Donnerstag, 8. November 2018

Karl Kraus & Rilke & Hofmannsthal & Barockzeit

Aus der Barockzeit

Eine Frau v. Nostitz-Wallwitz, die als Gattin des sächsischen Gesandten nicht allein aktiven Anteil am Weltgeschick hatte, sondern auch in den düstersten Wiener Kriegsjahren die Fahne der ästhetischen Schmockerei hochhielt und der es gelungen ist, beim »Thee« mit tout Vienne außer mit mir in Verbindung zu treten, kann, wo alle, die man vergessen möchte, Erinnerungen schreiben, die Hände nicht in den Schoß legen, sondern tut desgleichen. Und gibt, im Insel-Verlag, ein Buch heraus, durch welches dargetan wird, welche kulturelle Feinschmeckerin wir in Frau Nostitz-Wallwitz zugleich mit dem Krieg verloren haben, welchen Mittelpunkt einer Welt, in der es von Begriffen wie Zuckerkandl, Barock, Hugo Heller nur so flimmert. Mit einer Inbrunst, die an die hieratischen Gesten von irgendwem gemahnt, wenn sich der Erzbischof von Salzburg mit Reinhardt irgendwie berührt und das Ganze wie in Canaletto oder Waldmüller getaucht ist mit etwas Pantherfellen der Leibgarde und den Klängen der Burgmusik, aber schon ganz voll karessanter Sehnsuchten nach der müden Grazie um die Menschen und Dinge, wie sie der frühe Hofmannsthal hat oder der späte Salten; kurz, mit jener Auskennerschaft, die namentlich den Sächsinnen eignet, wenn sie sich in den Wiener Salons umtun, betrauert sie den Hingang der alten Kultur in einer Welt der revolutionären Lebensnot. Noch viel feiner als der Ästhet aus Breslau, den ich einst ins Wiener Leben geträumt habe und der gleich den Fiaker beim Nordbahnhof fragte, wo man hier Barock sehen könne, hat sie das Beste vom Besten abgeschöpft, hat mit Gesellschaft und Literatur verkehrt, aber nur mit den feinsten Spitzen und ehe diese, sei es durch die Revolution, sei es durch mich, etwas stumpf wurden. Und teilt nun als Mädchen aus der Fremde nicht nur jedem eine Gabe aus, indem sie das Schönste von ihm zu sagen weiß, sondern hat auch von jedem einen Ausspruch empfangen, der in den meisten Fällen allerdings unvergeßlich ist. Ich habe in das »Alte Europa« – so heißen die Erinnerungen der Nostitz – nicht tieferen Einblick getan, einerseits weil ich schon am alten Europa genug habe, anderseits aber, um mich nicht zu sehr aufzuregen und auch nicht mit der Nostitz vom Schmerz übermannt zu werden, daß, wo der Kaiser sein Recht verloren hat, nichts ist. Nur einige Leckerbissen habe ich im Umblättern gefischt.
Es versteht sich von selbst, daß sie, die viel mit den Menschen und Dingen in literarische Berührung gekommen ist, auch in Weimar war, wo sich aber gleichfalls manches verändert hat und sie mit Hofmannsthal und Rilke statt des einen Goethe vorliebnehmen mußte.
In dem Tiefurter Park fielen auch die ersten Worte von Hofmannsthal ... über den »Rosenkavalier«, neben der murmelnden Ilm.
Was sie wohl gemurmelt haben mag? Und welchen Ausspruch tat Hofmannsthal? Die Nostitz berichtet:
Ich weiß nicht, ob bei einem dieser Weimarer Spaziergänge mit Hofmannsthal nicht auch das Wort von ihm fiel: »In der Kunst und in der Liebe sind wir drinnen, sonst stehen wir immer außen.«
Aber wie sollen wir's denn wissen, ob es fiel? Ich weiß nicht einmal, wie das mit Herrn Hofmannsthal und der Kunst ist, nämlich ob er drinnen ist; oder vielmehr, ich weiß es doch. Was nun Rilke betrifft, so ließ er beim Spazierengehen in der Tiefurter Allee, wiewohl daselbst noch manches von Goethe lag, auch etwas fallen, was die Nostitz aufgehoben hat. Er hatte vorher in Jena eine Vorlesung gehalten, von der ihr das Folgende in Erinnerung geblieben ist:
Rilke zog langsam dunkelgraue Handschuhe aus und erhob ein mildes tiefblaues Auge auf seine Zuhörer, die das übrige Gesicht auslöschten.
