Mittwoch, 15. August 2018

Goethe – Weltliteratur


Eine Aufzeichnung von Johann Peter Eckermann über ein Gespräch mit Goethe

[Kurzanmerkungen von H. L. Handl in eckigen Klammern]


1827, 31. Januar.
Mit Johann Peter Eckermann


Bei Goethe zu Tische. »In diesen Tagen, seit ich Sie nicht gesehen,« sagte er, »habe ich vieles und mancherlei gelesen, besonders auch einen chinesischen Roman, [englisch als: Chinese Courtship] der mich noch beschäftigt und der mir im hohen Grade merkwürdig erscheint.« – »Chinesischen Roman?« sagte ich. »Der muß wohl recht fremdartig aussehen.« – »Nicht so sehr als man glauben sollte,« sagte Goethe. »Die Menschen denken, handeln und empfinden fast ebenso wie wir, und man fühlt sich sehr bald als ihresgleichen, nur daß bei ihnen alles klarer, reinlicher und sittlicher zugeht. Es ist bei ihnen alles verständig, bürgerlich, ohne große Leidenschaft und poetischen Schwung und hat dadurch viele Ähnlichkeit mit meinem ›Hermann und Dorothea‹ sowie mit den englischen Romanen des Richardson. 

[Das Fremde ist nur bedingt fremd und lässt sich "entfremden", eingemeinden, einverleiben. Wie ein Fremdwort, das in der eigenen Sprache übernommen wird, sich verwebt und Teil wird. Das Allgemeine, Universelle des Menschlichen wird schon damals von Goethe betont. Heute ist genau dieser Moment obsolet in einer krankhaften Überbetonung des Partikularen, des Besonderen.]

Es unterscheidet sich aber wieder dadurch, daß bei ihnen die äußere Natur neben den menschlichen Figuren immer mitlebt. Die Goldfische in den Teichen hört man immer plätschern, die Vögel auf den Zweigen fingen immer fort, der Tag ist immer heiter und sonnig, die Nacht immer klar; vom Mond ist viel die Rede, allein er verändert die Landschaft nicht, sein Schein ist so helle gedacht, wie der Tag selber. Und das Innere der Häuser so nett und zierlich wie ihre Bilder.[43] Z.B. ›Ich hörte die lieblichen Mädchen lachen, und als ich sie zu Gesichte bekam, saßen sie auf feinen Rohrstühlen.‹ Da haben Sie gleich die allerliebste Situation, denn Rohrstühle kann man sich gar nicht ohne die größte Leichtigkeit und Zierlichkeit denken. Und nun eine Unzahl von Legenden, die immer in der Erzählung nebenher gehen und gleichsam sprichwörtlich angewendet werden. Z. B. von einem Mädchen, das so leicht und zierlich von Füßen war, daß sie auf einer Blume balancieren konnte, ohne die Blume zu knicken. Und von einem jungen Manne, der sich so sittlich und brav hielt, daß er in seinem dreißigsten Jahre die Ehre hatte, mit dem Kaiser zu reden. Und ferner von Liebespaaren, die in einem langen Umgange sich so enthaltsam bewiesen, daß, als sie einst genöthigt waren eine Nacht in einem Zimmer miteinander zuzubringen, sie in Gesprächen die Stunden durchwachten, ohne sich zu berühren. Und so unzählige von Legenden, die alle auf das Sittliche und Schickliche gehen. Aber eben durch diese strenge Mäßigung in allem hat sich denn auch das chinesische Reich seit Jahrtausenden erhalten und wird dadurch ferner bestehen.

Einen höchst merkwürdigen Gegensatz zu diesem chinesischen Roman,« fuhr Goethe fort, »habe ich an den Liedern von Béranger, denen fast allen ein unsittlicher, liederlicher Stoff zum Grunde liegt und die mir im hohen Grade zuwider sein würden, wenn nicht ein so großes Talent wie Béranger die Gegenstände[44] behandelt hätte, wodurch sie denn erträglich, ja sogar anmuthig werden. 

[Wäre nicht die Meisterschaft der Form, bliebe Goethe distanziert, angewidert. Aber die Könnerschaft gestaltet den liederlichen Stoff erträglich, sogar annehmbar, weil anmutig.]

