Haimo L. Handl
Der Überpapa
Gegenwärtig bemerken wir eine Renaissance autoritärer
Systeme. Rechte, rechtsextreme, faschistoide und faschistische Politiker und
ihre Anhänger werden immer lauter, bestimmen in immer weiteren Teilen den
öffentlichen Diskurs. Jene Teile, die sich als „Linke“ bezeichnen, versuchen
eine einheitliche Kritik zu formulieren, finden aber keine mehrheitliche
Unterstützung in den Bevölkerungen, sei es in Europa oder den USA, von den
anderen Gesellschaften ganz zu schweigen.
Dabei ist es nicht lange her, dass insbesondere im Westen Linke
dem Faszinosum des Führerkults erlagen. Natürlich nicht von Hitler, aber Stalin
und inssonders von Mao Zedong. Ich erinnere mich, wie maoistische Gruppen in
Frankreich oder Deutschland (und einige wenige Vertreter in Österreich) dem
großen Vorsitzenden zujubelten und seine Schriften fleißig verteilten, wie auf
Kernaussagen des weisen Führers verwiesen wurde und, ganz besonders, wie die
als antiautoritär gesehene Kulturrevolution bejubelt wurde. Man stelle sich
vor: das Manöver eines machtgeilen Massenmörders, des schlimmsten in der Geschichte,
die Jugend wie eine Meute räudiger Wölfe und Hunde loszulassen, als positives,
antiautoritäres Korrekturmittel, als „Aufräumen“ einer Gesellschaft, die noch
nicht ganz den Zielen und Maßnahmen des weisen Führers entspricht, als ideologisches
Reinigungsmittel. Das Persilprogramm der Linken übersah alle Negativa. Das
geschah nicht nur durch Studenten, die die Unterstützung durch die Werktätigen
suchten, sondern auch durch Experten, Soziologen und Philosophen, wie z. B.
Michel Foucault. Gut, als der Eifer (manche sprechen von „blindem Eifer“ und
„blinder Gefolgschaft“, was falsch ist, weil man sich ganz konkret auf
attraktive Programme des chinesischen Meisterdenkers und Kriegsherrn berief)
ihm zu weit zu gehen schien, rückte er etwas ab, relativierte, blieb aber bei
der prinzipiellen Unterstützung. Er, der die französische Gesellschaft kritisch
untersucht hatte hinsichtlich zentraler Problembereiche (Wahnsinn und Gesellschaft,
Überwachen und Strafen), hörte keine Alarmglocken, sah keine Gefahren im
Überwachungs- und Verfolgungssystem Maos und seiner Roten Garden. Foucault
nenne ich hier stellvertretend für viele andere.
1968, als die Studentenrevolte von Frankreich ausgehend
erstarkte, war ich zwanzig Jahre alt. Ich hielt mich viel in der quirligsten
Stadt der Schweiz, in Zürich, auf und besuchte oft viele der ausgezeichneten Bibliotheken
und lernte auch einige Anarchisten kennen. Hinsichtlich Politik, politischer Kritik
(Vietnam, Studentenrevolte) und Kultur war Zürich mir damals wie ein offenes
Fenster, ein Lichtblick und eine Lichtschneise. Aus dem dunklen,
erzkonservativen Vorarlberg kommend, war die Schweiz, wie ich sie damals
erlebte, das Gegenteil, eine motivierende Öffnung.
Später arbeitete ich bei einer Schweizer Großbank, um mir
das Geld für meine Amerikareise zu erarbeiten. Damals lernte ich neben vielen
anderen auch Giovanni Blumer kennen, dessen Buch „Die chinesische
Kulturrevolution 1965/67“ 1968 herausgekommen war. Blumer war ein „schräger
Vogel“, wie ich heute sagen würde, gebildet, charmant, überaus
kulturinteressiert. Wir plauderten oft lange in einem der Kaffeehäuser an der
Limmat. Er hatte eine kleine Erbschaft dazu verwendet, um die Schrift „Unfeig“
von Otto Nebel zu verlegen, schenkte mir ein Exemplar und diskutierte mit mir
über den Künstler und Schriftsteller Nebel. Ich war begeistert und versenkte
mich in den Stoff. Da ich keinen Katalog auftreiben konnte, kontaktierte ich
das Berner Kunstmuseum und durfte die Kollektion, die dort gelagert war,
ansehen (dass das möglich war, erstaunt mich heute noch). Ich fotografierte das
Material, und vertiefte meine Studien.
Das andere Thema, worüber wir uns intensiv ausließen, war
China und seine Kulturrevolution. Ich hatte kein breites oder tiefes Wissen
über dieses Land, seine Geschichte und Politik. Da „Rotchina“ von den
Konservativen oder Bürgerlichen pauschal verteufelt wurde, lagen deren Kritiken
außerhalb meines Wahrnehmungskreises. Im linken Lager war nur Positives über
den großen Vorsitzenden zu lesen. Auch die Kulturrevolution, die wegen ihres
antiautoritären Charakters faszinierte, wurde gepriesen. (Ich habe heute noch einige
Publikationen jener Zeit über Mao, China und die glorreiche Zukunft, darunter
auch Blumers Buch.) Mein Vermögen zur Selbstkritik bzw. Kritik der eingenommenen
ideologischen Position, war damals noch unterentwickelt. Ich war ein typischer
Linker, der die Vorgaben der „Lehrer“, der mehr Erfahrenen interessiert
übernahm. Ich las ungeheuer viel, vermochte aber nicht, wie ich später erkennen
musste, kritisch zu bewerten und eine eigene Position zu beziehen, weil jene,
die mir als eigene erschien, eigentlich eine Übernahme war.