Rätselhafte Vorgänge an einem Leseabend, bei mir waren solche vorbereitende Handlungen nie zu beobachten. Dann aber las Rilke und zwar aus »Malte Laurids Brigge«:
Es war wieder, wie bei allen entscheidenden Äußerungen, eine Sprache, die die geheimsten Welten im eigenen Innern zum Klingen brachte. Es machte sich ganz von selbst, daß wir den Abend nach der Vorlesung zusammen verbrachten, und dann kam er nach Weimar.
Wie man das nur macht, daß sich das ganz von selbst macht! Aber wir sind schon auf den Ausspruch gespannt, den Rilke fallen lassen wird, denn man ist doch nun einmal auf Goethe-Terrain.
Ich sehe uns dort langsam auf der Tiefurter Allee wandern ... Auf der Höhe sähe man die Eisenbahnen wie Spielzeuge durch die Kornfelder fahren, meinte Rilke. Die sanfte Beschaulichkeit ließ uns viel sinnen und beglückt zum Ausdruck bringen. Der Tiefurter Park mit der sanften Musik der murmelnden Ilm nahm uns auf ...
Was die nur immer zu murmeln hat! Vielleicht die Frage, ob nicht dafür wieder Kinder Spielzeuge für Eisenbahnen halten. Oder ob er nicht vielmehr die Postkutschen im Auge hatte. Und jedenfalls, wann sich denn die Herren Hofmannsthal und Rilke auf ihre ellenhohen Socken machen und auf eine Italiänische Reise begeben würden.
Die Dame, die also im Tiefurter Park reiche Entschädigung dafür gefunden hat, daß Goethe aus dem Hoheitskreise schwand, und sichtlich ein eckermännisches Behagen ob der empfangenen weisen Worte nicht unterdrücken kann, widmet nun zwei einander benachbarte Kapitel – aber das wird man nicht erraten: Hugo Heller und Hindenburg. Das ist wohl daraus zu erklären, daß sie zwar eine geborene Hindenburg ist, aber wie eine geborene Heller fühlt. Sie spricht von »Hugo Heller, mit der großen Locke auf der Stirn«, dem andern aber rühmt sie »eine erhabene Ruhe, wie die Tiefe des Waldes« nach, macht also ziemlich dioskurische Wahrnehmungen. Natürlich hat sie in jenen bewegten Tagen auch den Philosophen Pannwitz kennen gelernt, der, vor Keyserling wirkend, »die Unrast der Zeit verkörperte«, aber genug von dieser hatte, um alle Hauptwörter mit kleinen Anfangsbuchstaben zu schreiben. Ein interessantes Erlebnis:
Ich entsinne mich noch einer gemeinsamen Fahrt im Tramwagen. Auf dem vereisten Boden rutschten wir aus und fielen hin.
Der fiel also gleich als Ganzer, und ließ trotzdem noch Aussprüche fallen:
Er aber sprach, unbekümmert, über die größten Fragen weiter auf uns ein. In ihm spiegelte sich schon der neue Menschentypus der Unrast, der in der Verwirrung der Welt nicht genügend Form findet, um das Gleichgewicht zu gewinnen ...
Auf der Wiener Elektrischen, besonders dazumal, kein Wunder. Pannwitz lebte in Rodaun; demnach ist zu bemerken:
Hofmannsthals sinnende Vertiefung stand oft ratlos vor dieser eruptiven Gewalt, die dort sprengen wollte, wo er noch an Aufbau glaubte.
