Haimo L. Handl
Beschränkte Literatur
Die Bewertungskriterien für kulturelle oder sportliche
Leistungen sind in zwei extrem entgegengesetzten Bereichen angesiedelt:
Einerseits die Dominanz des Nationalen, dem sich die Künstlerin oder der
Sportler unterwirft, eingliedert, darin aufgeht, als ob es nicht um ihre oder
seine Leistung ginge, sondern die des Landes, aus dem er kommt, das ihn, mehr
oder weniger, finanziert bzw. moralischen Rückhalt und Auftrieb gibt. Es gilt
das Kollektiv. Andererseits die personale Fokussierung, der Starkult, der in einer
Überhöhung über alle Grenzen hinweg eine Art von Globalwert schafft, dem die
Märkte weltweit folgen, über alle Grenzen und Kulturen hinweg.
Auch in den Wissenschaften wird oft auf die Nation
reduziert, wenn öffentliche Preisungen erfolgen, aber in weit geringerem
Maßstab als in den anderen Bereichen. Zwar versuchen einige unverbesserliche
Nationalisten oder religiöse Ideologen auch Wissenschaft ihrem dunklen Reich
dummer Chauvinismen ein- und unterzuordnen, aber es gelingt nicht überzeugend,
wie im Kulturbereich. Die Naturwissenschaften lassen sich nicht nach nationalen
Ansprüchen auf- oder abwerten, die sogenannten Naturgesetze gelten allgemein
und nicht partikular.
Das Partikulare, Besondere, Eigene bzw. Eigentliche herrscht
nur in der Ideologie, wovon der bornierte Nationalismus und Chauvinismus und
die niederhaltenden Religionen Teilbereiche darstellen, ebenso die schier
unausrottbaren Rassismen.
Als grober Raster mag es ja noch hingehen literarische
Produkte nach nationaler Herkunft zu unterscheiden. Also Romane aus Chile, den
USA, Island, Frankreich oder Deutschland oder sonst woher. Aber das erklärt
wenig. Was ist gesagt, wenn man die Herkunft kennt? Gibt es für russische
Literatur gemeinsame Merkmale, für chinesische, japanische, indische, mexikanische
oder alpine, bayerische, schweizerische, österreichische? Nur schlichte
Reduktionisten, die kein höher entwickeltes Denkvermögen eignen, geben sich mit
solchen Erklärungen zufrieden. Worin ähneln sich z.B. österreichische
Schriftstellerinnen und Literaten? Im vorauseilenden Gehorsam, im durch die
überlange Habsburgermacht oktroyierten Duckmäuserverhalten, im Schweinigeln, in
besonderer Sprachempfindsamkeit oder tief verankerter Misanthropie? Da die
Gesellschaft sich veränderte, und trotz anderer Bemühungen sich weiter
verändert, wechselten auch die Österreich-Kriterien. Worin liegen die
Unterschiede? Wie macht man sie fest?
Die Sprache prägt. Sagt man. Die Nation auch, ebenso die
Religion. Wie weit? Erlaubt die Sprache kein eigenes Sprechen? Ist eigenes
Denken gegen die nationalen oder religiösen Werte unmöglich? Wirkt das
religiöse oder nationale Wertsystem determinierend, so dass niemand Atheist
sein könnte oder Kosmopolit oder einfach jenseits nationaler Rekurse? Die
Herkunftsapostel sind Gewalttäter, sie verlangen die Unterwerfung, die Auslieferung
an das System, an ihre Glaubenswelt. Sie machen aus ihrer tiefen Angst vor der
Freiheit, der individuellen, ein Schreckgespenst, dem sie mit Terror,
Einschüchterung und falschen Reklamationen, Schranken, Barrieren und Mauern
(interessant, dass nach dem Fall der DDR-Mauern ausgerechnet Israel Mauern
aufbaute!) entgegnen. Man sprach früher von Scheren in Köpfen, von Zensur.
Man sollte mehr vom Anpassungsdruck dieser geschlossenen Terrorwelten sprechen,
die das Denken vergiften und das Allgemeinmenschliche.
In der Sicht der Einfachen, der Beschränkten, scheint die
Psychoanalyse nur im niedergehenden Wien gründbar gewesen zu sein, bestimmt die
Sprache den Nationalcharakter, weshalb Hegel nur in Deutschland möglich war,
oder ein Nietzsche oder Spengler oder gar Heidegger. Dostojewski ist außerhalb
der russischen Sprache nicht zu denken. Und einige russische Klassiker
ebensowenig. Sind es die Sprachen, die den Boden für das Denken und
literarische Schaffen bereiten und auch bestimmen, einschränken? War das
früher, vor der Globalisierung ebenso? Schafft die Globalisierung ihren eigenen
Druck, ihre eigene, genuine Determinierung? Sind es die politischen Zustände?
