In einem Artikel vom 12.11.10 in der NZZ schrieb Marta Kijowska zm Tod des polnischen Komponisten henryk M. Górecki:
"Nach so viel Rummel im Westen meldeten sich polnische Musikkritiker zu Wort, um die Frage nach Góreckis Inspirationsquellen zu beantworten. Sie nannten meistens drei: Natur, Folklore und Religion. Seine Musik, schrieb einer, sei gewiss keine Reaktion auf die Katastrophen dieser Welt. Überhaupt solle man ihr einfach ohne jeglichen Interpretationszwang vertrauen, sich von der Kraft ihrer Strukturen, ihrer Klangfülle und ihren Farben durchdringen lassen. Dem würde Henryk Górecki selbst wohl sehr schnell zustimmen. "Bevor ich sterbe", sagte er vor drei Jahren, "möchte ich erfahren, was die Musik ist. Denn in letzter Zeit lebe von dem Satz des Philosophen Leszek Kolakowski, sie sei ein Gast aus der anderen Welt.""
"Ohne jeglichen Interpretationszwang vertrauen" - Heißt das, immer noch interpretieren, aber ohne Zwang? Oder soll es heißen, sich etwas aussetzen ohne jede Interpretation? Es einfach es sein lassen, wie das Ding an sich, es nehmen, ohne jedes Denken und Deuten, einfach so. - Aber ginge das überhaupt? Alle Sinnesreize, alle Zeichen, die wir perzepieren, werden im Rezeptionsakt sofort und unwillkürlich "bewertet", also "gedeutet". Dieser Vorgang kann "Interpretation" genannt werden. Wir können nicht interpretationslos kommunizieren, weil wir keine dafür programmierten Maschinen sind.
Unbewusstes Wahrnehmen, also unter der Wahrnehmungsschwelle, könnte, da in seiner interpretationsmöglichen Bedeutung nicht erkannt, interpretationsloses Wahrnehmen genannt werden. Alles Wahrnehmen über der Wahrnehmungsschwelle kann nicht interpretationslos sein, weil jeder Kommunikationsakt Interpretation bedingt. Würden wir Zeichen als Reize interpretationslos wahrnehmen können, wären sie keine Kommunikationsteile. Das Ding an sich, dieses Etwas, das einem wirklich Objektivem entspräche, ist für uns nicht wahrnehmbar bzw. kommunizierbar, genauso wenig wie das Ganze oder Absolute. Nichts ist, wie es ist. Alles scheint, alles wird mit Sinn beladen, eingebettet in das Gerüst und die Inhalte des Wissens (inklusive der akkumulierten Erfahrungen). Könnte das "wie es ist" als solches wahrgenommen werden, müsste nicht nur, sondern dürfte es nicht mehr interpretiert werden, weil es dann nicht mehr wäre, was es eigentlich ist. Die Gewissheit, das Ganze, erübrigte bzw. verböte Interpretation. Der Wunsch nach interpretationsloser, interpretationsfreier Kommunikation ist ein Missverständnis unserer Kommunikationsmöglichkeiten, des Denkens und der Sprache.
Wann sollten oder könnten wir von Interpretationszwang sprechen? Wenn es einen Kanon gibt, kollektive Deutungsmuster? Aber ist da nicht die Sprache selbst schon ein Zwang? Welche Freiheit gewinnt jener, der die Sprache "meistert", "beherrscht", in ihr sich sicher bewegt, trotz ihrer Vorgabe? (Nietzsche: Jedes Wort ein Vorurteil!) Ist EIGENES Denken möglich, da wir doch ein kollektives Symbolsystem, die Sprache, nutzen? Wie entscheide ich, was ICH denke? Was ist übernommen, nachgedacht, nachgesprochen? Was ist der Kollektivanteil?
Kann ein Text nur als Text gelesen werden? Was heisst das, "nur als Text"? Wenn jemand einen Text liest, den er nicht versteht, obwohl er in seiner Sprache verfasst ist, ersieht er ihn zumindest als für ihn unverständlich. Wenn er ein einer ihm fremden Sprache geschrieben ist, erkennt er, dass es sich höchstwahrscheinlich um einen sprachlichen Text handelt, aber ihn einer Sprache, die er nicht kennt. Er kann keine Aussage dazu treffen. Aber in solchen Fällen handelt es sich nicht um "Lesen" oder "Lektüre", sondern Konfrontation mit einem Text, der eben entweder unlesbar bleibt bzw. gelesen, aber nicht verstanden werden kann. Dieser Text wird gerade deshalb also nicht "nur" gelesen, weil Lesen nicht nur das bedeutungslose Entziffern meint, sondern das sinnhafte Erfassen des Textes.
Musik als bloße Musik hören. Hier liegt der Fall ähnlich. Hört jemand ihm völlig fremde Musik, kann es sogar sein, dass er nur Geräusche hört, die er nicht als Musik deutet. Entspricht der Klanginhalt irgendwie den Hörgewohnheiten, mag er meinen, er höre Musik. Umgekehrt ist mancher in der Lage dort "Musik" zu hören, wo andere nur Geräusche vernehmen. Oder er hört Falschtöne, die anderen entgehen bzw., im Gegenteil, hört gar keine, obwohl welche zu hören gewesen wären, hätte er ein "geschultes" Ohr. Musik, wenn sie nicht in Liedform oder als Musikdrama "Botschaften" transportiert, vermittelt keine deutbaren Aussagen. Was wir musikalische Interpretation nennen, ist eher metaphorisch gemeint. Es betrifft das Deuten, Hineinlegen bzw. Heraushören, was aufgrund der Gefühlslage, der Hörgewohnheiten, der musikalischen Kenntnisse etc. gedeutet wird. Diese Interpretation muss bedingterweise vager und unverbindlicher sein, als die Textinterpretation, bei der ein Sinn festgemacht werden kann. Ist vom Text eine solches Textverständnis gar nicht angestrebt oder wird es verhindert (Nonsens), erfolgt die Deutung über die Form bzw. die Formen (Satzstruktur, Wort- und Klanggebilde, Rhythmus etc.). Aber auch der Nonsense, das Sinnlose, wird interpretiert.
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