Haimo L. Handl
Kehrseiten
Uns geht es gut. Im Allgemeinen. In der westlichen Welt und
in vielen Teilen der anderen. Es geht uns nicht nur gut, sondern immer besser.
Sagen die Statistiken. Obwohl Vieles im Argen liegt. Denn wesentliche Werte
sind relativ und nicht absolut, die der Armut, die der politischen
Partizipation, die der Selbstverwirklichung. Wir vergleichen dauernd.
Einen extrem starken Einfluss auf den „Fortschritt“ hat das
positivistische Denken, das sachbezogene, naturwissenschaftliche, insbesondere das Ingenieursdenken. Es verspricht messbare
Sicherheit bzw., wenn schon Unsicherheit, dann messbare Unsicherheit, bereit,
gelöst zu werden.
Der Fortschritt schreitet nicht nur voran, er rast, flutet,
überschwemmt, begräbt unter sich, was sich in den Weg stellt. Die Verwaltung
der Menschen gewinnt Formen und Ausmaße, die bis anhin unvorstellbar waren. Die
Kontrolle jener, die man früher „Mächtige“ nannten, wuchs und wächst ins schier
Unermessliche. Es gibt fast keine Rückzugsmöglichkeiten mehr, es gibt fast
nichts Privates mehr. Alles ist offen, kontrolliert, überwacht. Was früher
„Gleichschaltung“ genannt wurde, ist heute viel ausgereifter,
fortschrittlicher. Und, ganz wichtig, nicht direkt an totalitäre
Gesellschaftsformen gebunden. Die Überwachungsmaßnahmen der Diktaturen,
totalitären Regimes und sogenannter Demokratien westlichen Stils haben sich
nicht nur angeglichen, sich richten sich auch mittels gemeinsamer, neuester
Techniken rasant entwickelnd aus.
Dabei geht es nicht nur um Facebook und seine Hilfen für Überwachungsregime, sondern überhaupt um hochentwickelte Techniken Künstlicher Intelligenz, die einerseits den Konsumenten abrichten, manipulieren und kontrollieren, sondern auch von staatlichen Einrichtungen (Polizei, Militär), die in „Friedenszeiten“ Wähler beeinflussen und lenken bzw. Bürgerinnen und Bürger „erfassen“ und kontrollieren, wie es früher die Geheimdienste und geheimen Staatspolizeien wegen ihrer Technik nicht vermochten. Heute ist die Horrorvision, wie sie George Orwell in seiner Dystopie „1984“ entworfen hat, Wirklichkeit geworden bzw. überholt. Das Bild von Big Brother“ ist fast verniedlichend gegenüber den Formen der Machtinstanzen, die heute das Regime führen. Orwell sah in seiner Vision noch einen Hoffnungsschimmer: die Proleten.
Dabei geht es nicht nur um Facebook und seine Hilfen für Überwachungsregime, sondern überhaupt um hochentwickelte Techniken Künstlicher Intelligenz, die einerseits den Konsumenten abrichten, manipulieren und kontrollieren, sondern auch von staatlichen Einrichtungen (Polizei, Militär), die in „Friedenszeiten“ Wähler beeinflussen und lenken bzw. Bürgerinnen und Bürger „erfassen“ und kontrollieren, wie es früher die Geheimdienste und geheimen Staatspolizeien wegen ihrer Technik nicht vermochten. Heute ist die Horrorvision, wie sie George Orwell in seiner Dystopie „1984“ entworfen hat, Wirklichkeit geworden bzw. überholt. Das Bild von Big Brother“ ist fast verniedlichend gegenüber den Formen der Machtinstanzen, die heute das Regime führen. Orwell sah in seiner Vision noch einen Hoffnungsschimmer: die Proleten.
If there was hope, it must lie in the proles,
because only there, in those swarming disregarded masses, eighty-five percent
of the population of Oceania, could the force to destroy the Party ever be generated. The Party could not
be overthrown from within. Its enemies,
if it had any enemies, had no way of coming together or even of identifying one
another. Even if the legendary Brotherhood existed, as just possibly it might,
it was inconceivable that its members could ever assemble in larger numbers
than twos and threes. Rebellion meant a
look in the eyes, an inflection of the voice; at the most, an occasional
whispered word.