Wie kann jemand von Freiheit denken und schreiben, wenn er in Unfreiheit lebt?
Wie frei war man in Frankreich, Deutschland, Österreich oder Russland im 19.
Jh., im 20. Jh. und wie frei ist man jetzt, heute hier und dort? Von welcher
Freiheit reden wir? Von welcher sollten wir reden?
Wie wertvoll könnte eine Literatur sein, die nicht mehr nach
irgendwelchen nationalen Charakteristika bewertbar scheint, die nichts von der
Herkunft der Autorin oder des Autors verrät, außer der Sprache, und die nur
reklamiert, nach sprachlichen und literarischen Kriterien bewertet zu werden
und nicht nach denen des Geschlechts, der Religion oder Nationalität und
Ethnie. Eine Literatur, die also nicht stereotyp „global“ erscheint, sondern
eine Persönlichkeit in der Sprache erkennen lässt, trotzdem aber nicht nach den
üblichen Kriterien festmachbar wäre. Könnte so eine Literatur gehaltvoll sein? Ja,
klar.
Auch hoch Gebildete, sonst gescheite Leute versteigen sich
als Ideologen zu unhaltbaren Aussagen und Urteilen. George Steiner, dessen Werk
ich fast gesamt kenne und generell überaus schätze, hat 1959 den Artikel „The
Hollow Miracle“ verfasst, worin er argumentiert, dass allein schon die
deutsche Sprache zum Faschismus führte, führen musste. Und mehr noch, dass die
deutsche Sprache für immer nicht reparierbaren Schaden genommen habe. Das ist
wissenschaftlich unhaltbar, und wurde auch von Sprachwissenschaftler und
Linguisten kritisiert. Die Attacke dokumentiert denn auch mehr die ideologische
Kampfposition und die Absage an wissenschaftliches Denken, obwohl Steiner sich
sonst bemüht, äußerst kundig und belesen und rational zu interpretieren. Hier
aber hat ihn die Angst übermannt und der Erinnerungsterror der Nazizeit. Der
besagte Artikel war 1959 geschrieben und 1960 in der Zeitschrift „Reporter“
veröffentlicht worden. Als ihn Steiner in seiner Anthologie „Language &
Silence“ wiederveröffentlichte, ging er in einer Fußnote kurz auf die
Problematik ein, nahm aber nichts von seiner ideologischen Hetzschrift zurück.
Eine fundierte und wissenschaftlich gedeckte Arbeit zur
deutschen Sprachgeschichte bzw. der Sprachentwicklung findet sich in Peter von
Polenz‘ Buch „Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart“,
das 1999 erschien, worin der Autor zur Problematik der „beschädigten Sprache
Deutsch“ sich äußert und kurz die
Abverurteilung von George Steiner relativiert und entkräftet.
Bemerkenswert erschien mir die Rezension von Steiners
„Language and Silence“ des britischen Linguisten und Sprachwissenschaftlers
David Crystal unter dem Titel „The defining mystery“. Nicht nur auf die
allgemeine Vagheit der schwachen philosophischen Argumentation von Steiner geht
er ein, sondern besonders auf die linguistisch nicht haltbaren, schwammigen
Aussagen. Als linguistischer Experte (im Internet findet man in seiner Homepage
seine vielfältigen Publikationen verzeichnet!) fasst er kühl und trocken sein
Verdikt:
„His aim is not literary criticism, but rather
– „a philosophy of language,“ which he feels is prerequisite for a real
understanding of society.“
“This is the aim, but Steiner does not succeed
in it. His observations about language are too unconnected, vague und
frequently wrong to provide much basis for anything as systematic as
philosophy. The main objection a linguist would have to Steiner’s approach is
his facile animism. He believes that ‘languages are living organisms’ that
‘have in them a certain life force, and certain powers of absorption and
growth.” This is quite a popular notion, but it is rarely argued these days at
quite such an intellectual level. One finds a fallacy of this kind in Schlegel
and other nineteenth-century Darwinian-influenced philologists, but no longer.”
“Even Benjamin Lee Whorf, who came closest to
this view, would have been most upset. ‘Everything forgets. But not a
language,’ says Steiner. Really! This is personification asking to be taken
literally. Language has no independent existence of its own, and it certainly
cannot pre-empt human functions. The life force, the sensibility of a culture
belongs to the users of a language, and not the medium, the tool. To confuse
the two may lad to powerful rhetoric for a while, but the end-product is
unconvincing (cf. his identification of the German language and spirit in his
controversial ‘The hollow miracle’, for example).”