Aber sagen Sie selbst, ist es nicht höchst merkwürdig, daß die Stoffe des chinesischen Dichters so durchaus sittlich, und diejenigen des jetzigen ersten Dichters von Frankreich ganz Gegentheil sind?«
»Ein solches Talent wie Béranger,« sagte ich, »würde an sittlichen Stoffen nichts zu thun finden.« – 

»Sie haben recht,« sagte Goethe; »eben an den Verkehrtheiten der Zeit offenbart und entwickelt Béranger seine bessere Natur.« – »Aber,« sagte ich, »ist denn dieser chinesische Roman vielleicht einer ihrer vorzüglichsten?« – »Keineswegs,« sagte Goethe; »die Chinesen haben deren zu Tausenden und hatten ihrer schon, als unsere Vorfahren noch in den Wäldern lebten.

[Goethe kennt wenige Übersetzungen aus dem Chinesischen. Aber er weiß etwas von der Geschichte und nimmt dies als Ausgang und Grund zur Annahme von Nachbarschaft bzw. von genuinen Leistungen der Chinesen, die schon literarisch gebildet wirkten, "als unsere Vorfahren noch in den Wäldern lebten." Er teilt nicht die nationalistische, chauvinistische Spießersicht des bornierten Herausstellen sogenannter Nationalkultur. Er relativiert und sieht Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten. und das 1827!]

Ich sehe immer mehr,« fuhr Goethe fort, »daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist, und daß sie überall und zu allen Zeiten in Hunderten und aber Hunderten von Menschen hervortritt. Einer macht es ein wenig besser als der andere und schwimmt ein wenig länger oben als der andere, das ist alles. 

[Dass der Altmeister von einem Gemeingut der Menschheit denken und sprechen kann, ist nur der reifen Persönlichkeit zuzuschreiben, die keinem Schrebergartenkult erlegen ist, die weltoffen lebt.]

Der Herr von Matthisson muß daher nicht denken, er wäre es, und ich muß nicht denken, ich wäre es, sondern jeder muß sich eben sagen, daß es mit der poetischen Gabe keine so seltene Sache sei, und daß niemand eben besondere Ursache habe, sich viel darauf einzubilden, wenn er ein gutes Gedicht macht. Aber freilich wenn[45] wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel. 

[Goethe weiß, wovon er spricht. Er hat es selbst erfahren und erlitten. Wäre das geistige Klima zu seiner Zeit in Deutschland offener gewesen, um nicht zu sagen oder zu fordern, ihm gemäß, hätte er selbst und viele andere noch mehr Produktives, Positives geschaffen. Dass er ein Olympier war heißt ja nur in der Kehrheiste, dass er einsam, alleine, abgesondert war, von nur wenigen Gleichwertigen umgeben. Die Mehrheit stand ihm und seinem Geist ablehnend oder ignorant gegenüber. Das widerfuhr später auch einem anderen Großen, Friedrich Nietzsche, der an der Vereinsamung, am fehlenden Gespräch, an der fehlenden Resonanz zerbrach. Deutschland, damals wie heute, liebt keine außerordentlichen Talente. Nur die ordentlichen sind geduldet. In Österreich ist es noch schlimmer: es verhindert der niedere Provinzgeist fast jeden Höhenflug, jede Abweichung vom "Normalen", sei es in der Wissenschaft (Freud) oder Literatur (Kraus) oder der Musik und den Künsten.]

Ich sehe mich daher gern bei fremden Nationen um und rathe jedem, es auch seinerseits zu thun. Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen; die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen. Aber auch bei solcher Schätzung des Ausländischen dürfen wir nicht bei etwas Besonderm haften bleiben und dieses für musterhaft ansehen wollen. Wir müssen nicht denken, das Chinesische wäre es, oder das Serbische, oder Calderon, oder die Nibelungen; sondern im Bedürfniß von etwas Musterhaftem müssen wir immer zu den alten Griechen zurückgehen, in deren Werken stets der schöne Mensch dargestellt ist. Alles übrige müssen wir nur historisch betrachten und das Gute, so weit es gehen will, uns daraus aneignen.«

[Goethe vermeidet das eine wie das andere Extrem. Er wertet nicht absolut auf oder ab. Er versucht, zu seinem Wissen, zu seinen Erfahrungen neues Wissen, neue Erfahrungen hinzuzufügen, einzugliedern, zu übernehmen. Er macht nicht Halt an ideologischen Vorgaben. Er bleibt offen.]

