Freitag, 9. November 2018

Karl Kraus & Alfred Kerr & Kriegsgedichte & Wiedergutmachung

Befriedung

Wir leben im Zeitalter der Befriedung und da geziemt es sich, Rechenschaft abzulegen, wie weit ich mich schon der vorherrschenden Tendenz angepaßt habe und welche Zugeständnisse ich ihr noch zu machen gewillt bin, ohne meine destruktive Weltansicht geradezu zu verleugnen; wie weit ich also dein Geschmack des Publikums entgegenkommen könnte, ohne den Anhang zu enttäuschen. In dem Weltkrieg, in den ich mich aus Motiven, die mir heute nicht mehr erinnerlich sind, eingelassen habe, empfiehlt sich nach und nach der strategische Rückzug, der unstreitig auch seine Reize hat und sie namentlich zwei markanten Fällen meines polemischen Wirkens abgewinnen läßt. Er gewährt die Möglichkeit der Retablierung, ja der Rückkehr zum heimischen Herd der Sprachlehre und sonstigen kleinen Themen. Indem mir nichts übrig bleibt als die Überlegenheit eines Gegners anzuerkennen, der wehrlos seine Position behauptet, hoffe ich noch manche Entschädigung an Sätzen zu haben, die mir Freude machen, wenn sie von mir, und noch mehr Freude, wenn sie von andern sind. Ich habe ja nie gewußt, ob der Zustand, in den ich da gerate, Sieg oder Niederlage ist. Zweifellos gelingt mir doch, die bürgerliche Wirklichkeit, indem ich sie bloß bei ihrem Wort nehme, so zu vergeistigen, daß sie sich in das angestammte Nichts auflöst. Ich lasse sie in die Schlinge ihrer Redensart treten, ich lege ihr die eigenen Tonfallstricke; sie fällt herein, aber sie weiß es nicht und will es nicht wissen. Die üble Nachrede, die ich ihren Honoratioren halte, ist nichts als ein gutes Nachreden. Doch eine Welt, in deren Unwissenheit mir eben solches gelingt, ist so geartet, daß sie sich aus dem Nichts, in das ich ihren Schein zurückführe, standhaft materialisiert. Ich gebe mich gar keiner Täuschung über diesen Mißerfolg hin: wissend, daß ich zwar noch imstande wäre, in einem Auditorium, das so groß wäre wie die Welt, sie zum Lachen über sich selbst, zum Schaudern vor sich selbst zu bringen, solange ich vor ihr stehe; daß ich aber darüber hinaus nicht Macht hätte gegen eine Wirklichkeit, die, um fortleben zu können, eben den geistigen Mechanismus braucht, den zu dekomponieren mir nur scheinbar gelingt. Kein Franz-Moorisches Mittel des schreckenden Hohns vermöchte diesem zähen Leben ein Ende zu machen, und die vollkommenste Gabe, es in den Zustand der Lächerlichkeit zu versetzen, versagt vor der ungeheuren Apparatur, die sich das Nichtswürdig-Würdige, das Mächtig-Niederträchtige zugelegt hat; vor der Presse, durch die das Unbeschreibliche getan ist; vor dem raffinierten Zauber der Vervielfältigung, mit dem das Einfältige zum vorleuchtenden Paradigma wird. Volleres und Ganzeres wäre nicht denkbar als der Triumph einer Technik, die diesem Betrieb von Macht und Würde die tägliche Deckung aller ethischen und geistigen Blößen besorgt. Wohl, es mag das Todeszeichen einer Kultur sein, daß Lächerlichkeit nicht mehr tötet, sondern als Lebenselixir wirkt. Aber so hält man eben durch, solange das Irdische währt und bis die Nachlebenden die Welt erkennen, auf die sie gekommen sind. Längst sonst und immer wieder müßte man doch sehen, daß diese Typen, aus allem Minus erschaffen, sich verbraucht haben; daß die Attrappen bersten, nicht tragfähig für die Fülle eingeredeten Inhalts; daß das Nichts als Persönlichkeit nicht weiter kann im Bewußtsein der satirischen Kontrolle; daß irgendetwas, ein Rest von Natur, ein Quentchen Scham oder Intelligenz, Gliederpuppen abhält, den oratorischen Plunder, der zum Kinderspott wurde, täglich wie neu zu tragen. Doch es geschieht, daß das Unvorstellbare sich an jedem Tag in ein Wirkliches verwandelt und in ein solches, das die Satire nur als seinen Entwurf erscheinen läßt. Habe ich auf Flügeln des Couplets mich zu der Vorstellung tragen lassen, daß ein Staatsmann am Ende noch zum Ehrenmitglied des Schubertbunds ausersehen sein könnte – schon melden die Blätter, er sei es geworden. Und es ist, als ob dieses ganze Bacchanal von Ehre, das da täglich über ein ahnungsloses Haupt zusammenschlägt und woran das Ausland mit der