Haimo L. Handl
Die Sprachpolizei
Die Wochenzeitschrift THE NATION, das älteste
ohne Unterbrechung erscheinende Weekly der USA (gegründet 1865), hat sich einen
vielbeachteten Namen als linksliberales, emanzipatorisches Organ erworben, das
immer unerschrocken für die Presse- und Meinungsfreiheit eintrat und worin
berühmte Autoren publizierten. Jetzt gibt dieses Blatt klein bei dem shit storm
und den rüpelhaften Aufstößen in den social media einer ideologisch
fragwürdigen Horde von Ultrakonservativen einerseits, von PCs, politisch
Korrekten, PoCs, Persons of Color, wie man die Schwarzen jetzt nennt, und
Vertreterinnen der gender force oder gender police, und übt sich in einem
Kotau, der äußerst peinlich ist und ein horribles Bild vom Wertverlust und
Niedergang offener Kultur in diesem Land belegt. THE NATION knickte ein,
streckte die Waffen und winselte in einer Selbstkritik, die unwürdig ist. Der
Mob hatte wieder einmal gesiegt.
Am 5. Juli veröffentlichte die beiden
verantwortlichen poetry editors des Blattes, Stepanie Burt, Professorin in
Harvard, und Carmen Giménez Smith, Virginia Tech, ein Poem von Anders
Carlson-Wee, dessen Geburtsdatum auch auf seiner Homepage nicht zu finden ist,
weil er es, kokett wie ein unreifes Mädchen vom Lande, versteckt, einem in
Minnesota geborenen Weißen, der in verschiedenen namhaften Journalen und
Magazinen schon veröffentlicht hat und von dem nächstens sein erstes Buch
erscheinen soll. Die Fotos, die ihn als den typischen Jungen aus dem
Mittelwesten zeigen, deuten auf einen eher jüngeren Jahrgang.
Das Poem „How-To“ ist in einer Anlehnung, wenn
nicht Übernahme der typischen schwarzen Sprache, des Black English, des AAVE, African-American
Vernacular English, geschrieben. Ohne hier über seine poetische Qualität
urteilen zu wollen oder zu müssen, löste weniger die poetische Qualität,
sondern primär die offensichtlich unlautere Übernahme oder Inbesitznahme einen
Sturm der Entrüstung aus. Es handelte sich um den Tatbestand der cultural
appropriation, der Übernahme von Elementen einer Minderheitskultur durch einen Angehörigen
der Mehrheitskultur. Für politisch Korrekte stellt dies eine
postkolonialistische Ausbeutung dar, die verboten gehört bzw. sozial geächtet
werden soll. Die Ächtung erstarkt über die social media und greift munter um
sich.
How-To
If you got hiv, say aids. If you a girl,
say you’re pregnant––nobody gonna lower
themselves to listen for the kick. People
passing fast. Splay your legs, cock a knee
funny. It’s the littlest shames they’re likely
to comprehend. Don’t say homeless, they know
you is. What they don’t know is what opens
a wallet, what stops em from counting
what they drop. If you’re young say younger.
Old say older. If you’re crippled don’t
flaunt it. Let em think they’re good enough
Christians to notice. Don’t say you pray,
say you sin. It’s about who they believe
they is. You hardly even there.
say you’re pregnant––nobody gonna lower
themselves to listen for the kick. People
passing fast. Splay your legs, cock a knee
funny. It’s the littlest shames they’re likely
to comprehend. Don’t say homeless, they know
you is. What they don’t know is what opens
a wallet, what stops em from counting
what they drop. If you’re young say younger.
Old say older. If you’re crippled don’t
flaunt it. Let em think they’re good enough
Christians to notice. Don’t say you pray,
say you sin. It’s about who they believe
they is. You hardly even there.
Nach dem Proteststurm gaben die beiden
Redakteurinnen klein bei und entschuldigten sich. Die fadenscheinigen
Argumente, der Stil des Kotaus, sind es wert zitiert zu werden. Das Poem wurde
zwar nicht entfernt, aber „The editor‘s note“ wurde nachträglich vorangestellt:
As poetry editors, we hold ourselves responsible for the ways in which
the work we select is received. We made a serious mistake by choosing to
publish the poem “How-To.” We are sorry for the pain we have caused to the many
communities affected by this poem. We recognize that we must now earn your
trust back. Some of our readers have asked what we were thinking. When we read
the poem we took it as a profane, over-the-top attack on the ways in which
members of many groups are asked, or required, to perform the work of
marginalization. We can no longer read the poem in that way.
