Sonntag, 24. Februar 2019

Literaturkritik als politische Historie


Haimo L. Handl

Literaturkritik als politische Historie

Ich habe von den Essays des Amerikaners Edmund Wilson (1895-1972), der als wichtigster, eminenter Kritiker des 20. Jahrhunderts gilt, viel gelernt. Seine Arbeiten aus den Vorkriegsjahren faszinieren ebenso wie seine der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Ein Hochintellektueller, der sein geistiges europäisches Erbe nicht leugnete, sondern es fruchtbringend weiter entwickelte. Zugleich ein Kritiker des Kalten Krieges, ein unbequemer Geist.

Heuer, im Januar, erschien vom amerikanischen Literaturkritiker George Hutchinson „Facing the Abyss: American Literatur and Culture in the 1940s“. Ich habe das Buch sofort geordert. Jetzt erschien in der New York Review of Books eine Rezension dieses Buches von Edward Mendelson. Hutchinson, von dem kein Geburtsdatum zu finden ist, weil auch sein Lebenslauf, den die Universität, wo er arbeitet, anzeigt, keine Auskunft gibt, hat 1983 sein PhD an der Indiana University, Bloomington gemacht und arbeitet jetzt an der Cornell University in Ithaca. Mendelson schreibt:

„Hutchinson’s central theme is that literature mattered in the 1940s because it focused on experiences that happened to everyone and because it made sense of them, not by abstracting or generalizing, but by recognizing that those common experiences came to everyone in a unique way".

Es ging um einen Universalismus und nicht um Klassencharakter, Ethnie, Rasse und dergleichen. Es ging nicht um Partikulares:

„Championing gay or lesbian identity as such…was rarely the point of the work of gay, lesbian, or “queer”-oriented writers; they attacked homophobia and the need to “label” people according to their desires or sexual practices. And this critique, surprisingly often, connected with related, explicit critiques of racism and anti-Semitism. Identity politics is what fascists and anti-Semites practice, what homophobes practice, what white supremacists and segregationists practice.”

Dieser Befund hat es in sich! Man muss ihn wiederholen: „. Identity politics is what fascists and anti-Semites practice, what homophobes practice, what white supremacists and segregationists practice.” Er stellt eine Position dar, der heutigen in vielen Ländern diametral entgegengesetzt. Gegenwärtig feiern Feministinnen ihren Rekurs auf Gender und Ethnie, pochen Faschisten, die sich anders nennen als Identitäre auf Herkunft und jagen Tugendwächter jene, die sie der „cultural appropriation“ verdächtigen oder beschuldigen. Universalismus ade!

Besonders interessant ist seine Abwertung von Kritikern wie Horkheimer und Adorno, die mit untauglicher Übernahme europäischer Werte und Voraussetzungen amerikanische Kultur bewerteten:

„Critics and philosophers who interpret American culture in a vocabulary learned from European culture mislead themselves and their professional disciples. In the 1940s Max Horkheimer and Theodor Adorno wrote still-influential essays about the debased American popular-culture industry, but as Hutchinson observes, they had assumed—naively and provincially—that the American class system matched the Central European class system, that American mass culture, like European kitsch, had been imposed on the lumpen masses by their economic overlords. In reality, American mass culture arose from different classes producing, out of their own varied sources, cultures of their own, most famously in the rise of jazz, which Adorno loathed. At the same time, American popular arts absorbed visual and verbal techniques from the most rarefied avant-garde in ways that had few European parallels.”

Die Erklärung ist erfrischen provokativ, verdient aber näher besehen zu werden. Woran misst Herr Hutchinson die verschiedene Klassenherkunft amerikanischer Popularkultur? Sein Klassenbegriff steht zur Diskussion. Wie eigen waren die Kulturen? Wenn sie so distinkt waren, weshalb konnten sie so reibungslos vom Show Business übernommen werden? Nach welchen Kriterien bewertet er Kultur und darin die Avantgarde? Wenn es jedoch so viele distinkte Kulturen gab, müsste es auch verschiedene, konkurrierende Avantgarden gegeben haben. Warum münden die alle in die typische amerikanische Massenkultur, von der sich nur jene abhebt, die sich ihrer europäischen Wurzeln erinnert?

Bemerkenswert, andererseits, seine Ansichten zum Universalismus, konzise dargelegt in einem eigenen Kapitel:

„His chapter on the Universal Declaration refutes, systematically and in detail, current academic dogmas through which it “has been routinely critiqued as an instrument of Western imperialism,” built from Enlightenment doctrines of personal autonomy. By disentangling the history of the declaration from later myths about it, and by pointing to passages in it that are often ignored, Hutchinson shows that it derives from a combination of Confucianism and Dewey’s pragmatism, and that, far from celebrating personal autonomy, it emphasizes mutual relations of persons and communities.”

Für mich ist der Vergleich mit Edmund Wilson höchst illuminierend. Die Gegenwart, insbesondere die US-amerikanische, bietet enorm viele Anhaltspunkte und Belege, die die skeptische oder abwertende Position von Horkheimer und Adorno stützten bzw. Argumentationslinien von Wilson stärken. Der Rekurs aufs Eigenständige war in den 40erJahren nicht einhellig und deutlich, aber der Kern existierte, sonst hätte er sich nicht so übermächtig entwickeln und herauskristallisieren können. Was Hutchinson als historisch abtut, ist leider bestimmender denn je geworden.

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