Das sagt genug aus, klar und deutlich. Was mich damals, als ich die Anthologie las, überraschte, war die Widersprüchlichkeit und
Unsinnigkeit seiner Position angesichts an anderen Stellen geäußerter
Preisungen sprachlicher Schöpfungen in anderen Sprachen als Deutsch. Nicht nur,
dass er das Englische und Französische unbeachtet ließ, sondern vor allem das
Russische. Welche Humanität konnte, immer der Unlogik Steiners folgend, denn
diese Sprache transportieren? Erlaubte die Sprachentwicklung des Russischen
doch kein freies Denken, sie musste also, ähnlich wie das Nazideutsch,
vergiften, infektuös erkrankt freies Denken und Ausdrücken verhindern usw. Aber
dazu keine kritischen Gedanken. Wenn es aber in anderen Sprachen nicht galt
oder gilt, was er vom Deutschen fand, wobei er anmaßend noch behauptete, dass
eine Weiterentwicklung, eine Änderung nach solchem Schaden gar nicht mehr
möglich sei, dann müsste es ihm doch gedämmert haben, dass er als Propagandist,
als Heiliger Krieger im ideologischen Kampf auftrat und nicht als rational
argumentierender Kritiker. David Crystal hat das in aller Kürze gut
zusammengefasst.
Theodor W. Adorno hat aus ähnlichen ideologischen Gründen
gemeint, dass nach Ausschwitz es nicht möglich sei, Gedichte zu schreiben. Er
hat diese Aussage später etwas abgemildert, nie aber einer strengen Prüfung unterzogen,
wie er es vom Gegenüber immer gefordert hatte. Hier versteckt sich eine
abgrundtiefe Schwäche, eine überaus starke Verletzung, die, ähnlich wie bei
Hiob, nicht weiter bedacht wird, weil sonst alles, was er lebt und woran er
sich orientiert, zusammenbricht.
Es ist bemerkenswert, dass Autoren wie Adorno oder Steiner
argumentieren, wie sie es tun, andererseits sich negativ verurteilend über
Gegner äußern, die aber von einer ähnlich unhaltbaren Sprachauffassung
ausgehen, wie z.B. Martin Heidegger. Dieser spricht von einem Eigenwert, einem
Eigenleben der Sprache (die Sprache spricht), genau davon, was Crystal bei
Steiner als unlautere Personifikation in einem animistischen Modellbild
abwertet und zurückweist. Hölderlin, der ebenfalls die linguistisch unhaltbare
Position der göttlichen Eigenheit, eines Eigenlebens der Sprache einnahm, wird
aber gepriesen, weil er nicht wie Heidegger politisch und ideologisch negativ
gepolt ist bzw. mögliche Reklamationen von vornherein umgedeutet werden.
Hölderlin ist, wie später Paul Celan, heilig gesprochen und über jede Kritik
erhaben. Damit wird Zauberei und Religionsausübung gepflegt, nicht aber
offener, kritischer Umgang. In diesem bleibt die Sprache nämlich ein Mittel
oder Medium, ein Werkzeug, und jeder entwickelnden Veränderung offen.
Für unsere Überlegung „beschränkte Sprache“ bzw. Wert der
Herkunft, des Nationalen usw. für die verwendete Sprache wäre eine aufmerksame,
historische Betrachtung schon interessant genug, lange, bevor wir philosophisch
und des Problems annähmen. Denn sie würde zeigen, dass in ein und demselben
Sprachraum unterschiedliche Verwendungsarten, Gebräuche, erfolgten, die keine
einheitliche Charakterisierung erlauben. Offensichtlich war dem vom Holocaust
davongekommenen Celan es möglich, in der "Sprache der Täter" zu denken, zu reden,
zu schreiben. Weshalb wohl? Weil sie nicht nur die Tätersprache war. Weil das,
was das Nazistische auszeichnete, im Sprachgebrauch entsprechend einem
inhumanen Wertsystem, vor- und aufzufinden war, und nie in der Sprache selbst.