Also der Fall Goethe-Kleist, wie er im Büchel steht. Da aber vom Erhabenen zur Zuckerkandl nur ein Schritt ist, so lesen wir:
Diese Heiterkeit, von der man in Wien so viel spricht und die mich manchmal wehmütig stimmte, fand man wirklich bei ihr.
Das glaub ich gern.
Dieses Tanzende, von der Nietzsche als höchster und seltenster Tugend spricht.
Wenn die Zuckerkandl wirklich das letzte Entwicklungsprodukt der Nietzsche-Philosophie vorstellt und ihr das Tänzerische anhaftet, das einem in dieser so auf die Nerven fällt, so müßte wohl Bahr der entsprechende Dionysos sein, was sich jedoch mit seinem Auftreten in Salzburger Kirchen nicht gut vertrüge, woselbst er auf die Knie zu fallen pflegt. Von ihm ist aber, soweit ich sehe, kein Ausspruch vorhanden, wiewohl doch die Barockfülle, über die die Nostitz verfügt, geradezu nach einem solchen schreit. Vielleicht ist einer von Rilke ihm abhanden gekommen, nämlich der über die Landschaft bei Rodaun,
in der, wie er sagt, die Wege so besonnen zu Kirchen führen.
Derlei gehört indes schließlich auch zu den »Dingen, die noch da sind um Rilke«, wie ferner ein stilles Gartenbaus mit verstaubten Stühlen und Bildern, zart-wehmütigen Geheimnissen und dergleichen, während man in der Nachbarschaft bei Hofmannsthals mehr sanft rosa Barock-Räume mit matten Lampen und Kerzen liebt. (Warum die Herren es sich so unkommod machen, indem sie für ihre Arbeit verstaubte Stühle und schlechte Beleuchtung brauchen, begreife wer kann.) Hofmannsthals Häuslichkeit beschreibt die Nostitz prägnant:
Hier wird Österreichs Seele gespürt und gehütet.
Alles ist so k'wiß zwischen Taxus und Taxis gehalten, der Hausherr spricht, er lobt die Wiener Gesellschaft, die noch ein Gsicht hat, und ich sehe förmlich seine Habsburgerlippe. Vermutlich hat seine Villa nebst Telephon auch eine theresianische Padstuben. Die Nostitz selbst ist auch gut untergebracht, sie wohnt zwar im Hotel, hat aber natürlich ein Schlafgemach, das mit allem Komfort der Vergangenheit eingerichtet ist und mit seinen verschossenen rotseidenen Möbeln, der goldenen Pendüle und den barocken Stuckdecken – Glück muß man haben – »an den ersten Akt des Rosenkavaliers erinnert«. Und alles klappt:
Schon öffnet sich am Morgen leise die Tür, und ein bettelnder Mönch tritt ein, der erste Gast des »grand lever«.
Noch künstlerisch bunter geht's aber bei der Zuckerkandl zu, bei der Sitzungen stattfinden, wenn sie nicht gerade das Tanzende hat. Die Nostitz entwirft davon ein anschauliches Bild:
Meist fand man sie auf ihrem langen Divan sitzend, umgeben von jungen Malern, Dichtern und Musikern, die sich immer wohl bei ihr fühlten, weil eine lösende, schwingende Luft dort wehte.
Wenn das meine Mänaden für den Dialog in »Literatur« gehabt hätten, ausgesorgt hätten sie gehabt. Die Nostitz ist hier ganz in ihrem Element, sie erzählt von den erlesenen Menschen und Dingen, die es in den Soireen bei Heller gab, wo der Fürst, wie es sich gehört, mit dem Sänger ging, und das macht ja eben die aparte Mischung ihres Wesens aus, daß sie nicht nur die Welt kennt, »wo sie eine Schönborn ist«, sondern auch die, wo er ein Schmock ist. Der Überschwang der Nostitz reicht in die Höhen des Kunstgenusses, wurzelt jedoch in der Eigenart einer »Gesellschaft«, die sich selbst als solche bezeichnet und sich gemeiniglich daran erkennt, daß sie nicht die Eroika, aber Eiskaffee »adoriert«.