bekannten Sympathie für die österreichische Operette teilnimmt – als ob dies alles ein Justament der Entschädigung wäre für die unabwendbare Ironie, die im Hintergrund der Zeit lauert, wenn Staatsaktion und Hanswurstspiel ineinanderspielen; ja als wäre es der Vorsatz dieser Wirklichkeit, der Satire ihre eigensten Wirkungen zu entreißen. Zweifellos haben alle diese Würdenträger, die zur Schau gestellten und ihre Helfer, alle, die sich vor mir in Standhaftigkeit gebärden, das Gefühl, auf Glatteis zu jener Tagesordnung zu schreiten, die nichts als Volksbetrug ist; aber da sie sich an der Hand halten, kommen sie hinüber. Wehe, wenn einer fiele; doch alle zusammen vermögen zu tanzen. Und diese Würdewelt, deren Dasein das Fazit eines revolutionären Humbugs ohnegleichen ist, so liefert sie Proben eines Übermuts, der das Tollkühnste nicht verschmäht. Von überall, wo einer liegen müßte, hebt er Ehre auf; mit Blut und Schmutz wird Staat gemacht in jedem Sinne. Vor unsern Augen, die in aller Zeitermüdung nüchtern die leibhaftige Subalternität an Geist und Charakter ausnehmen, ersteht die europäische Figur oder doch ein Symbol der Landesväterlichkeit, entsprechend dem Bedürfnis einer republikanischen Gesellschaft, die durch den Wechsel der Staatsform glücklich die allgemeine Verkaiserung erlangt hat. Daß ich solchen Popanz auf eine Berliner Bühne bringen konnte, wenngleich nur einmal – weil sich ein Machthaber ja doch auf seine Sozialdemokraten verlassen kann –, das schien vorher gewiß unvorstellbar. Ist es aber vorstellbarer, daß Gedankengänge, vor denen die Fibel der Vorkriegswelt zum Labyrinth wird, im Staatsleben außerhalb des eigentlichen Theaters täglich weiter produziert werden? Daß sie die große Politik ausfüllen, nachdem sie im satirischen Abdruck zum Zitat der Feinschmecker geworden sind! Daß ein Handelsvertrag mit dem Anschluß des österreichischen Klassikers Grillparzer an Goethe und Schiller einbegleitet wird, mit der Wendung, es sei doch noch erinnerlich, wie die Minnesänger bei den Babenbergern beliebt waren, und mit der Perspektive, daß die beiderseitigen Händler als »die beiden deutschen Brüder Hand in Hand der Sonne entgegen gehen«? Der Hans Müller ist ein Höllenbreughel dagegen! Ward je ein Ehrendoktor geschaut, der die Ehrung mit nichts anderm zu quittieren wüßte als »mit einem ehrlichen deutschen: Ich danke schön«? Unvorstellbar mag dies alles sein, aber es ist wirklich, und die wahre Popularität erscheint heute in dem Umstand begründet, daß ein Wiener Hausmeister sich nicht mehr den Hals verrenken muß, wenn er zu der Geistigkeit emporblickt, die auf der Menschheit Höhen wohnt. Nein, nicht die moralische Unwirksamkeit sei beklagt, die es durch den zwingendsten Nachweis nicht vermocht hat, eine Konfrontierung mit dem bürgerlichen Ehrbegriff herbeizuführen. Wie wäre das möglich gewesen angesichts des großen moralischen Guthabens bei der Bürgerwelt, das durch das Blut von neunzig Proletariern erworben ward? Aber daß ein intellektuelles Kaliber, das auf zwei Gebärden und drei Phrasen eingerichtet ist, so siegreich aus der satirischen Fassung in die Wirklichkeit zurückkehren konnte, das ist das Phänomenale. So lastet der Rotationsdruck auf den Gehirnen, daß er sie zu jeglicher Duldung bezwungen hat, und diese Wirklichkeit ist nur der grausige Schein, der dem gedruckten Wort entstammt, und möge es nichts enthalten als das Nichts; und hinter dem der Sachverhalt des Nichts unkenntlich wird. Wer, der an dieser Wirklichkeit wirkt und leidet, hätte noch das Ohr für den Hohn, daß der eigentliche Urheber eines Zaubers, der solchen Glauben an den Retter und Erneuerer Österreichs bewirkt hat, ein Erpresser, Dieb und Kuppler ist? Jener Lippowitz, der die Leistung um den Preis vollbracht hat: der Toleranz eines Schandgewerbes, das sich im Gegensatz zu dem journalistischen Geschäft ja doch der Mißachtung durch eine bürgerliche Moral erfreut, als deren Hüter die Heimwehr auf dem Plan erschien. Verhüte Gott, daß dieser Lippowitz die einzige Autorschaft, die ihm zuzuschreiben ist, die an der Gestalt Schobers, enthülle, wie soeben Ludendorff sich der Erschaffung Hindenburgs gerühmt hat!
