Sonntag, 3. Februar 2019

Überfühlen


Haimo L. Handl

Überfühlen

Während meiner Studienzeit wurde am Publizistikinstitut in Wien keine Rhetorik gelehrt. Wer daran interessiert war, musste selbst Material suchen. Man konnte Nachrichtentheorie und andere theoretische Versatzstücke studieren, auch Medienhistorie und dergleichen, nicht aber Rhetorik. Das war eher etwas für Germanisten oder Philosophen, nicht aber für Kommunikationswissenschaftler oder Publizisten. Ich beschäftigte mich trotzdem damit, vor allem mit den Fragenkomplexen zu „überreden“ bzw. „überzeugen“ und sogenannter Objektivität. Mich faszinierte die Frage der Performanz, des exekutierten Sprechaktes vor dem Hintergrund der verschiedenen Theorien, besonders im Zuge der Wirkungsanalyse bzw. Inhaltsanalyse und der verschiedenen Interpretationstheorien von Texten. Im Allgemeinen sah es ja aus, als ob die Medienprodukte, die Texte, aber auch Bild-Text-Aktionsformen (Television, Video) primär wichtig und bedeutsam seien. Nur zögerlich wurde die Art und Qualität der Performanz berücksichtigt auf Seiten der Performer als auch der Rezipienten.

Dabei war der Einfluss der Rhetorik in unserer abendländischen Kulturen tief und stark. Nicht nur bezüglich der Werke berühmter Rhetoren, sondern auch wegen der Auffassungen, was Kommunikation überhaupt bewirken könne, worauf es ankomme, was weshalb wie wirke. Einen bissigen Text von Karl Kraus zu lesen, vielleicht nur leise und unbedarft, ist von anderer Wirkung, als wenn man ihn gekonnt vorgetragen hört. Klar, dass das (Kontext)Wissen immer determiniert, was überhaupt zu einer Wirkung gelangen kann.

Kommunikation erfolgt nicht in einem herrschaftsfreien Raum. Vereinfachte Kommunikationsmodelle, die suggerieren, es komme wesentlich auf die Qualität der Kommunikation an, ob ein Kommunikationsziel erreicht werde oder nicht, sind zu simpel, grob und falsch. Auch ein guter Rhetor, sogar einer wie Cicero, bedurfte eines entsprechenden Publikums, damit seine Rede die erwünschte Wirkung zu erzielen vermochte. Er musste auch darauf achten, dass neben dem Publikum, den Adressaten seiner Rede, er auch andere Aspekte für ihn und seine Rede „günstig“ oder vorteilhaft waren (Kenntnisse, Wissen, gesellschaftliche und politische Lage). Dass der beste Rhetor versagen muss, wenn die Sache vorher oder von vornherein schon entschieden war, ist mir ziemlich bald klar geworden. Dafür lieferten mir nicht zuletzt die historischen Beispiele der Schauprozesse unter Stalin beredtes Material, sondern auch die Schandprozesse unter Freisler bei den Nazis. Es wäre sträflich dumm gewesen zu meinen, mit Argumentationsqualität hätte man hier oder dort etwas Positives ausrichten können. Das heißt, lernte ich, die Sache darf noch nicht entschieden sein, und die Beteiligten müssen sich an gewisse Minima von Diskurs- oder Kommunikationsregeln halten. Ich sehe das formell ähnlich wie beim Schachspiel. Dort darf der alte Großmeister, wenn er von einem Kind geschlagen wird, aus verletztem Stolz auch nicht die Regeln brechen. Tut er es trotzdem, geht es offensichtlich nicht mehr um Schach.

Auch wenn wir keine wirklich herrschaftsfreien Kommunikationsräume kennen, ist es möglich, relativ frei zu kommunizieren, wenn den Beteiligten aus ihrem Kommunikationsverhalten keine Sanktion erfolgen. Das ist jedoch nur in Ausnahmefällen Realität. In der Regel bestimmt die Macht oder bestimmen Mächtige, wie kommuniziert wird bzw. wie mit jenen umgegangen wird, die argumentativ eigenständig vorgehen und damit vielleicht systemgefährdend werden. Aber noch weit vor diesem Extrem gibt es Kommunikationen, die so tun, als ob. Als ob sie frei und „ungezwungen“ seien. Man vermittelt das Gefühl von Freiheit. Aber das Gefühl von Freiheit ist nicht, nie und nimmer, die Freiheit selbst. Das Gefühl ist immer eine Täuschung. Sogar authentische Kommunikation kann aufgrund der Machtstrukturen und der Anpassung an die Diskursregeln leicht zu einer Täuschung werden: alle tun dann so, als ob sie sich verstünden, als ob sie z. B. frei wären. Sie erzeugen das Gefühl, das Kommunikationsziel trotz widerstreitender Argumente aber erreicht zu haben, das Wohlgefühl sich zu verstehen, das Gefühl von Anerkenntnis oder Freiheit oder Erfolg oder sonst irgend etwas Positives.