Von diesen Delizien der Zuckerkandl und nachdem die Nostitz auch schon eine Variante des in Deutschland beliebtesten Gedichtes von Goethe versucht hat, nämlich:
Über allen Wipfeln ist Ruh
– offenbar mit der Fortsetzung »In allen Gipfeln spürest du« –,wendet sie sich der Betrachtung robusterer und mehr nach der Renaissance gearteter Naturen zu wie dem Monschy Sternberg, von dessen Macht über Wien sie zu erzählen weiß, daß ihn sein Hund »auch ins Theater begleitete«:
Denn der Hund des Grafen Sternberg hatte in Wien überall Zutritt.
In diesem Punkte haben sich die Zeiten insofern geändert, als jetzt der Hund des Grafen Sternberg nur noch ohne Begleitung seines Herrn Zutritt in die Wiener Theater hat. Aber auch er scheint keinen Gebrauch mehr davon zu machen, wenigstens behaupten die Direktoren, daselbst keinen Hund gesehen zu haben.
Da die Nostitz jedoch für den ganzen Reichtum an Formen, den die Welt aufweist, empfänglich ist, so schwärmt sie nicht nur für den Grafen Sternberg, sondern auch für die Duse, die von einer mehr zarteren Struktur war. Hier stellt sie freilich eine Frage, die man ihr schwer beantworten kann:
Warum werde ich diese Hände nie vergessen?
Offenbar, weil sie »nicht zum begrüßenden Händedruck bereit waren«, sondern »nur in den seltenen, höchsten Stunden leise berührt werden wollten«. Wie anders wieder bei Klimt und doch nur scheinbar anders, denn er begrüßte zwar die Nostitz (der der Besuch bei ihm durch die Gesellschaft der Zuckerkandl »zu einem besonders farbigen Ereignis wurde«) mit derber Hand, aber diese stellte doch bekanntlich wieder Frauen dar, die wie Orchideen sind. So ist das Leben voller Gegensätze, und diese Erkenntnis bildet auch den Niederschlag eines spannenden Kapitels, welches »Ein merkwürdiger Abend« betitelt ist. War da nämlich ein Graf K., der sich über die Weltordnung »Gedanken gemacht hatte« (was ja vorkommen kann), und der führte die Nostitz zu dem Vortrag eines Freundes aus Deutschland,
der über soziale Probleme sprach und über den ungeheuren Drang nach vorwärts, der den Besitzlosen innewohnt.
Ein Beispiel dafür bot sich sofort:
Der Wunsch, noch im Gespräch zusammenzubleiben, leitete uns von dort unvermittelt ins Sacher ...
Das eigentlich Merkwürdige kommt aber erst. Also was tan mr jetzt? Jetzt ging's zu einer Soiree ins Palais Schwarzenberg, wo selbstredend viel Barock war. Die Barockdecken wölbten sich und an den Spieltischen saßen die Frauen, deren Barockbusen sich wölbte, mit herrlichem altem Schmuck behangen und deshalb von einer Schar junger Leute umgeben. (Nur will es die Tücke des Objekts, daß eine solche Barockkennerin wie die Nostitz bei dieser Gelegenheit von
Vischer von Erlachs
köstlichem Bau spricht.) Sie setzte sich aber mit dem Grafen K. in den großen Kuppelsaal – eine leise Walzermelodie drang herüber, wie denn auch nicht.
Wir schwiegen, denn die Atmosphäre dieses vielleicht letzten großen Wiener Festes der Art war so stark, daß ein Erlebnis daraus wurde.
Nämlich in dem Sinne, in dem alles, was die Literatinnen erleben, »ein Erlebnis« ist, weshalb denn auch kein Wort häufiger bei der Nostitz vorkommt als dieses. Und was tan mr jetzt?