But the proles, if only they could somehow
become conscious of their own strength, would have no need to conspire. They
need only to rise up and shake themselves like a horse shaking off flies. If
they chose they could blow the Party to pieces tomorrow morning. Surely sooner
or later it must occur to them to do it.
Der damaligen Technologie entsprechend (1948), war auch in
der dystopischen Vision die Totale Kontrolle nicht wirklich vorstellbar. Man
hatte den Totalen Krieg erlebt, aber das Nazireich war besiegt worden. Man
hegte Hoffnung, das andere totalitäre Regime der Bolschewiken ebenfalls
überwinden zu können. Dass die Gefahr aber nicht aus dem Osten oder von der
Planwirtschaft kommen werde, sondern vom Westen, dem sich höher entwickelnden
Kapitalismus, war noch nicht ausgemalt und in seinen Ausmaßen abseh- und
erwartbar.
Viel umfassender und tiefgehender gelingt heute die
Überwachung, Kontrolle und Lenkung. Der Unterschied zu totalitären Regimes und
blanken Diktaturen zeigt sich wesentlich in der freiwilligen Kollaboration der
Massen, die um eines vermeintlichen Vorteils willens freiwillig ihre Daten
hergeben und eine gigantische Datenvermarktung in allen Facetten erst
ermöglichen. Das gab es nie zuvor. Es gibt gegenwärtig einige Kritik an
gewissen Diktaturen und ihren Zensurbemühungen und Verfolgungen, wie in der
Türkei oder besonders in China. Aber es wird nicht wirklich bewertet, was die
Datensammlungen und Kontrollen westlicher Geheimdienste, insbesondere der NSA
oder MI5 und MI6, ausmachen und wohin die „Partnerschaften“ mit Facebook und
Google bzw. Amazon führen werden.
Die Kontrolle und Manipulation ist so tiefgreifend und
allumfassend, dass das frühere, religiöse Bild vom allwissenden, allmächtigen
Gott, dem nichts, gar nichts, entgeht, der alles observiert und weiß, eine
Renaissance erlebt, aber nicht religiös, sondern ganz profan. Was sich
Widerstand nennt oder zu nennen versucht, ist vom System entweder geduldet oder
schon in Vorbereitung der Umfunktionierung, der Unterminierung und Auflösung.
Es gibt, anscheinend, keinen realen Widerstand. Hier korrespondieren die
höchstentwickelten Staaten des „Westens“ mit den schlimmsten Diktaturen und
totalitären Regimes.
Von daher wird Orwells Hoffnung besonders interessant. Er
selbst war kein Prolet. Was ihn hoffen ließ, gerade in der Unterschicht ein
Widerstandspotential zu sehen, war die Kehrseite, das Gegenüber dem
hochtechnisierten Großen Bruder, dessen Herrschaft besonderer Technik bedurfte,
neben den penetrierenden Abrichtungsmaßnehmen (viele sahen oder sehen die
verschiedenen Erziehungs- oder Umerziehungsmethoden als „Bildungsbeitrag“) zur Herstellung
und Verfestigung der korrekten Sklavenmoral und des entsprechenden
Mitläuferverhaltens. Die Proleten hatten nichts zu verlieren, nur zu gewinnen.
Sie konnten eine Portion „Irrationalität“ einsetzen, die kein
wissenschaftliches System planend bestimmen konnte, die nicht vorweggenommen
kontrolliert werden konnte. Die Rationale war und ist: jene, die profitieren,
wagen nichts, machen mit. Jene, die nichts haben, vegetieren und bekämpfen sich
selbst, werden nicht zur Systemgefahr.