We are currently revising our process for solicited and unsolicited
submissions. But more importantly, we are listening, and we are working.
We are grateful for the insightful critiques we have heard, but we know that
the onus of change is on us, and we take that responsibility seriously. In the
end, this decision means that we need to step back and look at not only our
editing process, but at ourselves as editors.
Zuerst gehen sie auf die Sprache des Gedichts
ein, die plötzlich unannehmbar scheint, weil “herablassend” (disparaging) und
„discriminierend“ (ableist) sei. [Im Urban Dictionary heißt es zu diesem Terminus: 1/ A person or People
who discriminate or social prejudice against people with disabilities. It can
also be someone who judges or makes fun of someone with a disability or
handicap. 2/ A term used by people who are bitterly angry that other people are
able to do shit. 3/ Someone, who like the Misogynist, hates people with
physical appearances but yet denies it. A misogynist is against both the
feminists and the feminazis. However, the ableist has the illogical mindset
that involves all people with disabilities as mental retards, contends that
they be fixed, and believes they get infected with being a retard if they come
in contact with them.]
Dieses Gedicht verletzt also schon durch seine
Sprache, die ein Vergehen oder einen Straftatbestand erfüllt. Dann bereuen die
Redakteurinnen ihren schweren Fehler und beteuern ihr Bedauern über die
Schmerzen, die sie so vielen damit bereitet haben. Sie werden die Prozeduren
der Auswahl und Bewertung ändern. Und, ganz wichtig, sie hören (hören als
Vorstufe des Gehorchen) und sind am Arbeiten. Sie sind dankbar für die
inhaltsvollen Kritiken, und sie nehmen ihre Verantwortung sehr ernst. Sie
triefen direkt vor Sozialverantwortung – und man ist dankbar, dass es nicht aus
dem Monitor tropft…
Als ich das las, war ich perplex. Bis anhin
kannte ich solchen Ton aus den unseligen Tagen der Sowjetzeit oder der
paranoiden DDR, wo Angeklagte sich einer rückhaltlosen Selbstkritik unterzogen
und öffentlich abschworen, sich duckten und beugten und Besserung versprachen,
alles in einem unwürdigen winselnden Ton, geängstigt nachgebend, bettelnd. Doch
in den USA forderte kein Gericht, keine Parteiführung, kein Führer, kein
Zentralkomitee den Kotau. Die braven Professorinnen übten sich in, was in
Österreich „vorauseilender Gehorsam“ genannt wird, einer Ducker-Eigenschaft von
Untertanen, in völligem Widerspruch zur amerikanischen Kultur. So meinte ich
zumindest. Aber das Regime der politisch Korrekten, der unduldsamen Minderheitenvertreterinnen
scheint so stark geworden zu sein, dass alte, positive Traditionen ausgehebelt wurden
und werden und Vertreterinnen eines bis anhin linksliberalen Blattes kuschen.
Es zeigt zudem, dass Bildung und Sozialstand (beide sind Professorinnen) keine
Garantie für Rückgrat, aufrechten Gang oder Courage sind. Die Duckmäuserinnen,
die elenden Angepassten, haben sich überall festgefressen und winseln und
heulen. Scum.
Eine Kolumnistin der NATION, Katha Pollitt,
veröffentlichte über Twitter ihre Verwunderung über diese Vorgangsweise: „“I
can’t believe @thenation’s poetry
editors published that craven apology for a poem they thought was good enough
to publish,” … it „looks like a letter from re-education camp.“
Frau Pollitt hat immerhin die Courage das Kind
beim Namen zu nennen und verwundert den Vergleich mit dem Umerziehungslager zu
stellen. Der Poet mit den schönen Fotos im Netz entschuldigte sich ebenfalls
pflichtbewusst „Treading anywhere close to blackface is horrifying to me, and I
am profoundly regretful“. O je. Er will ja Karriere machen. Er will positiv
auffallen, verkaufen und gepriesen werden. Er will kein „Fall“ werden. Der
Arme.