Dann kam der junge Spanier,
von dem war noch nicht die Rede – es war aber nur der junge Spanier schlechtweg, nämlich
der auf einem großen Fest nie fehlen darf, und setzte sich zu uns.
Und was tan mr jetzt? Nichts, fertig, das allein macht ja schon das Merkwürdige des Abends aus. Aller äußere Hergang ist bereits erzählt, so bleibt nur noch die Erkenntnis, die die Nostitz davon ableiten kann, indem doch zu jedem Erlebnis eine Erkenntnis gehört. Sie sann und bringt es beglückt zum Ausdruck, wie damals, als sie mit Rilke langsam in der Tiefurter Allee wanderte:
Zusammenhanglos wie dieser Abend ist oft das Leben mit seinem Zauber und seiner Tragik. So dachte ich, als wir spät in der Nacht l angsam über den Schwarzenbergplatz auf unser Haus zugingen, während unter den Sternen die mächtigen Fontänen vor dem Palais kaskadenartig herniederrauschten.
Wem sagen Sie das, würde Reinhardt erwidern, von dem im Buch der Nostitz geschrieben steht, daß es, wenn der Vorhang aufgeht, wie der stille Auftakt einer Beethovenschen Symphonie ist, »der nicht zu kurz und nicht zu lang sein darf«. Zu Beginn von »Clavigo« »wußte man gleich, daß er nicht fähig sein würde, die Treue zu halten«, nämlich Clavigo.
Aber wie war es möglich, daß dieser Tisch, diese Stühle, dieses Schreibzeug alle davon erzählten?
Das frag ich mich auch. Und die Bücher, die dalagen, die Bilder an der Wand:
Sie vibrierten alle und nahmen die Schwingungen auf, die Ihnen Clavigo mitteilte.
Zu einem guten Teil, denk ich, wird Autoschmockerei mit im Spiel gewesen sein. Von dem der Eysoldt war die Nostitz dermaßen erschüttert, daß sie »das Theater verlassen mußte«. Das ging nicht anders:
Hier war etwas aufgerissen und offenbart, das kaum zu ertragen war.
Frauen wie die Nostitz-Wallwitz haben ein schweres Leben. Sie suchen die Kunst auf, es macht sich ganz von selbst, und müssen vor ihr fliehen. Sie sind überall dabei, um in Ohnmacht zu fallen; es macht sich ganz von selbst. Der leiseste Eindruck, ob man ihnen nun etwas vorgeigt oder sonst vormacht, genügt, damit sie aufschreien, so schwer bedrückt sie an der Kunst »das Erlebnis«, das entweder ein jähes Sterben oder ein langsames Verflackern sein kann, je nachdem. Beim Zahnarzt geht es ganz schmerzlos, mit Anästhesie – bei der Kunst bleiben sie ästhetisch, und wenn man da an den Nerv kommt: pumpsti! Eine Zeitlang hat auf die Patientinnen der bloße Name »Rilke« verheerend gewirkt, und jene hat zwischen Rodin und Rodaun alle Ekstasen mitgemacht, die heutzutag zu haben sind. Ich glaube, wenn sie auch noch meine Vorlesungen besucht hätte, wäre sie eine Hauptmänade geworden, man hätte sie jedesmal aus dem Saal tragen müssen; es hätte sich ganz von selbst gemacht. Denn sie ist vom Stamme jener Asra, welche sterben, wenn sie in einen Saal kommen. Dabei tun sie natürlich bei Lebzeiten ihre ungesunden Empfindungen in den hinein, der sie geweckt hat, und vermuten fälschlich eine Identität der Ekstasen. Nichts ist leichter, als in ihren Augen einer zu sein, der so »schwer ringt« wie sie. Überhaupt muß jeder ringen, damit sie was erleben. Ich nehm's gewiß mit einem Satz ernster als ein anderer mit einem Buch, aber daß ich mir für das Thema die Brust zerfleische, ist eine übertriebene Vorstellung, deren Verwirklichung durch die Hörerin ich beklagen müßte, wenn nicht die Unaufhörlichkeit dieses Selbstmordes doch eine gewisse Beruhigung zuließe und wenn ich nicht die Gewähr hätte, daß sie gegebenen Falles auch bereit wären, für Moissi und Wildgans zu sterben. So die Nostitz für Reinhardt. Aber ihr analog scheint wieder er zu empfinden und während er wahrscheinlich darüber nachdachte, ob es günstiger wäre, sich künftig mehr auf Kathedralen zu verlegen oder auf Warenhäuser, sich im Zirkus zu produzieren oder auf dem ungesattelten Hochaltar, »empfand er seine Aufführungen wie Symphonien«. Denn sein Reich ist nicht von dieser Welt, sondern von jenner, und bei der Probe sitzt er da,
das Haupt gebeugt, nur auf die Klangfarben der Stimmen hörend, als wären es Violinen.
