht zur Systemgefahr.

Aber sobald die Proleten aus der Vereinzelung, der instrumentalisierten Pseudoprivatheit, herauszutreten wagten, konnten sie systemstörend wirken, weil ihr Widerstand „unvernünftig“ bzw. „irrational“ erschien. Wenn einer Gruppe von Leuten die Vernünftigkeit des Systems mit seinen „Leitwerten“ nichts mehr sagt bzw., im Gegenteil, der Widerstand notwendig (aus der Not gegen die Not) erscheint, erklären sich Widerstandstaten ganz anders. Sogar Selbstmordattentate werden dann „vernünftig“. Wie ehemals in den frühen Kirchen, gewinnt der Märtyrer mit seiner Tat nicht nur einen besonderen Status, er vermag auch widerständig zu handeln. Das fängt an bei der Selbstverbrennung (CSSR, Tibet etc.), die noch eher symbolisch war, trotz ihrer Realität, hört bei den effektiven Selbstmordaktionen islamistischer Widerstandskämpfer nicht auf.

Facebook und Co. sind Einrichtungen, die vordergründig Privatheit fördern, aber nur in einer bestimmten, systemstabilisierenden Form. In der Abrichtung, Kontrolle und Manipulation geht es natürlich um Ein- und Anpassung. Es ist die aktivste Form der Gleichschaltung in einer pseudoegalistischen Welt. Das verhindert aufs Ganze gesehen und in weiterer Zukunft echten Widerstand, weil die Observation frühzeitig systemgefährliche Tendenzen und Entwicklungen meldet und die Regimes alerter danach handeln lässt.

Die Erkenntnis dieser gegenwärtigen Ausgangslage lässt einen auch grausige Vorkommnisse, wie sie der IS unternimmt, in einem anderen Licht sehen. Ich plädiere dafür, die Augen nicht zu verschließen und aus verständlichen Abwehren und Empörungen die Kehrseiten nicht zu übersehen. Eine dieser Kehrseiten ist die Botschaft, dass auch den höchstentwickelten Gesellschaften und ihrer hochkomplexen Waffen- und Überwachungstechnik ohne gleichwertige Ausrüstung erfolgreich Widerstand entgegengesetzt werden kann.

Wen die stärkste Macht der Welt, die waffenstarrenden USA, empfindlich auf vielen Kriegsplätzen getroffen werden kann, wenn jahrzehntelange Okkupationen den Feind, die islamistischen Widerständler, ganz gleich, wie sie heißen, nicht zu bezwingen vermögen, so liefert das einen Hoffnungsschimmer. Denn die Botschaft heißt, entgegen allen Unterdrückungsbemühungen: Widerstand ist möglich.

Klar, man muss sich die Verhältnisse genau ansehen, die Kosten beschauen und „verrechnen“. Das unternehmen auch unsere Regime, in den USA, in Israel, in der EU usw. usf. Aber allein die Tatsache, dass die technisch modernsten Regimes den Widerstand nicht total auslöschen können, ist bemerkenswert. Die Folgerungen aus dieser Tatsache werden zwar nicht debattiert. Unsere meist eingebetteten Medien befleißigen sich einer anderen Offenheit und Logik.

Aber die Allianz der Observierer, Kontrolleure und Manipulateure ist so wenig alleinherrschend und erfolgreich, wie ihre Militärs es sein wollen. Es sind auch nicht primär die smarten Intellektuellen, die den Widerstand propagieren oder leisten, es sind die „Proles“. Das ist auch siebzig Jahre, nachdem Orwell seine Dystopie verfasste, bemerkenswert.

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