Am 6. August, einen Monat nach dem Anlassfall,
äußerte sich in der New York Times Grace Schulman (geboren 1935). Sie war von
1971 bis 2006 poetry editor bei THE NATION, und ist selbst eine anerkannte,
vielfach gepriesene Lyrikerin, die enorm viele Preise und Auszeichnungen erhalten
hat. Sie vertritt den alten Geist, wie man ihn kannte und heute vermissen muss.
Sie kritisierte vehement diese feige Reaktion der beiden Redakteurinnen und
bedauert das Ende der offenen, emanzipatorischen Tradition; sie leitet ihren
Artikel ein mit einer Reminiszenz und führt dann besorgt und enttäuscht aus:
During the 35 years that I edited poetry for The
Nation magazine, we published the likes of W.S. Merwin, Pablo Neruda, May
Swenson, Denise Levertov, James Merrill and Derek Walcott. They wrote on
subjects as varied as lesbian passion and nuclear threats. Some poems, and some
critical views, enraged our readers and drove them to drop their subscriptions.
But never did we apologize for a poem we published. We
saw it as part of our job to provoke our readers — a mission we took especially
seriously in serving the magazine’s absolute devotion to a free press.
Apparently the magazine has abandoned this storied
tradition.
I was deeply disturbed by this episode, which touches
on a value that is precious to me and to a free society: the freedom to write
and to publish views that may be offensive to some readers.
In my years at
The Nation, I was inspired by the practical workings of a free press. We lived
by Thomas Jefferson’s assertion that “error of opinion may be tolerated where
reason is left free to combat it.”
How far we have
come from those idealistic, courageous days.
Ja, wie weit ist es gekommen, wie tief ist die
Kultur gesunken? Das frage ich mich auch und, wahrscheinlich, viele andere. Es
geht nicht nur um sogenannte korrekte Sprache, um Minderheiten und ihren Schutz
bzw. ihre Abgrenzungsbedürfnisse und besonderen Zuwendungen. Es geht auch nicht
primär um den verabscheuungswürdigen Opferkult, der die westliche, feige,
wertentleerte Kultur heute auszeichnet. Es geht auch um das Phänomen von
Sprache und Deutungshoheit, von Literatur und Sprachbesitz, von Absonderung,
Rache und Feindschaft.
Sprache ist ein Symbolsystem, das nur durch
die Sprachgemeinschaft und deren Gebrauch funktioniert und lebt. Sie ist nie
Besitz einer Person oder eines Kollektivs, auch wenn solche Ansprüche immer
wieder erhoben worden waren. Manche, besonders Vertreter von Minderheiten
sozialer oder ethnischer Provenienz, argumentieren, dass Sprache eine bestimmte
Kultur mit ihren Werten, eine besondere Sicht vorgebe. Sie sehen die Sprache
als Wertdeterminator, die Sprechende als Opfer und Vollzugsorgan. Als ob
Sprache kein eigenes Denken und Sprechen erlaube.
In der Auseinandersetzung mit Carlson-Wee’s
Poem war in Twitter zu lesen: „Don’t use
AAVE. Don’t
even try it” “Know your lane.” [Roxane Gay]. Deutliche Warnung. Versuchs nicht einmal. Klingt wie die Spießerweisheit
“Schuster, bleib bei deinem Leisten.” In der Debatte kamen auch
Minderheitenpoeten zu Wort, die alle im gleichen Tenor die Anmaßung der
Appropriation verurteilten. Man fragt sich, wie diese intoleranten Engstirnigen,
diese Anwälte der eigentlichen Wahrheit und besonderen Sprache sich verhielten,
wenn den Persons of Color oder anderen Minderheiten der Zugang zur verrufenen
„weißen“ Bildung verwehrt würde, wie es lange geschah, wenn ihre
Sprachsozialisation außerhalb ihres Dialekts behindert würde. Auch wenn diese
Protest- und Trotzhaltung historisch gesehen verständlich ist, bleibt sie dennoch untauglich und, vor allem, unhaltbar, und zwar besonders sprachlich,
bildnerisch, literarisch.
