Sonntag, 5. August 2018

Lesen damals & heute


Haimo L. Handl

Lesen damals & heute

Lesen hat sich im Lauf der Zeit, entsprechend der technologischen Entwicklung, der Veränderung der Öffentlichkeitsstruktur, des sozialen Gefüges, dramatisch verändert. Weg vom Buch, das heißt weg von anspruchsvoller Lektüre eines ganzen Romans, hin zum Häppchen-Haschen, zu Kurztexten und  Hypertextgestaltungen. Man hat nicht viel Zeit, dafür smart phones die einen überall, beim Joggen, Stuhlgang, im Bett alles immer sofort zur Verfügung stellen. Hinwendung, Aufmerksamkeit, Eintauchen gar, Muße, sind Begriffe geworden, die neu verstanden und gedeutet werden müssen, weil sich ihr Bedeutungsgehalt wesentlich verändert hat.

Es werden dennoch Millionen von Büchern publiziert. Am Buchmarkt lässt sich zwar nicht das genaue Leseverhalten ablesen, aber doch ein Bild gewinnen von Vorlieben, für welche Käufer Geld ausgeben. Bücher erworben zu haben heißt jedoch nicht, sie gelesen haben. Sie gelesen haben heißt nicht, sie verstanden haben. Aber das war immer schon so, und ist nicht neu. Es wird aus Wirtschaftsgründen nur verdeckt und verdrängt.

Einer neuen Studie von „GfK Consumer Panel Media*Scope Buch“ entnehme ich hinsichtlich der Käufer auf dem Publikumsbuchmarkt in Mio. Personen im Zeitraum von 2013-2017 folgende Zahlen:

2013      2014      2015      2016      2017
36,0       34,4       33,1       30.8       29,6

Ein Rückgang von 6,4 Millionen Buchkäufern, also ein Minus von 17,8% zwischen 2013 und 2017. Die knapp 30 Millionen Buchkäufer von 2017 entsprechen 44% der deutschen Bevölkerung ab 10 Jahren. Der dramatische Rückgang betrifft die einzelnen Altersgruppen ganz unterschiedlich. Die stärksten Rückgänge verzeichnet die Altersgruppe 40-49 Jahre (-37%), gefolgt von 30-39 Jahre (-26%) und 20-29 Jahre (-24%). Stabiles Kaufverhalten bei den Jungen (unter 19 Jahren) und Alten (ab 50 Jahren).

Der Konsum von Büchern (Kauf und Lektüre) muss im Zusammenhang der elektronischen Medien gesehen werden, die am stärksten und extremsten die Mediennutzung bestimmen und beeinflussen. Die Internetnutzung beträgt täglich (in Minuten; Zahlen für 2016 und 2017):

14-29 Jahre:       245 / 274 (+29‘)
30-49 Jahre:       148 / 183 (+35‘)
50-69 Jahre:         85 /   98
Ab 70 Jahre:         28 /   36
Gesamt:              128 / 149 (+ 21‘)

Die Mehrheit befindet sich, nach Selbstauskunft, im Dauerstress und unter Druck, lebt gehetzt, nervös, beklagt Reizüberflutung, setzt sich dieser aber fast süchtig aus. Weil Buchlektüre mit Ruhe, Abstand, längerem Zeitaufwand gesehen wird, verwundert es nicht, dass sie in so einem Klima für die Mehrheit keine Chance hat. Da der soziale Erwartungsdruck nicht auf Bildung, und damit vornehmlich auf fundiertes Wissen und Bücher rekurriert, gewinnen die elektronischen Medien weiter an Stärke und Beeinflussungskraft.

Die Studie mündet ins Fazit:

Die Menschen empfinden den modernen Lebensalltag als sehr stressreich:
•Die immer kürzer getaktete Welt zwingt zum Multitasking und schwächt die Fähigkeit, sich ganz auf eine Sache einzulassen.
•Zudem entsteht ein wachsender sozialer Druck, ständig reagieren und „dranbleiben“ zu müssen, um nicht abgehängt zu werden.

Bücher sind zudem häufig aus dem öffentlichen Diskurs und persönlichen Umfeld verschwunden und somit oft auch aus dem Blickfeld:
• Bücher sind kein großes Gesprächsthema mehr, was zum einen Nicht-Lesen gesellschaftsfähig macht, zum anderen den Weg zum nächsten Buch erschwert.