Blumer sprach wie ein Agent oder Missionar. Er war überzeugt
von seinen Ansichten und ich lauschte wissbegierig. Im Zuge der Diskussion kam
ich zu einigen Ungereimtheiten. Schlussendlich gipfelte die Debatte in die
Haltung, „Der Zweck heiligt die Mittel“. Nun, das war mir schon seit meiner
kurzen Beschäftigung mit den Anarchisten und Bolschewiki bekannt und ich
meldete Kritik an. Blumer wischte sie weg. Nein, die Kulturrevolution sei ein
Klassenkampf und dürfe nicht an Einzelaktionen gemessen oder wegen dieser
verworfen werden. Sie ist auch aus der chinesischen Geschichte zu erklären und
ihrem harten Kampf mit der UdSSR, wobei das kommunistische Lager seit dem
Kalten Krieg permanent verzerrt und einseitig gesehen und dargestellt werde, so
dass ein genuines Verständnis der chinesischen Position fast niemandem möglich
sei. Wir müssten uns deshalb vor stereotypen Verallgemeinerungen und
Zuschreibungen hüten und das Eigentliche Chinas und Maos herausschälen und
bewerten. Blumer: „Die ‚Geopolitik‘ feierte Triumphe. Die Niederungen der
politischen Halbbildung sind immer noch mit solchem Unkraut angepflanzt und die
eifrigen Gärtner, die Chinaspezialisten vom Dienst, bemühen sich in keiner
Weise um eine objektive Erfassung ihres Aufgabenbereiches, löbliche Ausnahmen
ausgenommen.“ Ich hörte damals Begründungen und Apologien, wie sie später von
Chinaspezialisten, diesmal aber in Verteidigung von Mao Zedong, vertreten
wurden und werden, wie die Debatte um Mao ablesen lässt unter dem Titel „War
Mao wirklich ein Monster?“, was natürlich von vielen verneint wird. Nach einer
Phase der Kritik des Führers und Massenmörders vertreten viele namhafte
Historiker und Politikwissenschaftler, besonders im Westen, wieder die Apologie
des großen Vorsitzenden. Heute hat der Führer, soweit es sich nicht um Hitler
handelt, wieder Saison. Er strahlt als Übervater. Im Vergleich zu Stalin und Mao Zedong ist die Schar jener, die Hitler verehren, heute gering. Mao führt.
In Erinnerung dieser Gespräche, meiner damaligen Lektüren
und der Re-Lektüre einiger Interviews mit Michel Foucault bin ich erstaunt, wie
lange sich diese Fehlsicht auch bei mir hielt. Ich war zwar nie Maoist, aber
ich hatte den Ansprüchen des Führerkults für mich keine explizite Kritik
entgegengestellt. Es dauerte eine Weile, bis ich eine kritische Position gegen
den Führer einnehmen konnte. Als ich vor einigen Jahren The Academic
Response to Chang and Halliday’s “Mao The Unknown Story” las, kam ich mir
fast zeitversetzt vor. Es war, als ob die Historie sich nicht weiterentwickelt
hätte, als ob die Apologeten des Verbrechens, getreu der Maxime „Der Zweck
heiligt die Mittel“, die Verbrechen wegredeten, abbuchten, als vielleicht
bedauerlichen, aber bedingten Kollateralschaden hinstellten. Die Sucht, die
Welt extrem zu vereinfachen durch ideologisches Denken scheint in Ost und West
wieder zur Hauptübung geworden zu sein. Ein Zug der Gesinnungskultur zeigt sich
im Betonen der Intentionen und guten Absichten. Nein, Mao war kein Monster, er
war hingebungsvoll und liebend für sein Volk da. Er organisierte die
Kulturrevolution aus Sorge um die Zukunft. Dass er diese für China fast zerstörte,
wird von vielen geleugnet.
Heute sind ehemalige Opfer, die davongekommen sind,
in maßgebenden Positionen. In der höchsten Xi Jinping (*1953) als
Staatspräsident mit einer Machtkonzentration, wie sie früher Mao Zedong genoss, der seine
Erfahrungen aus der Kulturrevolution, die er als Jugendlicher durchmachen
musste, offensichtlich nicht kritisch emanzipatorisch, sondern weiterführend,
eben als großer starker Mann, einsetzt. Die meisten anderen, die als
Jugendliche kulturrevolutioniert worden waren und durchkamen, haben sich heute
in der kapitalistischen Welt eingerichtet und schlagen die Brücke zum
Übervater, zum großen Vorsitzenden eher symbolisch. Das Gegenteil zum Gewinner
Xi Jingping stellt Zhang Shihe dar. Er hat auch überlebt, aber keine Karriere
gemacht. Er hat sich, obwohl kein Intellektueller, nicht richtig ideologisch
eingepasst. Nicht alle Chinesen beugen sich dem Diktat, nicht alle sonnen sich
im Licht des Führers.