Eine Aufzeichnung von Johann Peter Eckermann über ein Gespräch mit Goethe
[Kurzanmerkungen von H. L. Handl in eckigen Klammern]
1827, 31. Januar.
Mit Johann Peter Eckermann
Bei Goethe zu Tische. »In diesen Tagen, seit ich Sie nicht
gesehen,« sagte er, »habe ich vieles und mancherlei gelesen, besonders auch
einen chinesischen Roman, [englisch als: Chinese Courtship] der mich noch
beschäftigt und der mir im hohen Grade merkwürdig erscheint.« – »Chinesischen
Roman?« sagte ich. »Der muß wohl recht fremdartig aussehen.« – »Nicht so sehr
als man glauben sollte,« sagte Goethe. »Die Menschen denken, handeln und
empfinden fast ebenso wie wir, und man fühlt sich sehr bald als ihresgleichen,
nur daß bei ihnen alles klarer, reinlicher und sittlicher zugeht. Es ist bei
ihnen alles verständig, bürgerlich, ohne große Leidenschaft und poetischen
Schwung und hat dadurch viele Ähnlichkeit mit meinem ›Hermann und Dorothea‹
sowie mit den englischen Romanen des Richardson.
[Das Fremde ist nur bedingt fremd und lässt sich "entfremden", eingemeinden, einverleiben. Wie ein Fremdwort, das in der eigenen Sprache übernommen wird, sich verwebt und Teil wird. Das Allgemeine, Universelle des Menschlichen wird schon damals von Goethe betont. Heute ist genau dieser Moment obsolet in einer krankhaften Überbetonung des Partikularen, des Besonderen.]
Es unterscheidet sich aber
wieder dadurch, daß bei ihnen die äußere Natur neben den menschlichen Figuren
immer mitlebt. Die Goldfische in den Teichen hört man immer plätschern, die
Vögel auf den Zweigen fingen immer fort, der Tag ist immer heiter und sonnig,
die Nacht immer klar; vom Mond ist viel die Rede, allein er verändert die
Landschaft nicht, sein Schein ist so helle gedacht, wie der Tag selber. Und das
Innere der Häuser so nett und zierlich wie ihre Bilder.[43] Z.B.
›Ich hörte die lieblichen Mädchen lachen, und als ich sie zu Gesichte bekam,
saßen sie auf feinen Rohrstühlen.‹ Da haben Sie gleich die allerliebste
Situation, denn Rohrstühle kann man sich gar nicht ohne die größte Leichtigkeit
und Zierlichkeit denken. Und nun eine Unzahl von Legenden, die immer in der
Erzählung nebenher gehen und gleichsam sprichwörtlich angewendet werden. Z. B.
von einem Mädchen, das so leicht und zierlich von Füßen war, daß sie auf einer
Blume balancieren konnte, ohne die Blume zu knicken. Und von einem jungen
Manne, der sich so sittlich und brav hielt, daß er in seinem dreißigsten Jahre
die Ehre hatte, mit dem Kaiser zu reden. Und ferner von Liebespaaren, die in einem
langen Umgange sich so enthaltsam bewiesen, daß, als sie einst genöthigt waren
eine Nacht in einem Zimmer miteinander zuzubringen, sie in Gesprächen die
Stunden durchwachten, ohne sich zu berühren. Und so unzählige von Legenden, die
alle auf das Sittliche und Schickliche gehen. Aber eben durch diese strenge
Mäßigung in allem hat sich denn auch das chinesische Reich seit Jahrtausenden
erhalten und wird dadurch ferner bestehen.
Einen höchst merkwürdigen Gegensatz zu diesem chinesischen
Roman,« fuhr Goethe fort, »habe ich an den Liedern von Béranger, denen fast
allen ein unsittlicher, liederlicher Stoff zum Grunde liegt und die mir im
hohen Grade zuwider sein würden, wenn nicht ein so großes Talent wie Béranger
die Gegenstände[44]
behandelt hätte, wodurch sie denn erträglich, ja sogar anmuthig werden.
[Wäre nicht die Meisterschaft der Form, bliebe Goethe distanziert, angewidert. Aber die Könnerschaft gestaltet den liederlichen Stoff erträglich, sogar annehmbar, weil anmutig.]