Die Menschen finden am Buchmarkt keine ausreichende Orientierung:
• Der Austausch über Bücher fehlt, Menschen sind weniger involviert in Buch-Themen und fühlen sich überfordert vom großen Titelangebot. Die allgemeine Bekanntheit von Autoren lässt nach.

Überforderung war als Gefahr auch früher gegeben. Ihr nicht zu erliegen, ist ja auch Teil der Bildungsprozesse. Ich erinnere mich an Arbeiten mit Universitätsstudentinnen und Besuchen der National- bzw. Universitätsbibliothek mit ihnen, bei denen viele wegen der vielen Zettelkästen und der enormen, für die meisten fremdartigen Aufzeichnungen, sich verloren vorkamen und abwehrend reagierten. Es bedurfte einiger Übung, sich mit dem System vertraut zu machen. Klar, die Karteikarten in den Schubladen der Kästen drängten nicht wie die elektronisch gespeicherten mit der vermeintlichen Aufforderung, alles zu besehen oder prüfen. Nur der Novize, die Ungeübte bzw. Unvertraute war wie erschlagen, weil sie die potentielle Information als „Information“ sah. Sie hatte noch nicht gelernt, sinnvoll zu selektieren. Das Jammern über die Reizüberflutung ist nur Ausweis einer Unvertrautheit, eines Nichtwissens, einer Unfähigkeit, in der Vielfalt und Komplexität der Welt und ihrer Systeme sich zurechtzufinden. Das idyllische Bild von der Natur, die einem Ruhe und Kontemplation bietet, täuscht und ist Resultat eines Irrtums. Die vermeintliche Ruhe existiert nur für den Unkundigen, der wenig weiß, wenig sieht. Das hängt auch zusammen mi dem Vermögen, das Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz zu meistern: jedes Extrem würde über Dauer zu einem Fiasko führen. Das Problem vornehmlich bei den Medien zu sehen, ist selbst ein untauglicher Versuch eigene Schwächen zu kaschieren.

Weil es in unseren Gesellschaften aber nicht mehr um Bildung geht, „holt man die Menschen ab, wo sie sind“. Man bleibt meist dort. Die gesellschaftliche Orientierung hat die unreife Haltung des armen, betreuungsbedürftigen Opfers übernommen und unterminiert damit Bildungsprozesse. Deshalb werden die in vielen Studien vorgeschlagenen „Rettungsmaßnahmen“ fürs Lesen von Büchern nicht wirklich greifen.

In der GfK-Studie werden 5 zentrale Bedürfnisse formuliert, um „Abwanderer“ als Leser zurückzugewinnen:
1.       Aufmerksam gemacht werden
In Berührung kommen / Inspiration / Erinnerung
2.       Sicherheit
Orientierung / Transparenz / Relevanz / Vertrauen
3.       Erlebnis
Erfahrung / individuell oder kollektiv / Spannung / Unterhaltung
4.       Wertschätzung
Mehrwert / Belohnung / Aufmerksamkeit / Ersparnis / Exklusivität
5.       Entschleunigung
Entspannung / Eskapismus / Fantasie / Ausgleich
Das sind die Schlüsselworte, wozu die geschulten Manager dann, mittels schöner Powerpoint-Tafeln weiter ausführen, was im Detail die einzelnen Begriffe bedeuten. Aber schon die Versammlung der Schlagworte zeigt die Begrenztheit des Horizonts auf. Diese Limitation, die falsche Orientierung an Plattidüden, wird verdeckt durch vollmündige Empfehlungen:

Die Ergebnisse der Studie zeigen Chancen auf:
• Bücher-Lesen wird wahrgenommen als Ruhepol, Zeit für sich, emotionales Erleben, Erweiterung des Horizonts > Menschen haben Sehnsucht danach.
• Menschen müssen in ihrem Alltag wieder Büchern über den Weg laufen – Bücher müssen wieder mehr ins Bewusstsein rücken.
• Leser brauchen mehr Sicherheit und Orientierung, um schnell das richtige Buch zu finden (Kampf ums Zeit-Budget).
• Und: Das Buch muss zum Konsumenten kommen (wie es andere Medien auch tun).
• Außerdem: Erlebnisse rund ums Buch und sozialer Austausch sollen auf das verstärkte Bedürfnis nach Socializing/ Erleben einzahlen.