Auch wenn Nationen aus chauvinistischen
Gründen gewisse Autoren und Autorinnen „reklamieren“, Deutungshoheit über ihre
Werke beanspruchen, können sie die Freiheit, dass alte und zeitgenössische
Werke jedem gehören, der sie liest, nicht aufheben. Sie können beeinflussen,
beanspruchen, mehr nicht. Sie können Debatten beleben, auch wenn sie dümmlich
sich mit sogenannten Nationalcharakteristika abgeben. Aber sie können
dankenswerterweise keine volle Kontrolle ausüben. Cervantes und Don Quijote
gehören nicht nur den Spaniern. Auch wenn ich die Spanier nicht mögen würde,
sogar wenn ich sie verabscheute, würden sie mir „meinen“ Don Quijote nicht
nehmen können. Ich lese auch als Atheist theologische Traktate, wühle in
Angelius Silesius, ich ergötze mich an Thoreau oder Twain, an Borges oder
Steiner, entzünde mich an Dostojewski oder Heidegger, an Racine oder Paz. Was
soll’s? Es braucht kein Führungszeugnis, keinen Leumundsausweis, um dies oder
das zu lesen. Und wenn eine Sprache etwas entfernter ist, der Beowulf z.B. oder
die Sonette von Shakespeare, so helfen einem Wörterbücher. Ich weise jede
offizielle Deutung, die vorgibt verbindlich zu sein, zurück. Ich wähle.
Ungerecht, aber selbstsicher; es gibt keine Gerechtigkeit, es gibt kein
Spracheigentum.
Man muss sich die Anmaßung dieser Gutmenschen
vorstellen: Eine Frau schreibt aus der Frauensicht. Sie hat alleine deshalb
schon recht. Ein Mann darf nur aus seiner Sicht schreiben. Er ist verdächtig, hat meist unrecht. Das gilt auch für
Nationalitäten: Wechsle nie die Sicht, bleib immer drinnen im nationalen
Schrebergarten, schau nie in hinaus über die Gartenzwergewelt. Das alles ist
Humbug. Die ganze Welt steht offen, jede Sprache erlaubt jedes Denken. Nur die
Schwachen, die sich im Leid suhlenden Opfer, versuchen aus ihrer Begrenztheit
eine Tugend zu machen.
Würde dieser Dummheit konsequent gefolgt,
hätten wir überhaupt keine Bildung, keine Entwicklung, keine Innovation. Diese
falschen Selbstbeschränkungen der Behinderten und Niederen, der Opfer, ist
rigide zu widersprechen.
Sprachen verändern sich. Sie wachsen und
verarmen. Das Urteil hängt von Wertmaßstäben ab. Sind sie fundiert, kann man
argumentieren. Sobald aber Ideologie (falsches Bewusstsein) diktiert, gibt es
keine annehmbaren oder zu widersprechenden Argumente mehr, sondern nur noch
Politik, Machtkampf.
Dahinter liegt auch das Verstehen, dass über
Sprache Politik gemacht werden kann, die Realität verändert werden kann. Früher nannte man das Vorrang des
Überbaus, der Ideen, vor der Materie. Das kann nicht gut gehen. Der verbrämte
Idealismus mündet in einen Ungeistterror. Würden seine Vertreter ein bisschen
nur die Geschichte kennen oder versuchen aus ihr zu lernen, ahnten sie
vielleicht, wie untauglich Überbaumaßnahmen zur Veränderung der Basen, der konkreten
Realitäten, sind.
Die Naturwissenschaften fügen sich nicht
ideologischen Vorgaben. Das mussten die Nazis erfahren, die Bolschewiki und die
Maoisten. Und viele andere. Im Kulturellen, besonders im Sprachlichen, scheint
das eher möglich, zumindest nach Meinung der Kurzdenker und Schwärmer. Aber sie
täuschen sich. Die unseligen Sprachpolitiken folgten den totalitären,
diktatorischen Politiken. Sie waren Beiwerk und nie Voraussetzung für die
Kollektivierung oder die totale Verwaltung. Ohne konkrete, echte
Sanktionsgewalt wirkt das Wort nicht. Was wirkt, sind die Mächte hinter der
Sprache, die Politik, die Tyrannei, der Terror, die ausweglose Lage, die Not,
der Hunger.
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