Inhumane Verwendungen, sogenannter missbräuchlicher Gebrauch, gibt es,
unabhängig der Definition, wer den korrekten Gebrauch vorgibt und verbürgt, ab
wann weshalb von einem missbräuchlichen Gebrauch gesprochen werden kann oder
soll, immer und überall. Kein Werk ist gefeit von „Falschen“ falsch gebraucht
zu werden. Jedes Wort kann gedreht und gedrechselt werden (er dreht mir das
Wort im Mund). Allein durch Kontextänderungen können Werke, Botschaften in ihr
Gegenteil verkehrt werden. Bleibt eine Bach-Kantate was sie ist oder war, oder
verändert sie sich, wenn von Nazis oder anderen Schergen und Verbrechern
aufgeführt und für Propaganda eingesetzt? Und ähnlich mit allem, was kulturell
als Werk vorliegt. Welche Lektüre, welche Deutung ist die annehmbare, die gute,
die approbierte? Soll nur Approbiertes rezipiert werden? Wer sollte dann die
Imprimatur erstellen, wer die Deutungshoheit innehaben und über sie wachen? Soll
eine Gruppe sich überhaupt eine Deutungshoheit anmaßen dürfen? In einer freien
Gesellschaft nicht. In den herkömmlich unfreien schon. Wessen Anwälte sind da
die vermeintlichen Puristen? Der Kader, die das Richtige vorgeben? Oder der
Einzelnen, der Individuen? (Dass sogar Anwälte wie Steiner und Adorno hier ins
Schleudern kommen, sagt einiges über das schwierige Feld, auf dem wir uns
bewegen, aus.)
Wir leisten also Literaten, die aus Marktgründen, aus Kalkül
so oder anders schreiben? Die am Preiszirkus mitmachen und sich wie Huren
anbiedern und verkaufen. Wir haben einen Journalismus, dessen Sprachkompetenz
immer dramatischer abnimmt, weil das Einfachsprech so bequem und ökonomisch
ist. Aber eben, und das ist doch bemerkenswert, wir haben nicht nur diese
Seite, diese bekümmerliche Negativität, sondern auch die Gegenseite, die offene
Dimension hochgradiger Komplexität, die im Moment, gegenwärtig, halt nur für
wenige gilt, die aber deswegen nicht nicht-existent ist.
Heute wird der Einfluss der Globalisierung oft als Merkmal
eines Qualitätsverlustes gesehen, insbesondere in den Künsten (bildende Kunst,
Musik) und in der Literatur. Wenn sich tatsächlich alles angliche zu einem
stereotypen Brei an Gemurmel und Gekeuche einerseits oder einlullenden
Klangbilden andererseits, wie es ja oft festzustellen ist, dann würde ich das
Augenmerk zuerst auf die Lebensbedingungen der Schaffenden richten und auf ihre
Publika, da ja eine Art wechselseitige Abhängigkeit zwischen Künstlern oder
Schriftstellerinnen und dem Publikum besteht, und andererseits nach den
Wertsystemen fragen, die sich offensichtlich in bestimmten Bereichen angeglichen
haben. Aber ich meine, ich könnte dennoch, vor diesem Breimeer Seen eigener
Art, eine Andersheit, ausfindig machen. Und wenn nicht, dann müssten die
Sensoren verfeinert werden, um das einheitlich Grobschlächtige vom Feinen zu
unterscheiden. Das ist aber kein neues Phänomen. Dennoch, was den einen als
Mangel erscheint, z.B. das Fehlen der Herkunftsmerkmale (Rasse, Geschlecht,
Nation usw.), ist anderen ein Erfolg. Mich freute es, wenn Texte von Frauen
nicht als Frauentexte in feministischen Sonderzonen publiziert und rezipiert
werden, wenn überhaupt nicht mehr nach Gender gefragt wird, und schon gar nicht
nach Ethnie oder Nation oder Religion, sondern nach dem Stoff und seiner
Qualität.
Das heißt, wir müssen unterschiedliche Beschränkungen genau
unterscheiden und werten. Mich interessiert primär weder europäische oder
nationale Literatur, wäre aber höchst unglücklich, wenn ich mich aus
irgendwelchen Gründen auf afrikanische oder asiatische richten sollte oder
müsste. Unabhängig, dass auch das reichste Leben nicht ausreicht, alles oder
viel (das ist ja so relativ!) wahrzunehmen oder sich damit auseinanderzusetzen,
wäre eine Doktin des Gleichwertigen nur eine dumme Vorgabe für Vielfresser, die alles, wirklich alles fressen, weil sie angst haben zu wählen
oder Vorlieben (die werden von den Minderbemittelten als Vorurteile aufgefasst)
zu entwickeln. [Ich wundere mich, dass solche Opfer noch Beziehungen eingehen,
weil die nie „gerecht“ sein können und immer falsch sind: warum keinen
Schwarzen gewählt, warum keine Asiatin, warum eine Serbin usw.? Weshalb keinen Schweizer oder Schweden? Warum überhaupt
eine Beziehung?]
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