Entsprechend der Vorgaben der Industrie und des Handels orientieren sich auch Büchereiverbände und Bildungseinrichtungen an einem riesigen Animationsprogramm, das die gestressten „Opfer“ verführen soll für das Gute, das angeleitete, betreute Lesen. Lesen nicht mehr als solitäres Unterfangen einer Lesekundigen, sondern als soziale Aktivität in der Gruppe, angeleitet, begleitet, überwacht und kontrolliert von den Betreuern. Man darf jemandem nicht mehr zumuten, dass er oder sie etwas sucht und holt, sondern man muss ihm oder ihr den Mund stopfen wie im Schlaraffenland: „Das Buch muss zum Konsumenten kommen“! Und, ganz, ganz wichtig: Sicherheit und Orientierung. In einer law and order Gesellschaft braucht es Sicherheit auf allen Ebenen! Nur keine Eigenheiten, keine Abnormitäten, keine Wegabweichungen. Die Gesellschaft muss die Orientierung vorgeben, der Einzelne hat glücklich zu folgen, und sei es nur wegen des Kampfes um das Zeit-Budget. So indoktriniert man im Namen von Kultur und Bildung eine ungebildete Masse.

Die 15. Ausgabe der deutschen Zeitschrift KONTRASTE aus dem Jahr 1964, einer Art Gegenzeitschrift katholischer Provenienz aus dem Herder-Verlag Freiburg/Br. zum linksextremen Blatt KONKRET, das heute noch erscheint, hatte das Heftthema „Lieben Sie Bücher?“. In den grafisch ansprechend gestalteten Beiträgen kamen Autoren zu Wort, die die meisten heute nicht mehr kennen, neben solchen, die mehr oder weniger Eingang in den Kanon gefunden haben, wie Walter Dirks (1901-1991), ein liberaler Katholik, der sich während der Hitlerzeit antifaschistisch engagierte und mit seinem ebenfalls katholischen Kollegen Eugen Kogon (1903-1987), der nach dem Krieg mit seinem Buch „Der SS-Staat“ bekannt und berühmt geworden war, die engagierten Frankfurter Hefte herausgab. Kogon als auch Dirks gehörten zu den wenigen aufrechten religiösen Deutschen, der  kleinen Minderheit kritischer, antinazistischer Katholiken. Er steuert den Artikel bei „Was die Deutschen lesen“, der heute „re-visited“ besonders interessant erscheint. Wir finden Beiträge von Walter Jens (1923-2013), der Probleme mit der Wahrheit über seine Nazimitgliedschaft hatte, sich aber nach dem Krieg ausgesprochen ernsthaft und überzeugend demokratisch und bildnerisch einsetzte. Luise Rinser (1911-2002) liefert einen beachtlichen Beitrag und Rudolf Krämer-Badoni (1913-1989) gleich zwei; er war nach 1945 kurz Redakteur in der bedeutenden Zeitschrift DIE WANDLUNG, gegründet 1945 von Karl Jaspers, Dolf Sternberger, Werner Kraus und Alfred Weber.  Es war ein Organ der kritischen Geschichtsaufarbeitung besonders der Nazizeit, eine Zeitschrift zur geistigen Erneuerung des nicht nur wirtschaftlich und politisch darniederliegenden Landes, sondern auch kulturell depravierten. In diesem Umfeld wurde als die Frage nach dem Buch, damit nach dem Lesen, der Lektüre, dem Buchmarkt und der Bildung gestellt. Ich will auf den Beitrag von Walter Dirks etwas näher eingehen.

Zuerst gibt er eine kurze Selbsterklärung seiner Person als Leser. Dann weist er auf statistische Angaben des Allensbacher demoskopischen Instituts zum Buchmarkt 1960 und 1962  und hinterfragt kritisch einige Zahlen. In der Studie wurden Haushalte (Bevölkerung ab 15 Jahren) danach befragt, welche Bücher sie zu Hause haben. Zuvorderst rangieren die religiöse Literatur oder Gebetbücher sowie Kochbücher, gefolgt von Atlanten. Eine kurze Anmerkung von Dirks zeigt die Feinheit seiner Überlegung und Skepsis: „Merkwürdigerweise wollen 45% auch einen Atlas haben – man fragt sich, wieso sie an den Erfolg der Weltherrschaftspläne Adolf Hitlers haben glauben können; es sei denn, sie hätten die Atlanten erst hinterher gekauft, um sich einen Reim auf die Pleite zu machen.“