Wenn sie es aber nicht sind, kann man auch nichts machen. Die Shakespeare-Szenen »bestimmte er bis zum Tragen eines Milchtopfes«.
Denn auch der Milchtopf, die Art wie er hineingetragen wurde,
(der Milchtopf)
gehörte zu diesem großen, vielfarbigen Weltbild, das er
(Reinhardt)
darstellen wollte bis ins Kleinste ...
Was sich nun gar im Sommer in Salzburg tut mit Barock, scharlachroten Herolden, »goldschimmernden Fanfaren«, Kirchenglocken, Orgeln und rauschenden Schwingungen, spottet so jeder Beschreibung, daß keine Beschreibung mehr dessen spotten kann. Und die Feste in Leopoldskron sind eine Kleinigkeit? Da erstirbt der Nostitz das Wort, denn sie waren einfach »szenisch komponiert wie seine Aufführungen«, und man kann zu ihrem Ruhm nur sagen:
... ich glaube nicht, daß die Frau mit dem schwarzen oder die mit dem blonden Haar sich leicht in den falschen Stuhl gesetzt hätte.
Könnte man mehr von einem genialen Führer künden? Wie jämmerlich sah daneben der gleichzeitig geführte Weltkrieg aus! Was doch schon Franz Joseph erkannt hat, von dem die Nostitz ein in seiner ritterlichen Schlichtheit überaus charakteristisches Wort überliefert:
Im Laufe des Gesprächs sagte er dann wohl zum sächsischen Gesandten mit der skeptischen Grazie des Grandseigneurs: »Eleganter ist der Krieg auch nicht grad worden« und bewegte die Hand mit vornehmer négligence.
Er war, bemerkt die Nostitz, »ganz zum Symbol der Kaiserwürde geworden«. Leider waren die Stimmungen bei seinem Ableben geteilt, und in diesem Punkte bietet sich der Nostitz endlich auch Gelegenheit, einen Ausspruch von mir zu zitieren, wiewohl sie ihn selbst nicht empfangen hat und auch sonst kein Zeuge für ihn vorhanden ist:
Oft hat aber der Karl Kraus über sein Wien recht, wenn er zitiert: »Du, sag mal, wann ist die Beisetzung vom Kaiser im Stephansdom? Warst heut im Kino?« und dann wieder das Rührende, daß die Konfektioneusen bei der Spitzer weinen über ihren Kaiser mitten im Sprechen über Kleider.