Aber sagen Sie selbst, ist es nicht höchst merkwürdig, daß die Stoffe des chinesischen Dichters so durchaus sittlich, und diejenigen des jetzigen ersten Dichters von Frankreich ganz Gegentheil sind?«
»Ein solches Talent wie Béranger,« sagte ich, »würde an
sittlichen Stoffen nichts zu thun finden.« –
»Sie haben recht,« sagte Goethe; »eben an den Verkehrtheiten der Zeit offenbart und entwickelt Béranger seine bessere Natur.« – »Aber,« sagte ich, »ist denn dieser chinesische Roman vielleicht einer ihrer vorzüglichsten?« – »Keineswegs,« sagte Goethe; »die Chinesen haben deren zu Tausenden und hatten ihrer schon, als unsere Vorfahren noch in den Wäldern lebten.
»Sie haben recht,« sagte Goethe; »eben an den Verkehrtheiten der Zeit offenbart und entwickelt Béranger seine bessere Natur.« – »Aber,« sagte ich, »ist denn dieser chinesische Roman vielleicht einer ihrer vorzüglichsten?« – »Keineswegs,« sagte Goethe; »die Chinesen haben deren zu Tausenden und hatten ihrer schon, als unsere Vorfahren noch in den Wäldern lebten.
[Goethe kennt wenige Übersetzungen aus dem Chinesischen. Aber er weiß etwas von der Geschichte und nimmt dies als Ausgang und Grund zur Annahme von Nachbarschaft bzw. von genuinen Leistungen der Chinesen, die schon literarisch gebildet wirkten, "als unsere Vorfahren noch in den Wäldern lebten." Er teilt nicht die nationalistische, chauvinistische Spießersicht des bornierten Herausstellen sogenannter Nationalkultur. Er relativiert und sieht Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten. und das 1827!]
Ich sehe immer mehr,« fuhr Goethe fort, »daß die Poesie ein
Gemeingut der Menschheit ist, und daß sie überall und zu allen Zeiten in
Hunderten und aber Hunderten von Menschen hervortritt. Einer macht es ein wenig
besser als der andere und schwimmt ein wenig länger oben als der andere, das
ist alles.
[Dass der Altmeister von einem Gemeingut der Menschheit denken und sprechen kann, ist nur der reifen Persönlichkeit zuzuschreiben, die keinem Schrebergartenkult erlegen ist, die weltoffen lebt.]
Der Herr von Matthisson muß daher nicht denken, er wäre es, und ich
muß nicht denken, ich wäre es, sondern jeder muß sich eben sagen, daß es mit
der poetischen Gabe keine so seltene Sache sei, und daß niemand eben besondere
Ursache habe, sich viel darauf einzubilden, wenn er ein gutes Gedicht macht.
Aber freilich wenn[45] wir
Deutschen nicht aus dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so
kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel.
[Goethe weiß, wovon er spricht. Er hat es selbst erfahren und erlitten. Wäre das geistige Klima zu seiner Zeit in Deutschland offener gewesen, um nicht zu sagen oder zu fordern, ihm gemäß, hätte er selbst und viele andere noch mehr Produktives, Positives geschaffen. Dass er ein Olympier war heißt ja nur in der Kehrheiste, dass er einsam, alleine, abgesondert war, von nur wenigen Gleichwertigen umgeben. Die Mehrheit stand ihm und seinem Geist ablehnend oder ignorant gegenüber. Das widerfuhr später auch einem anderen Großen, Friedrich Nietzsche, der an der Vereinsamung, am fehlenden Gespräch, an der fehlenden Resonanz zerbrach. Deutschland, damals wie heute, liebt keine außerordentlichen Talente. Nur die ordentlichen sind geduldet. In Österreich ist es noch schlimmer: es verhindert der niedere Provinzgeist fast jeden Höhenflug, jede Abweichung vom "Normalen", sei es in der Wissenschaft (Freud) oder Literatur (Kraus) oder der Musik und den Künsten.]
Ich sehe mich daher
gern bei fremden Nationen um und rathe jedem, es auch seinerseits zu thun.
Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen; die Epoche der Weltliteratur ist
an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.
Aber auch bei solcher Schätzung des Ausländischen dürfen wir nicht bei etwas
Besonderm haften bleiben und dieses für musterhaft ansehen wollen. Wir müssen nicht
denken, das Chinesische wäre es, oder das Serbische, oder Calderon, oder die
Nibelungen; sondern im Bedürfniß von etwas Musterhaftem müssen wir immer zu den
alten Griechen zurückgehen, in deren Werken stets der schöne Mensch dargestellt
ist. Alles übrige müssen wir nur historisch betrachten und das Gute, so weit es
gehen will, uns daraus aneignen.«
[Goethe vermeidet das eine wie das andere Extrem. Er wertet nicht absolut auf oder ab. Er versucht, zu seinem Wissen, zu seinen Erfahrungen neues Wissen, neue Erfahrungen hinzuzufügen, einzugliedern, zu übernehmen. Er macht nicht Halt an ideologischen Vorgaben. Er bleibt offen.]