Wir leben im Zeitalter der Befriedung und man glaubt, ich wäre der einzige Mensch in Mitropa, der sich ihr bis heute zu versagen wußte. Mit nichten. Ich habe vor Schober, an dem sich die Erfolglosigkeit meines negativen Wirkens in geradezu vorbildlicher Weise bewährt hat, in kleinem Druck beigegeben, und ich bin im Begriffe, auch mit jenen faden Fehden, die auf Berliner Boden spielen, Schluß zu machen, weil ich mich zu der Einsicht durchgerungen habe, daß es herzlos wäre, vor einer Materie, die so von friedmenschlichen Empfindungen durchströmt ist, fernerhin unerbittlich zu bleiben. Ich will mich nicht mir der Auffassung anbequemen, die man in Deutschland von Polemik hat als einem Zwist, in den zwei ernste Männer coram publico aus unbegreiflichen Ursachen geraten sind, nein, ich will auch dem Rat des Kadi, zu dem ich gegangen bin, folgen, die Streitaxt begraben und statt so unproduktiver Beschäftigung lieber die Friedenspfeife, vollständig entnikotinisiert, ergreifen. Ich bin also entschlossen, die Pazifizierung des Alfred Kerr, die sowohl was den Krieg anlangt wie in puncto Reinhardt bereits gelungen ist, auch bezüglich meiner Person so durchzuführen, wie ich es versprochen habe. Aus dem Umstand, daß die am 28. September 1928 angekündigte scharfe Antwort und Abfuhr, leicht kartoniert 2 Mark, bis heute nicht erschienen ist und insbesondere die Besteller von je 10 Exemplaren mit 50 Prozent Sonderrabatt das Nachsehen haben, entnehme ich, daß überall schon eine Stimmung der Duldsamkeit platzgegriffen hat und speziell er selbst mir nichts mehr nachträgt – höchstens gelegentlich etwas zwischen den Absätzen eines Theaterfeuilletons. Nach Haag, wo die letzten Mißverständnisse bereinigt wurden, die von den faden Fehden um den Weltkrieg übrig geblieben waren und wo die reinen Lamperln neben den Löwen gegrast haben, wäre es einfach unverzeihlich, sich der Befriedung zu widersetzen, der die Welt noch in diesem letzten Punkt entgegenharrt. Es handelt sich hier wie dort nur noch, wie man gleich sehen wird, um finanzielle Fragen, Lappalien von Kriegsschulden – ein Tineff, verglichen mit dem großen Gegenstand, um den es geht. Mit dieser Rechnung werden die Seelennöte, an denen der alte Gegner leidet, die Gewissensqualen, die seiner Widerstandskraft härter zusetzen als mein Angriff, restlos, wenngleich nicht schmerzlos beseitigt sein. Man täuscht sich in mir, wenn man wähnt, ich wäre unbarmherzig. Das ist ein ebensolches Vorurteil wie das mit der Eitelkeit. Nein, ich bin nicht so, sondern anders, und es leben Zeugen dafür, daß mir der Zustand, in dem sich ein armer Sünder befindet, der noch heute bei Premieren an den Krieg denken muß, ehrlich nahe geht. Wenn er immer wieder beteuert, er habe etwas bereits im, im, im Krieg gesagt, mitten im Krieg, doch, doch, doch, und weil, weil, weil er den Mord gekannt habe, sei er ein Friedmensch geworden, der immer schon gegen, gegen, gegen den Krieg eingestellt war, so halte ich das einfach nicht aus und ich würde es ihm glauben, auch wenn ers nicht nicht nicht dreimal sagte. Immer wieder flicht er bei den unpassendsten Gelegenheiten ein, daß er »den Krieg leidenschaftlicher als jemand (im Krieg!) bekämpft« habe, lebenslang für die Zivilisierung der Menschennatur gearbeitet, vorher, nachher »und währendessen, währenddessen, währenddessen«. Das ist ja, alles wahr, aber diese Angstschreie des armen Sünders vor dem jüngsten Gericht, diese Rufe in den Tumult des Friedens, diese traumwandlerischen Gebärden des Täters, der immer uni den Tatort kreist, sind doch weit weniger Alibi als Indiz. Immer, immer, immer meldet er sich als Freiwilliger zum Nichtkriegsdienst, steht da wie einer, der sich selbst an die Wand gestellt