Aber sobald die Proleten aus der Vereinzelung, der instrumentalisierten Pseudoprivatheit, herauszutreten wagten, konnten sie systemstörend wirken, weil ihr Widerstand „unvernünftig“ bzw. „irrational“ erschien. Wenn einer Gruppe von Leuten die Vernünftigkeit des Systems mit seinen „Leitwerten“ nichts mehr sagt bzw., im Gegenteil, der Widerstand notwendig (aus der Not gegen die Not) erscheint, erklären sich Widerstandstaten ganz anders. Sogar Selbstmordattentate werden dann „vernünftig“. Wie ehemals in den frühen Kirchen, gewinnt der Märtyrer mit seiner Tat nicht nur einen besonderen Status, er vermag auch widerständig zu handeln. Das fängt an bei der Selbstverbrennung (CSSR, Tibet etc.), die noch eher symbolisch war, trotz ihrer Realität, hört bei den effektiven Selbstmordaktionen islamistischer Widerstandskämpfer nicht auf.
Aber sobald die Proleten aus der Vereinzelung, der instrumentalisierten Pseudoprivatheit, herauszutreten wagten, konnten sie systemstörend wirken, weil ihr Widerstand „unvernünftig“ bzw. „irrational“ erschien. Wenn einer Gruppe von Leuten die Vernünftigkeit des Systems mit seinen „Leitwerten“ nichts mehr sagt bzw., im Gegenteil, der Widerstand notwendig (aus der Not gegen die Not) erscheint, erklären sich Widerstandstaten ganz anders. Sogar Selbstmordattentate werden dann „vernünftig“. Wie ehemals in den frühen Kirchen, gewinnt der Märtyrer mit seiner Tat nicht nur einen besonderen Status, er vermag auch widerständig zu handeln. Das fängt an bei der Selbstverbrennung (CSSR, Tibet etc.), die noch eher symbolisch war, trotz ihrer Realität, hört bei den effektiven Selbstmordaktionen islamistischer Widerstandskämpfer nicht auf.
Facebook und Co. sind Einrichtungen, die vordergründig Privatheit fördern,
aber nur in einer bestimmten, systemstabilisierenden Form. In der Abrichtung,
Kontrolle und Manipulation geht es natürlich um Ein- und Anpassung. Es ist die
aktivste Form der Gleichschaltung in einer pseudoegalistischen Welt. Das
verhindert aufs Ganze gesehen und in weiterer Zukunft echten Widerstand, weil
die Observation frühzeitig systemgefährliche Tendenzen und Entwicklungen meldet
und die Regimes alerter danach handeln lässt.
Die Erkenntnis dieser gegenwärtigen Ausgangslage lässt einen
auch grausige Vorkommnisse, wie sie der IS unternimmt, in einem anderen Licht
sehen. Ich plädiere dafür, die Augen nicht zu verschließen und aus
verständlichen Abwehren und Empörungen die Kehrseiten nicht zu übersehen. Eine dieser
Kehrseiten ist die Botschaft, dass auch den höchstentwickelten Gesellschaften
und ihrer hochkomplexen Waffen- und Überwachungstechnik ohne gleichwertige
Ausrüstung erfolgreich Widerstand entgegengesetzt werden kann.
Wen die stärkste Macht der Welt, die waffenstarrenden USA,
empfindlich auf vielen Kriegsplätzen getroffen werden kann, wenn
jahrzehntelange Okkupationen den Feind, die islamistischen Widerständler, ganz
gleich, wie sie heißen, nicht zu bezwingen vermögen, so liefert das einen
Hoffnungsschimmer. Denn die Botschaft heißt, entgegen allen
Unterdrückungsbemühungen: Widerstand ist möglich.
Klar, man muss sich die Verhältnisse genau ansehen, die
Kosten beschauen und „verrechnen“. Das unternehmen auch unsere Regime, in den
USA, in Israel, in der EU usw. usf. Aber allein die Tatsache, dass die
technisch modernsten Regimes den Widerstand nicht total auslöschen können, ist
bemerkenswert. Die Folgerungen aus dieser Tatsache werden zwar nicht
debattiert. Unsere meist eingebetteten Medien befleißigen sich einer anderen
Offenheit und Logik.
Aber die Allianz der Observierer, Kontrolleure und
Manipulateure ist so wenig alleinherrschend und erfolgreich, wie ihre Militärs
es sein wollen. Es sind auch nicht primär die smarten Intellektuellen, die den
Widerstand propagieren oder leisten, es sind die „Proles“. Das ist auch siebzig
Jahre, nachdem Orwell seine Dystopie verfasste, bemerkenswert.
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