Ich freute mich, Goethe in einer Folge über einen so
wichtigen Gegenstand reden zu hören. Das Geklingel vorbeifahrender Schlitten
lockte uns zum Fenster; denn wir erwarteten, daß der große Zug, der diesen
Morgen nach Belvedere vorbeiging, wieder zurückkommen würde. Goethe setzte
indes seine lehrreichen Äußerungen fort. Von Alexander Manzoni war die Rede,
und er erzählte mir, daß Graf Reinhard Herrn Manzoni vor nicht langer Zeit in
Paris gesehen, wo er als ein junger Autor von Namen in der Gesellschaft wohl
aufgenommen gewesen sei, und daß er jetzt wieder in der[46] Nähe
von Mailand auf seinem Landgute mit einer jungen Familie und seiner Mutter
glücklich lebe.
»Manzoni,« fuhr Goethe fort, »fehlt weiter nichts, als daß
er selbst nicht weiß, welch ein guter Poet er ist und welche Rechte ihm als
solchem zustehen. Er hat gar zu viel Respect vor der Geschichte und fügt aus
diesem Grunde seinen Stücken immer gern einige Auseinandersetzungen hinzu, in
denen er nachweist, wie treu er den Einzelheiten der Geschichte geblieben.
[Die Angst des Dichters vor der Freiheit, vor der Imagination, vom eigenen Entwurf vis-a-vis der Geschichte, der historischen Fakten: Goethe sieht damals schon eine Schwäche und ein Problem. Heute werden Literaten im Gegenteil dann gepriesen, wenn sie heruntergekommen sind auf den Stand schlechter Journalisten, Rapporteure, Berichterstatter, Dokumentaristen, weil die Wiedergabe des Faktischen, des Messbaren, des Nachprüfbaren Vorrang vor jeder künstlerischen Kreation hat. Diese Angst vor der Persönlichkeit, ihrer Eigenheit, ihres Individualismus soll aufgefangen werden durch die strikte Orientierung an Fakten, an nachprüfbaren Daten. Daher der Erfolg von Autobiographien, die nicht literarisch, sondern dokumentarisch berichtend sind, deshalb die Kleinkrämerei, das hausbackene Rechnen und Verrechnen in einer Literatur, die wie von Versicherungsagenten und Buchhaltern zusammengeschustert erscheint.]
Nun
mögen seine Facta historisch sein, aber seine Charactere sind es doch nicht, so
wenig es mein Thoas und meine Iphigenia sind. Kein Dichter hat je die
historischen Charactere gekannt, die er darstellte, hätte er sie aber gekannt,
so hätte er sie schwerlich so gebrauchen können. Der Dichter muß wissen, welche
Wirkungen er hervorbringen will, und danach die Natur seiner Charactere
einrichten. Hätte ich den Egmont so machen wollen wie ihn die Geschichte
meldet, als Vater von einem Dutzend Kinder, so würde sein leichtsinniges
Handeln sehr absurd erschienen sein. Ich mußte also einen andern Egmont haben,
wie er besser mit seinen Handlungen und meinen dichterischen Absichten in
Harmonie stände; und dies ist, wie Klärchen sagt, mein Egmont.
Und wozu wären denn die Poeten, wenn sie bloß die Geschichte
eines Historikers wiederholen wollten! Der Dichter muß weiter gehen und uns
womöglich etwas Höheres und Besseres geben. Die Charactere[47] des
Sophokles tragen alle etwas von der hohen Seele des großen Dichters, sowie
Charactere des Shakespeare von der seinigen. Und so ist es recht, und so soll
man es machen. Ja Shakespeare geht noch weiter und macht seine Römer zu
Engländern, und zwar wieder mit Recht; denn sonst hätte ihn seine Nation nicht
verstanden.
[Hier nimmt Goethe ganz deutlich Position. Shakespeare machte seine Römer zu Engländern, "und zwar wieder mit Recht; denn sonst hätte ihn seine Nation nicht
verstanden." Heute traut sich fast niemand mehr zu so einer Haltung und Sicht. Es drohen soziale Ächtungen, geschäftsschädigende Verfolgungen, wenn einer das Vergehen der cultural appropriation begeht. Niemand darf seine oder ihre Sicht pflegen oder ausdrücken. Es gilt die Ideologe der politischen Korrektheit, des vermeintlich historisch Gesicherten, Unabänderlichen und dergleichen mehr. Die neue Intoleranz, das rassistische Spießertum hat sich in vielerlei Polizeimaßnahmen Gewalt verschafft und übt den Terror täglich intensiver aus. Die vermeintliche Opfermeute schlägt zurück und übt unerbittlich Rache, nicht nur an den dead old white men, sondern auch an den dirty ones, nämlich allen, die außerhalb ihrer Sekte leben.]