hat, springt dem dramatischen Kriegsgegner bei, springt den an, der heute annähernd dasselbe versucht, was er im, im, im Krieg getan hat, ja schrickt nicht davor zurück, Friedensgedichte zu schreiben. Hellhörig hat er das verderbliche Kriegsgerassel einer Inszenierung wahrgenommen, den mörderischen Tonfall vom August 1914, mit dem der Piscator die »Rivalen« am laufenden Band aufzog; denn wie keiner weiß er, wie man die Masse rhythmisch besäuft und wie man, wenn das Vaterland ruft, durch ein Mitrufen in den so entstehenden Tumult zu sekundieren hat. Er sagt die Wahrheit, er leidet, und ich will mich ihm als Samariter nähern. Ich will ihm helfen, die moralische und logische Konsequenz aus seiner Reue und ins seiner Gewissensnot zu ziehen. Es ist wahr, daß er mitten im Krieg für die Menschheit besorgt war und in Zeitschriften, die dieser Sorge offen waren, seine Gefühle angedeutet hat, die sicherlich mehr die eines Europäers als eines Hakenkreuzlers waren. Aber was wird durch die unaufhörliche Reklamation bewiesen? Je glaubhafter er es machen kann, daß diese Partie seiner publizistischen Tätigkeit im Krieg seine echte, seine zuständige, seine wesentliche war, umso offenbarer, offenkundiger und skandalöser wird doch die Mechanik seines Coupletbetriebs im Dienst der nationalen Zeitungsfirma, der der ehrliche Pazifist im im im Krieg, von dessen erstem bis zum letzten Tag, seine Feder verdungen hat. Wenn er währenddessen, währenddessen, währenddessen für die Zivilisierung der Menschennatur gearbeitet hat und man ihm das gern glauben will, umso brüsker muß doch seine Leistung für Scherl hervortreten, dem er für 30 bis 50 Mark fast täglich Verse geliefert hat wie:
Peitscht sie, daß die Lappen fliegen!
Zarendreck, Barbarendreck!
Peitscht sie weg! Peitscht sie weg!
Wie den Wunsch nach
Bandwurm, Hühneraugen, Krätze,
zur Ernährung schimmelfeuchtes Stroh
und noch Rheumatismus im Popo.
Wie den schmählichen Spott für hungernde russische Kriegssklaven, Söhne von Müttern, von denen »dreitausend Stücker fest von uns gefangen« seien und für die er die Weisung gab:
Hütet nun die struppige Beute,
Wanzenpulver nicht vergessen!
Und »bewahrt das Licht«, ihr Leute,
Weil sie jeden Wachsstock fressen.
Ich mache den Sänger dieser Verse, nachsichtig wie ich bin, heute nur mehr auf den Widerspruch aufmerksam, in dem doch solche Kriegsproduktion zu den unleugbaren und gleichzeitigen Bekenntnissen seiner Friedmenschlichkeit steht, und darauf, daß je größeren Wert er auf diese legt, umso zwingender der Schluß auf den industriellen Ursprung jener erfolgen müßte. Ein Hingerissensein des holden dichterischen Schwachsinns wie bei den Hauptmann und Dehmel ist dem Individuum, das sich selbst der Besinnungsfähigkeit mitten im Krieg rühmt, keineswegs zugutezuhalten. Mit dieser Petite hat das linksradikale Literatentum, das den Herrn Kerr heraushauen wollte, bei mir kein Glück gehabt, und sie wird vollends zuschanden an seinen unaufhörlichen Nachweisen, wie er schon dies und jenes mitten im Krieg erkannt habe und seit jeher gegen, gegen, gegen usw. Er beklagt sich, wenn man ihm seine Missetaten vorhält, über »schwachgeistige Entstellungsversuche«; aber wenn er es mir nicht verboten hätte, 500 Gottlieb-Gedichte nachzudrucken, so wollte ich gerechter Weise auch seine sämtlichen pazifistischen Verkündungen, die in der gleichen Epoche erschienen, als Vorwort drucken, um die Wirkung jener Scheußlichkeit zu erhöhen! Sein Blatt hat sich kürzlich über ein Russengedicht von Rudolf Herzog erregt, das in einem deutschen Lesebuch gedruckt ist; das heißt wohl: im Hause des Gehenkten von einem Bindfaden sprechen, denn verglichen mit der Russenlyrik des Mitarbeiters atmen jene Verse eine