Das dem Karl Kraus zugeschriebene Zitat ist nicht nur dadurch erfreulich, daß nun doch, von so einer Autorin überliefert, etwas Geflügeltes von mir bleiben wird, sondern es erinnert auch durch die Perfektion, mit der ich mich schon in die Wiener Tonart eingelebt habe, an das Wort, das einst Harden der Gattin eines Seppl, der im Eulenburg-Prozeß Belastungszeuge war, in den Mund legte »Was ging's dich an, Tropf damischer?« Die Nostitz wäre aber der historischen Wahrheit ebenso nahegekommen, wenn sie den Konfektioneusen bei der Spitzer, in deren Kreis ich als ein Wahrzeichen der Stadt geraten bin, das Zitat über ihr Wien zugeschrieben und mich hätte über meinen Kaiser weinen lassen. Nur dürfte sie nicht meine Tränen beim Blättern in ihren Memoiren mißdeuten; so wenig wie ja anderseits, wenn ich mich anschicke auf die literarische Würde des Insel-Verlags zu pfeifen, dies als Ausdruck einer muntern Laune zu verstehen wäre.
Aber ist es denn der Nostitz zum Lachen, wenn sie das Erlebnis hat, wie alles Barock rings um sie verfällt, wie eine unheimliche Gewalt »das Lächeln der Liebesgötter verdrängt«, im Belvedere Arbeiterfamilien wohnen und die Empfänge bei der Metternich nicht mehr das sind, was sie einmal waren? Da vermag selbst das Versprechen des Grafen Sternberg, das er ihr mit erhobener Stimme zurief: »Wir bleiben doch die großen Herrn!« keine Zuversicht mehr zu erwecken. Wohl, dieser letzte Ritter hat in düsteren Zeiten ihren Mut gestählt, und so schwer es mitten in den sich überstürzenden Ereignissen war, die gesellschaftliche Tageseinteilung durchzuführen, es ist ihr gelungen, wie der zusammenfassende Satz dartut:
Nach der Revolution trafen wir ihn auf dem Kärntnerring.
Und immer rief er ihr auf dem Kärntnerring etwas Tröstliches zu, zeigte ihr schon von weitem seine Visitkarte, auf der bestätigt war, daß sein Adel ihm von Karl dem Großen verliehen wurde, »seine Lache schallte weithin; dann zog er halbzerstreut weiter, seinen breiten Körper wiegend«, da er offenbar schon vor der Revolution gefrühstückt hatte. Aber vermochte Sternbergs Lache auf die Dauer für das Lächeln der Liebesgötter Ersatz zu bieten? Es war eine ernste Zeit, und die Nostitz, die das sehr wohl fühlt, nimmt sich denn auch kein Salonblatt vor den Mund. Denn bei allem ästhetischen Sinn entbehrt sie keineswegs des sozialen Empfindens und wie sie in den Tagen des Umsturzes an der Seite Rothschilds, langsam, über seine Terrasse wandelte, fühlte sie bereits hinter sich den Bolschewismus schleichen. War es doch die Zeit, wo ältere Kapitalisten schweren Hauptes bei Tische saßen, Speis und Trank verschmähend, und aus ihren Angstträumen auffuhren mit dem jähen Entschluß: »Vergroben!« Wer konnte denn heute noch wissen, ob das, was er gestern gestohlen hatte, ihm nicht morgen genommen würde? Und dann die Sorge um die Kultur! Jedem war schließlich damals der Gobelin näher als der Rock. Das Erlebnis jener Zeit dürfte, soweit ich nachgeschaut habe, in jeder Zeile der Nostitz eingefangen und hierauf zum Klingen gebracht sein. Und wenn sie nicht müde wird, jeden einzelnen Wiener Palast mit der gefährlichen Zeitstimmung zu kontrastieren, so läßt sich ihr Seelenzustand vielleicht am besten in die Formel zusammenfassen, die man einer Wiener »Komteß« verdankt, also einer von jenen, deren Welt die Nostitz Versinken sieht und die doch, wie ein Landsmann der Nostitz aussagte, noch beim Auftreten Girardis im Burgtheater Fiaker umarmt haben. Sie schilderte die Stimmung einer verlobten Freundin, die zwei Tage von ihrem Bräutigam getrennt war, und schrieb, diese sei
äußerlich gefaßt, innerlich deschperat!!


(Aus: Karl Kraus: Vor der Walpurgisnacht. Aufsätze 1925-1936)
 

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