Ich freute mich, Goethe in einer Folge über einen so wichtigen Gegenstand reden zu hören. Das Geklingel vorbeifahrender Schlitten lockte uns zum Fenster; denn wir erwarteten, daß der große Zug, der diesen Morgen nach Belvedere vorbeiging, wieder zurückkommen würde. Goethe setzte indes seine lehrreichen Äußerungen fort. Von Alexander Manzoni war die Rede, und er erzählte mir, daß Graf Reinhard Herrn Manzoni vor nicht langer Zeit in Paris gesehen, wo er als ein junger Autor von Namen in der Gesellschaft wohl aufgenommen gewesen sei, und daß er jetzt wieder in der[46] Nähe von Mailand auf seinem Landgute mit einer jungen Familie und seiner Mutter glücklich lebe.

»Manzoni,« fuhr Goethe fort, »fehlt weiter nichts, als daß er selbst nicht weiß, welch ein guter Poet er ist und welche Rechte ihm als solchem zustehen. Er hat gar zu viel Respect vor der Geschichte und fügt aus diesem Grunde seinen Stücken immer gern einige Auseinandersetzungen hinzu, in denen er nachweist, wie treu er den Einzelheiten der Geschichte geblieben. 

[Die Angst des Dichters vor der Freiheit, vor der Imagination, vom eigenen Entwurf vis-a-vis der Geschichte, der historischen Fakten: Goethe sieht damals schon eine Schwäche und ein Problem. Heute werden Literaten im Gegenteil dann gepriesen, wenn sie heruntergekommen sind auf den Stand schlechter Journalisten, Rapporteure, Berichterstatter, Dokumentaristen, weil die Wiedergabe des Faktischen, des Messbaren, des Nachprüfbaren Vorrang vor jeder künstlerischen Kreation hat. Diese Angst vor der Persönlichkeit, ihrer Eigenheit, ihres Individualismus soll aufgefangen werden durch die strikte Orientierung an Fakten, an nachprüfbaren Daten. Daher der Erfolg von Autobiographien, die nicht literarisch, sondern dokumentarisch berichtend sind, deshalb die Kleinkrämerei, das hausbackene Rechnen und Verrechnen in einer Literatur, die wie von Versicherungsagenten und Buchhaltern zusammengeschustert erscheint.]

Nun mögen seine Facta historisch sein, aber seine Charactere sind es doch nicht, so wenig es mein Thoas und meine Iphigenia sind. Kein Dichter hat je die historischen Charactere gekannt, die er darstellte, hätte er sie aber gekannt, so hätte er sie schwerlich so gebrauchen können. Der Dichter muß wissen, welche Wirkungen er hervorbringen will, und danach die Natur seiner Charactere einrichten. Hätte ich den Egmont so machen wollen wie ihn die Geschichte meldet, als Vater von einem Dutzend Kinder, so würde sein leichtsinniges Handeln sehr absurd erschienen sein. Ich mußte also einen andern Egmont haben, wie er besser mit seinen Handlungen und meinen dichterischen Absichten in Harmonie stände; und dies ist, wie Klärchen sagt, mein Egmont.

Und wozu wären denn die Poeten, wenn sie bloß die Geschichte eines Historikers wiederholen wollten! Der Dichter muß weiter gehen und uns womöglich etwas Höheres und Besseres geben. Die Charactere[47] des Sophokles tragen alle etwas von der hohen Seele des großen Dichters, sowie Charactere des Shakespeare von der seinigen. Und so ist es recht, und so soll man es machen. Ja Shakespeare geht noch weiter und macht seine Römer zu Engländern, und zwar wieder mit Recht; denn sonst hätte ihn seine Nation nicht verstanden.

[Hier nimmt Goethe ganz deutlich Position. Shakespeare machte seine Römer zu Engländern, "und zwar wieder mit Recht; denn sonst hätte ihn seine Nation nicht verstanden." Heute traut sich fast niemand mehr zu so einer Haltung und Sicht. Es drohen soziale Ächtungen, geschäftsschädigende Verfolgungen, wenn einer das Vergehen der cultural appropriation begeht. Niemand darf seine oder ihre Sicht pflegen oder ausdrücken. Es gilt die Ideologe der politischen Korrektheit, des vermeintlich historisch Gesicherten, Unabänderlichen und dergleichen mehr. Die neue Intoleranz, das rassistische Spießertum hat sich in vielerlei Polizeimaßnahmen Gewalt verschafft und übt den Terror täglich intensiver aus. Die vermeintliche Opfermeute schlägt zurück und übt unerbittlich Rache, nicht nur an den dead old white men, sondern auch an den dirty ones, nämlich allen, die außerhalb ihrer Sekte leben.]