Darin,« fuhr Goethe fort, »waren nun wieder die Griechen
groß, daß sie weniger auf die Treue eines historischen Factums gingen, als
daraus wie es der Dichter behandelte. Zum Glück haben wir jetzt an den
›Philokteten‹ ein herrliches Beispiel, welches Sujet alle drei großen Tragiker
behandelt haben, und Sophokles zuletzt und am besten. Dieses Dichters
treffliches Stück ist glücklicherweise ganz auf uns gekommen; dagegen von den
›Philokteten‹ des Äschylus und Euripides hat man Bruchstücke aufgefunden, aus
denen hinreichend zu sehen ist, wie sie ihren Gegenstand behandelt haben.
Wollte es meine Zeit mir erlauben, so würde ich diese Stücke restauriren, sowie
ich es mit dem ›Phaethon‹ des Euripides gethan, und es sollte mir keine
unangenehme und unnütze Arbeit sein.
Bei diesem Sujet war die Aufgabe ganz einfach: nämlich den
Philoktet nebst dem Bogen von der Insel Lemnos zu holen. Aber die Art, wie
dieses geschieht, das war nun die Sache der Dichter, und darin konnte jeder die
Kraft seiner Erfindung zeigen und einer es dem andern zuvorthun. Der Ulyß soll
ihn holen, aber soll er vom Philoktet erkannt werden oder nicht, und[48]
wodurch soll er unkenntlich sein? Soll der Ulyß allein gehen, oder soll er
Begleiter haben, und wer soll ihn begleiten? Beim Äschylus ist der Gefährte
unbekannt, beim Euripides ist es der Diomed, beim Sophokles der Sohn des
Achill. Ferner, in welchem Zustande soll man den Philoktet finden? Soll die
Insel bewohnt sein oder nicht, und wenn bewohnt, soll sich eine mitleidige
Seele seiner angenommen haben oder nicht? Und so hundert andere Dinge, die alle
in der Willkür der Dichter lagen und in deren Wahl oder Nichtwahl der eine vor
dem andern seine höhere Weisheit zeigen konnte.
Hierin liegt's, und so sollten
es die jetzigen Dichter auch machen, und nicht immer fragen, ob ein Sujet schon
behandelt worden oder nicht, wo sie denn immer in Süden und Norden nach
unerhörten Begebenheiten suchen, die oft barbarisch genug sind, und die dann
auch bloß als Begebenheiten wirken. Aber freilich, ein einfaches Sujet durch
eine meisterhafte Behandlung zu etwas zu machen, erfordert Geist und großes
Talent, und daran fehlt es.«
Vorbeifahrende Schlitten zogen uns wieder ans Fenster; der
erwartete Zug von Belvedere war es aber wieder nicht. Wir sprachen und
scherzten unbedeutende Dinge hin und her; dann fragte ich Goethe, wie es mit
der Novelle stehe.
»Ich habe sie dieser Tage ruhen lassen,« sagte er, »aber
eins muß doch noch in der Exposition geschehen. Der Löwe nämlich muß brüllen,
wenn die Fürstin an[49] der
Bude vorbeireitet; wobei ich denn einige gute Reflexionen über die
Furchtbarkeit des gewaltigen Thiers anstellen lassen kann.«
»Dieser Gedanke ist sehr glücklich,« sagte ich; »denn
dadurch entsteht eine Exposition, die nicht allein an sich, an ihrer Stelle,
gut und nothwendig ist, sondern wodurch auch alles Folgende eine größere
Wirkung gewinnt. Bis jetzt erschien der Löwe fast zu sanft, indem er gar keine
Spuren von Wildheit zeigte. Dadurch aber, daß er brüllt, läßt er uns wenigstens
seine Furchtbarkeit ahnen, und wenn er sodann später sanft der Flöte des Kindes
folgt, so wird dieses eine desto größere Wirkung thun.«
»Diese Art, zu ändern und zu bessern,« sagte Goethe, »ist
nun die rechte, wo man ein noch Unvollkommenes durch fortgesetzte Erfindungen
zum Vollendeten steigert. Aber ein Gemachtes immer wieder neu zu machen und
weiter zu treiben, wie z.B. Walter Scott mit meiner Mignon gethan, die er außer
ihren übrigen Eigenheiten noch taubstumm sein läßt, diese Art, zu ändern, kann
ich nicht loben.«[50]
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