Humanität, wie er sie mitten im Krieg betätigt hat. Kein Zweifel, unser Tänzerich wollte, anders als in der Anekdote, mit zwei Hintern auf einer Bluthochzeit tanzen. Aber die kriegerische Partie ist ja nur darum so widerwärtig, weil, weil, weil man ihm die andere mehr glaubt. Da er aber an diesem Zwiespalt, den er so schwachgeistig ist, immer wieder wahrheitsgetreu darzustellen, schwer leidet, so will ich ihm einen Vorschlag zur Güte machen. Dieses aus dem Schlafsprechen bei Premieren, diese Seufzer, die eine Kriegsschuld bezeugen und zugleich ausdrücken, wie schwer ich ihm das Leben gemacht habe – dies alles kann auf die Dauer weder seinem Herzen Erleichterung schaffen noch mir Genüge. Es gibt nur ein Mittel – jenes, das Peter Altenberg in allen Lagen des Lebens als Arznei erkannt und empfohlen hat: Geld! Ich verlange Geld, dann kann er Ruhe von mir haben und vom Krieg! Man sieht, ich wende das Mittel vorbildlicher Erpresser an, die leider dahingegangen sind. Man erschrecke nicht, ich brauche das Geld des Kerr nicht etwa für das Theater ohne Presse, das ich ins Leben rufen möchte, sondern für einen andern wohltätigen Zweck, welcher mehr der Sphäre gemäß ist, in der die zu sühnende Tat spielt. Ich erkläre also: Alfred Kerr kann sich die Ruhe, die er braucht, erkaufen. Ich werde ihm nie mehr seine Kriegslyrik vorhalten wie jetzt den Revolver, durch den ich ihn zu einer Guttat zwingen will. Ich werde es nie mehr sagen, daß er mich bei Gericht des Landesverrats im Weltkrieg beschuldigt hat. Nie mehr, daß er heimlich den Tiroler Antisemitenbund gegen mich ins Treffen geführt hat. Nie mehr, daß er der Tischfreund der ungarischen Regierung war. Nie mehr, daß er das Andenken Karl Liebknechts besudelt hat. Nie mehr selbst, daß er seine Antwort nicht erscheinen ließ. Ich werde ihn nie mehr den größten Schuft, den größten Feigling, ja nicht einmal den größten Schriftsteller im ganzen Land nennen. Wenn er – also wenn er mir das Plakatieren nicht einstweilig unmöglich gemacht hätte, so würde ich mit inbrünstiger Hoffnung auf besseren praktischen Erfolg, als ich ihn in einem andern Fall erzielt habe, öffentlich kundtun, daß ich ihn auffordere, abzutreten – nein, man erschrecke nicht, er möge weiter der unbeeinflußbare Kritiker Reinhardts bleiben, der er immer war – also: abzutreten 20 000 Mark an die Kriegsblinden und Invaliden, annähernd die Summe (genau könnten nur er und Scherl sie errechnen), die er zwischen 1914 und 1918 mit 500 bis 600 Stücker Gottliebs à 30 bis 50 Mark verdient hat! Mein Revolver kann sowohl als die Streitaxt, die ich begrabe, aufgefaßt werden, wie als die Friedenspfeife, die ich rauchen will. Ich bin überzeugt, daß Kerr sich nicht lumpen lassen wird, sondern dankbar einen Vorschlag annimmt, der mit der unmittelbar sittlichen Bestimmung ihm Gelegenheit gibt, vor der Zivilisation, für die er gearbeitet hat, eindeutig seine Haltung im Krieg zu bestimmen, mit einem Griff eine Seelenlast von sich zu tun und mit allem Hader dem Mißverständnis ein Ende zu machen, als hätte er sich mit jener kriegerischen Produktion, an der er im Herzen nicht beteiligt war, bereichern wollen. Wenn seine Hand bietet, was sie nach all dem Jammer der Menschheit und nach dem seinen noch schuldig ist – werde ich sie zur Befriedung von uns zwei und allen ergreifen!

NACHSCHRIFT
 
Die Rechnung stimmt. Mit 20 000 Mark hat, wie mir nachträglich einfiel, der Dichter beim Berliner Zivilgericht den Wert des Streitgegenstands angegeben, als er die einstweilige Verfügung erlangte, durch die er dem Abdruck der Kriegsgedichte vorbeugen wollte.


(Aus: Karl Kraus: Vor der Walpurgisnacht. Aufsätze 1925-1936)


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