Darin,« fuhr Goethe fort, »waren nun wieder die Griechen groß, daß sie weniger auf die Treue eines historischen Factums gingen, als daraus wie es der Dichter behandelte. Zum Glück haben wir jetzt an den ›Philokteten‹ ein herrliches Beispiel, welches Sujet alle drei großen Tragiker behandelt haben, und Sophokles zuletzt und am besten. Dieses Dichters treffliches Stück ist glücklicherweise ganz auf uns gekommen; dagegen von den ›Philokteten‹ des Äschylus und Euripides hat man Bruchstücke aufgefunden, aus denen hinreichend zu sehen ist, wie sie ihren Gegenstand behandelt haben. Wollte es meine Zeit mir erlauben, so würde ich diese Stücke restauriren, sowie ich es mit dem ›Phaethon‹ des Euripides gethan, und es sollte mir keine unangenehme und unnütze Arbeit sein.

Bei diesem Sujet war die Aufgabe ganz einfach: nämlich den Philoktet nebst dem Bogen von der Insel Lemnos zu holen. Aber die Art, wie dieses geschieht, das war nun die Sache der Dichter, und darin konnte jeder die Kraft seiner Erfindung zeigen und einer es dem andern zuvorthun. Der Ulyß soll ihn holen, aber soll er vom Philoktet erkannt werden oder nicht, und[48] wodurch soll er unkenntlich sein? Soll der Ulyß allein gehen, oder soll er Begleiter haben, und wer soll ihn begleiten? Beim Äschylus ist der Gefährte unbekannt, beim Euripides ist es der Diomed, beim Sophokles der Sohn des Achill. Ferner, in welchem Zustande soll man den Philoktet finden? Soll die Insel bewohnt sein oder nicht, und wenn bewohnt, soll sich eine mitleidige Seele seiner angenommen haben oder nicht? Und so hundert andere Dinge, die alle in der Willkür der Dichter lagen und in deren Wahl oder Nichtwahl der eine vor dem andern seine höhere Weisheit zeigen konnte. 

Hierin liegt's, und so sollten es die jetzigen Dichter auch machen, und nicht immer fragen, ob ein Sujet schon behandelt worden oder nicht, wo sie denn immer in Süden und Norden nach unerhörten Begebenheiten suchen, die oft barbarisch genug sind, und die dann auch bloß als Begebenheiten wirken. Aber freilich, ein einfaches Sujet durch eine meisterhafte Behandlung zu etwas zu machen, erfordert Geist und großes Talent, und daran fehlt es.«

Vorbeifahrende Schlitten zogen uns wieder ans Fenster; der erwartete Zug von Belvedere war es aber wieder nicht. Wir sprachen und scherzten unbedeutende Dinge hin und her; dann fragte ich Goethe, wie es mit der Novelle stehe.

»Ich habe sie dieser Tage ruhen lassen,« sagte er, »aber eins muß doch noch in der Exposition geschehen. Der Löwe nämlich muß brüllen, wenn die Fürstin an[49] der Bude vorbeireitet; wobei ich denn einige gute Reflexionen über die Furchtbarkeit des gewaltigen Thiers anstellen lassen kann.«
»Dieser Gedanke ist sehr glücklich,« sagte ich; »denn dadurch entsteht eine Exposition, die nicht allein an sich, an ihrer Stelle, gut und nothwendig ist, sondern wodurch auch alles Folgende eine größere Wirkung gewinnt. Bis jetzt erschien der Löwe fast zu sanft, indem er gar keine Spuren von Wildheit zeigte. Dadurch aber, daß er brüllt, läßt er uns wenigstens seine Furchtbarkeit ahnen, und wenn er sodann später sanft der Flöte des Kindes folgt, so wird dieses eine desto größere Wirkung thun.«

»Diese Art, zu ändern und zu bessern,« sagte Goethe, »ist nun die rechte, wo man ein noch Unvollkommenes durch fortgesetzte Erfindungen zum Vollendeten steigert. Aber ein Gemachtes immer wieder neu zu machen und weiter zu treiben, wie z.B. Walter Scott mit meiner Mignon gethan, die er außer ihren übrigen Eigenheiten noch taubstumm sein läßt, diese Art, zu ändern, kann ich nicht loben.«[50]

Quelle:

Johann Peter Eckermann

Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens

 

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