Da die positiven Zahlen wenig aussagen, die Kategorien bewusst breit und nichtssagend sind, fragt er nach den Negativa: dass 11% der erwachsenen Bevölkerung überhaupt keine Bücher besitzen. Leider gab es keine Fragen hinsichtlich der Besuche und Nutzung von Leihbüchereien oder Bibliotheken, aber wenigstens solche nach der Lektüre, dem Lesen. 15% lesen kaum oder gar nicht; 1962 haben 27% länger als ein Jahr lang oder überhaupt nicht gelesen. „Auch diese Zahl ist gestiegen: 1953 bekannten sich 3% weniger zu diesem praktischen Analphabetentum. Wer weiß, was da passieret ist: ob der wachsende Wohlstand tatsächlich die Lust oder Notwendigkeit zu lesen verringert hat oder ob die Leute ehrlicher, d.h. wurstiger geworden sind und bereitwilliger zugeben, was sie früher lieber verschwiegen haben?“


Dirks liefert ein beredtes Beispiel für kritisches Lesen und Fragen. Sie müssen immer im gesellschaftlichen, sozialen Zusammenhang bewertet werden. Heute besteht überhaupt keine Scheu, sein Unwissen, seinen funktionalen Analphabetismus zu zeigen; viele sind sogar stolz, sich von den Buchmenschen oder verhassten Intellektuellen abzuheben, sie sehen sich als authentische Gesellschaftsmitglieder, wovon besonders die Jüngeren mit ihrem Medienkompetenzen auftrumpfen, was von den Institutionen begrüßt wird, weil nicht mehr Bildung oder Wissen gilt und zählt, sondern Kompetenz.

Dann geht er auf die lange Geschichte der deutschen Sprache und Literatur ein, die von den politischen Entwicklungen ja nicht zu trennen ist. Aus der langen Textpassage nur ganz kurz zitiert:


„Der Zwiespalt zwischen Geist und Macht, zwischen Idee und gesellschaftlicher Realität hat sich keinem Land so unheilvoll wie bei uns ausgewirkt. (…)Damit ständen wir bei Goethe. Auf 5000 hat man die Zahl derer geschätzt, die seinerzeit die Schriften Goethes gekauft haben. Auf Goethe und auf Schiller hat sich sodann das Interesse der wachsenden, um Bildung bemühten oder Bildung beanspruchenden Schichten hundert Jahre lang so konzentriert, dass darüber die Fülle und die Gegensätzlichkeit dessen, was seit dem 17. Jahrhundert deutsche Literatur und gar Weltliteratur ist, bedenklich zu kurz kam.“

Eine wichtige Feststellung. Bildungseifer kann engstirnig, borniert fokussiert zuviel ausblenden, ähnlich den dummen und dümmlichen nationalen Ausrichtungen, die nur das „Eigene“ als wertvoll gelten lassen wollen, und die eine konkurrierende Vermischung, ein lernendes Vergleichen zu verhindern versuchen. Solche Fehlpolitiken gab es nicht nur damals in Deutschland, sondern gibt es auch heute in vielen Ländern in Ost und West. Oft sind es Religionen, die den Blick einengen, das freie Wort verbieten und verfolgen, oft Parteien oder Machtgebilde in Diktaturen oder totalitären Staaten, sei es in unserer Nachbarschaft Polen, bzw. die sogenannten Visegrád-Staaten, die Türkei, Russland und die ehemaligen Teilrepubliken des Sowjetimperiums, bis hin zu den Staaten in Nahost (nicht nur arabische Despsotenländer, sondern auch Israel), im Mittleren Osten, und im asiatischen Raum.

Der Zensurdruck, die Attacken von Minderheiten gegen Mehrheiten werden auch in den westlichen Ländern, die sich noch als Demokratien sehen, immer extremer: Gläubige gegen Ungläubige, Frauen gegen Männer, Feministinnen für Sprachpolizei, Indigene gegen Fremde, Einheimische gegen Juden und Moslems oder Schwarze. Eine Art neuer Rassenwahn, eine anmaßende Rechthaberei mit Schritten gegen ungewünschte Forscher oder Wissenschaftler, ein Brandschatzen von Verlagshäusern wie vor 50 Jahren (nicht nur in Paris, Fall "Charlie Hebdo"), Reinigungen von Bibliotheken wie zu Inquisitionszeiten (wann werden wieder Bücher brennen?), all das bestimmt heute das ungeistige Klima in Großbritannien, Spanien, Frankreich, Italien, Deutschland, Österreich usw. Die in die EU eingekauften Neumitglieder pflegen wieder das gegängelte, unfreie Wort in einer fatalen Wiederbelebung ihrer unseligen Kommunistenzeit, heute modern, nationalistisch kaschiert. Aber, das muss man betonen, es geschieht nicht nur in Randzonen oder im Osten und Süden, sondern auch in den sogenannten westlichen Demokratien, wovon Portugal und Spanien am längsten faschistische Regierungen hatten, und Italien und Griechenland, wo der Faschismus nie wirklich überwunden wurde.

