Haimo L. Handl
Literaturkritik als politische Historie
Ich habe von den Essays des Amerikaners Edmund Wilson (1895-1972),
der als wichtigster, eminenter Kritiker des 20. Jahrhunderts gilt, viel
gelernt. Seine Arbeiten aus den Vorkriegsjahren faszinieren ebenso wie seine
der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Ein Hochintellektueller, der sein geistiges
europäisches Erbe nicht leugnete, sondern es fruchtbringend weiter entwickelte.
Zugleich ein Kritiker des Kalten Krieges, ein unbequemer Geist.
Heuer, im Januar, erschien vom amerikanischen
Literaturkritiker George Hutchinson „Facing the Abyss: American Literatur and
Culture in the 1940s“. Ich habe das Buch sofort geordert. Jetzt erschien in der
New York Review of Books eine Rezension dieses Buches von Edward Mendelson. Hutchinson,
von dem kein Geburtsdatum zu finden ist, weil auch sein Lebenslauf, den die
Universität, wo er arbeitet, anzeigt, keine Auskunft gibt, hat 1983 sein PhD an
der Indiana University, Bloomington gemacht und arbeitet jetzt an der Cornell
University in Ithaca. Mendelson
schreibt:
„Hutchinson’s central theme is that literature
mattered in the 1940s because it focused on experiences that happened to
everyone and because it made sense of them, not by abstracting or generalizing,
but by recognizing that those common experiences came to everyone in a unique
way".
Es ging um einen Universalismus und nicht um
Klassencharakter, Ethnie, Rasse und dergleichen. Es ging nicht um Partikulares:
„Championing gay or lesbian identity as
such…was rarely the point of the work of gay, lesbian, or “queer”-oriented
writers; they attacked homophobia and the need to “label” people according to
their desires or sexual practices. And this critique, surprisingly often,
connected with related, explicit critiques of racism and anti-Semitism.
Identity politics is what fascists and anti-Semites practice, what homophobes
practice, what white supremacists and segregationists practice.”
Dieser Befund hat es in sich! Man muss ihn wiederholen: „. Identity politics
is what fascists and anti-Semites practice, what homophobes practice, what
white supremacists and segregationists practice.” Er stellt eine
Position dar, der heutigen in vielen Ländern diametral entgegengesetzt. Gegenwärtig
feiern Feministinnen ihren Rekurs auf Gender und Ethnie, pochen Faschisten, die
sich anders nennen als Identitäre auf Herkunft und jagen Tugendwächter jene,
die sie der „cultural appropriation“ verdächtigen oder beschuldigen.
Universalismus ade!
Besonders interessant ist seine Abwertung von Kritikern wie
Horkheimer und Adorno, die mit untauglicher Übernahme europäischer Werte und
Voraussetzungen amerikanische Kultur bewerteten:
„Critics and philosophers who interpret
American culture in a vocabulary learned from European culture mislead
themselves and their professional disciples. In the 1940s Max Horkheimer and
Theodor Adorno wrote still-influential essays about the debased American
popular-culture industry, but as Hutchinson observes, they had assumed—naively
and provincially—that the American class system matched the Central European
class system, that American mass culture, like European kitsch, had been
imposed on the lumpen masses by their economic overlords. In reality, American
mass culture arose from different classes producing, out of their own varied
sources, cultures of their own, most famously in the rise of jazz, which Adorno
loathed. At the same time, American popular arts absorbed visual and verbal
techniques from the most rarefied avant-garde in ways that had few European
parallels.”
Die Erklärung ist erfrischen provokativ, verdient aber näher
besehen zu werden. Woran misst Herr Hutchinson die verschiedene Klassenherkunft
amerikanischer Popularkultur? Sein Klassenbegriff steht zur Diskussion. Wie
eigen waren die Kulturen? Wenn sie so distinkt waren, weshalb konnten sie so
reibungslos vom Show Business übernommen werden? Nach welchen Kriterien
bewertet er Kultur und darin die Avantgarde? Wenn es jedoch so viele distinkte
Kulturen gab, müsste es auch verschiedene, konkurrierende Avantgarden gegeben
haben. Warum münden die alle in die typische amerikanische Massenkultur, von
der sich nur jene abhebt, die sich ihrer europäischen Wurzeln erinnert?
Bemerkenswert, andererseits, seine Ansichten zum
Universalismus, konzise dargelegt in einem eigenen Kapitel:
„His chapter on the Universal Declaration
refutes, systematically and in detail, current academic dogmas through which it
“has been routinely critiqued as an instrument of Western imperialism,” built
from Enlightenment doctrines of personal autonomy. By disentangling the history
of the declaration from later myths about it, and by pointing to passages in it
that are often ignored, Hutchinson shows that it derives from a combination of
Confucianism and Dewey’s pragmatism, and that, far from celebrating personal
autonomy, it emphasizes mutual relations of persons and communities.”
Für mich ist der Vergleich mit Edmund Wilson höchst
illuminierend. Die Gegenwart, insbesondere die US-amerikanische, bietet enorm
viele Anhaltspunkte und Belege, die die skeptische oder abwertende Position von
Horkheimer und Adorno stützten bzw. Argumentationslinien von Wilson stärken.
Der Rekurs aufs Eigenständige war in den 40erJahren nicht einhellig und
deutlich, aber der Kern existierte, sonst hätte er sich nicht so übermächtig
entwickeln und herauskristallisieren können. Was Hutchinson als historisch abtut,
ist leider bestimmender denn je geworden.
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