Montag, 11. April 2011

Wörtlich: erinnerungsverseucht

In einer Grünen Zeitung stieß ich auf das Wert "erinnerungsverseucht" und stockte. Wie? Erinnerung wird, besonders von Fortschrittlichen, LInken und Grünen bzw. Gutmenschen, als höchst Positives, Notwendiges gesehen (Niemals vergessen!). Skeptiker oder Zweifler, die anmerken, Erinnerung sei kein Selbstwert, und Vergessen sei kein zu vermeidender Luxus, sondern notwendig für den gesunden Humanhaushalt, werden oft und leicht ideologisch verdächtigt.
Dass nun jemand mit Erinnerung(en) verseucht sein kann bedeutet, dass Erinnerung zu einer Seuche wurde, an der die Person leidet. Wie sieht diese Erinnerungsseuche aus? Hängt sie von der Qualität oder Quantität der Erinnerung oder beidem ab? Nach welchen Kriterien wird gemessen und beurteilt: Person X ist erinnerungsverseucht?
Das Gegenteil wäre die nicht erinnerungsverseuchte Person. Wäre das jene Person, die von keinen Erinnerungen geplagt wird, also nur Erinnerungen erinnert, die angenehm sind? Das Konzept der Seuche bedingt das Gegenüber: das Reine, Saubere, Nichtinfizierte. Sind Erinnerungsverseuchte krank? Müßten sie wie Aussätzige in Quarantäne gesteckt werden? Welche Heilmittel und -prozeduren gibt es? Vielleicht die üblichen: brav den Vorgaben folgen und nur jene Erinnerungen pflegen, die approbiert sind? Steckt dahinter die Gleichheitsideologie? Normal sein, nur nicht abweichen, sich sauber und rein halten (ähnlich haben doch schon Rassisten argumentiert, im Namen des Kampfes gegen die Verseuchungen...).

2 Kommentare:

  1. Erinnerung im Regietheater als Mittel der Enthistorisierung, der Fragmentierung, der Aufhebung des Zusammenhangs. Robert Wilson, weniger Regisseur als vielmehr Designer, schafft genau das. In seiner Interpretation der "Lulu" heisst es in einer Kritik in der NZZ (http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/lulu_im_wunderland_1.10243157.html):
    "Lulu im Wunderland
    Im Echoraum der Erinnerung
    Wedekinds «Lulu» im Design von Robert Wilson mit Sound von Lou Reed ist eine Collage aus Fragmenten, zusammengehalten von Angela Winkler als Titelfigur.
    Jedenfalls aber gehören Zitat und Erinnerung zum Prinzip dieser «Lulu».
    Im Tod aber flackert das Leben auf: Die Inszenierung wächst, als Serie von Rückblicken, mit Crescendo diesem Moment entgegen. "
    Erinnerung ist nie einfach Gespeichertes. Das Fragmentarische ist ihr eigen, ebenso die Konstruktion und Rekonstruktion. Aber übertragen auf die Deutung eines Dramas, einer Geschichte, wird das Zusammenhängende aufgelöst. Als ob das Unzusammenhängende das Authentische wäre. - Bedeutsam auch der Satz "Im Tod aber flackert das Leben auf." Hier zeigt sich die dunkle Kehrseite solch modernen, unverbindlichen, zerstückelnden Denkens im Anklang an das faschistische "Viva la muerte" der todessüchtigen, lebensfeindlichen Faschisten.

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  2. Hallo Schwedinger, kleine Ergänzung zu Deiner kritischen Anmerkung:
    In der FR vom 13.04.11(http://www.fr-online.de/kultur/theater/eine-lala-tragoedie/-/1473346/8340342/-/index.html)
    liest sich die Kritik etwas anders. Einerseits wird betont, dass der Erfolg wesentlich dem technischen Apparat zu danken sei, andererseits heisst es:
    "Es gibt jetzt zwei „Lulu“-Inszenierungen in Berlin. Volker Lösch hat an der Schaubühne einen Chor aus echten Prosituierten auf die Bühne geholt; das will aufrüttelnde Zeigefingersozialdramatik sein, ist aber nur furchtbar nettes Authentizitätsgeblubber. Robert Wilson hat alles durchgestylt; das will verfremdendes Installationsmusiktheaters sein, ist aber schrecklich nette, zuckrige Zeichenstreuselei."
    Die "linke" Authentizitätsblase blubbert also, während Großmeister Wilson streuselt. Trefflich!

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