Die Art Fragen zu stellen und Antworten zu suchen oder zu geben, wie es Walter Dirks in einem Zeitschriftenartikel vor über 50 jahren unternahm, wird dringender denn je.Dirks erliegt aber nicht der Täuschung und dem Klischee, dass früher alles besser gewesen sei. Im Gegenteil. Er zeigt die Beschränkungen auf im damaligen Bildungsplan, die enge der nationalen Orientierung und die Mühseligkeit, als Gymnasiast selbst sich Lesestoff, den es in der Schule nicht gab oder geben durfte, zu beschaffen und zu besorgen. Er betont auch die positiven Aspekte der damals auf den Markt gebrachten Taschenbücher, geht auf die Bestsellerlisten ein. Dann bezweifelt er aber die Aussagekraft oder den Wahrheitsgehalt von Jubelmeldungen, wieviele Kunden Buchhandlungen aufsuchen bzw. welche zeitgenössischen Autoren sie angeben zu kennen.

Den Wermutstropfen, den er nicht stillschweigend schluckt, bildet für ihn das Lesen der billigen Massenzeitungen, allen voran BILD. Er schreibt:

„Ich kann es schwer fassen, wenn ich nicht nur solche, die ich für törichte und oberflächliche Zeitgenossen halte, sondern auch solche, die ich entweder als Gebildete oder als sogenannte bessere Leute oder als vernünftige kleine Leute oder als lebendige Christen oder als aktive Gewerkschafter zu erkennen glaube, in der Eisenbahn dergleichen lesen sehe.“

Soll man ihn als elitären Schnösel abtun? Heute wäre es sicher falsch, jemanden ein Tölpel, törichten oder oberflächlichen Zeitgenossen zu schimpfen. Schon gar nicht, wenn er als Konsument und Funktionsteil der Gesellschaft, eben wegen seiner lenkbaren Kümmerlichkeit und Dummheit „systemerhaltend“ ist.

„Es gibt dafür keine immanente Erklärung, will sagen eine aus der Sache, dem Verhältnis zur gedruckten Information und zum gedruckten Wort überhaupt entwickelte Erklärung. Denn wer lesen kann und sich unterrichten will, wird doch nicht etwas kaufen, das nicht info9rmiert und was unlesbar ist.“

Dirks hat kultürlich nicht recht, es ist schlimmer, als er annahm oder folgerte, obwohl er einen wichtigen Satz anfügt:

„Man muss das Phänomen, dass sie es trotzdem tun, und die Tatsache, dass sich die Leute allerlei Ähnliches gefallen lassen, was ihnen die Massenmedien und die Freizeitindustrien anbieten, wohl aus unserer gesellschaftlichen Lage erklären.“

Stimmt. Autoren wie Adorno und Horkheimer der Frankfurter Schule, um nur zwei zu nennen, haben dies unternommen. Aber Dirks täuscht sich, zu hoffnungsfroh freundlich gestimmt, wenn er meint, jemand der lesen könne und sich unterrichten lassen wolle, könne doch nicht so ein Schundprodukt wie BILD lesen. Doch, auch so jemand kann und will. Als Gebildeter ist Dirks nicht in der Lage die niederen Bedürfnisse der Ungebildeten zu erfassen, weil er zu optimistisch ist. Heute liefern Gratisblätter den Dreck und Abschaum, das extrem Simplifizierte, damit auch Deppen meinen es zu kapieren, frei in die U-bahn, auf die Straßen und Plätze. Und die Leute sind glücklich damit. Man sehe sich nur die „Lesenden“ in einem Pendlerzug an: wer nicht schläft oder döst, liest einfache Gratisblätter oder billigste Abfallware. Jene, die ein Buch in Händen halten, fallen als Abnorme, als Sonderlinge auf. Die meisten ergeben sich aber dem Lärm über die Ohrstöpsel ihrer smart phones und stimmen sich blöd stierend auf den entnervenden Alltag der Unterschichtler ein. Ein Trauerspiel.

Wenn bei uns heute behauptet wird, dass viele lesen, muss immer gefragt werden: was? Aber das war damals so, wie es heute ist: Lesen ist nicht gleich lesen.

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