Wenn jemand dieses Sprachspiel nicht mitmacht, wird er leicht zum Störfaktor, der schlussendlich gejagt und verfolgt wird, der mundtot gemacht wird, wenn nicht real getötet. Der erwähnte Karl Kraus war so ein Störfall.

Wenn ich annehmen darf und kann, dass es sinnvoll und tauglich ist, auf hohe Qualität meiner Rede und Sprache zu schauen, auf die Seriosität meiner Argumente, auf die bestmögliche Darbietung (Performanz), wird es vernünftig, rhetorisch geschult zu argumentierten. Denn Rhetorik zielt nicht zuerst auf Überredung. Ihr Ziel ist Überzeugung. In einer unfreien Gesellschaft, in einer ohne Werte und Ethik, wäre es sinnlos, also unvernünftig zu meinen oder zu hoffen, man könne über rhetorische Qualität etwas erreichen. Deshalb wird es gegenwärtig in unseren Gesellschaften immer schwerer zu argumentieren.

Die Stringenz einer Beweisführung, die Schönheit einer gewagten Argumentationskette und dergleichen können nur zur Wirkungen kommen, wenn das oder die Gegenüber Kenntnisse haben, diese zu erkennen und zu würdigen. Einer, der logisches Denken unbekannt ist, wird nie eine Stringenz von Ausführungen ermessen können. Jemand, der borniert in seiner Echokammer verharrt, wird nie Wort- und Satzformen als Abbildung bzw. Symbol nicht nur stimmig, sondern auch „schön“ finden können. Und so geht das weiter mit jedem Aspekt.

Es ist wie bei der Weinverkostung, die einem Geschulten, Gebildeten spezifische, nuancierte Urteile gestattet, während der Einfache, der kein Unterscheidungsvermögen eignet, nichts bemerkt, außer den groben, einfachen Unterscheidungen: Getränk, bitter, süß, stark oder schwach. Fertig.

So ähnlich ist es mit der Bildung und der Rhetorik bzw. der Kommunikation. Damit überhaupt zwischen Überredung und Überzeugung unterschieden werden kann, muss viel gewusst und anerkannt sein. Überzeugung ergibt sich aus Einverständnis und Kenntnis. Dieses wiederum kann sich einstellen, wenn ich genügend Wissen habe, um der neuen Argumentation folgen zu können, mich eben nicht nur vom Gefühl oder der emotionalen Wirkung des Moments leiten lasse, und dieses Wissen auch exekutiere, ausführe, umsetze und nicht, aus Mangel an Charakter oder Courage, feige unterlasse. Ein Wissen, das nur „theoretisch“ gespeichert bleibt, aber nicht aktiv ein- und umgesetzt wird, ist keines, ist nur ein halbes oder potentielles.

Wir leben in Zeiten, in denen vor allem überredet wird. Das geht nun schon über 70 Jahre so. Seit dem Ende des letzten Großen Krieges hat nicht nur die Werbung gelernt besser und wirksamer zu überreden, sondern auch die politische Kommunikation, die zur Propaganda absackte. Der Erfolg der social media stellt den Abyssus dar, den wir mit der Überredungskommunikation erreicht haben: es gelten fast ausschließlich Gefühle, Emotionshaltungen, vorgefasste Meinungen, Vorurteile, Gerüchte, Stimmungen, Verschwörungsannahmen (man nennt sie meist immer noch „Verschwörungstheorien“, obwohl sie nicht wie Theorien geprüft werden. Eine Theorie muss angeben, wann sie durch welche Fakten als widerlegt gilt. Eine unwiderlegbare Theorie ist keine im wissenschaftlichen Sinne).

Deshalb wählte ich für diesen Aufsatz den Titel „Überfühlen“ in Anlehnung an „Überreden“. Wir sind jenseits des argumentativen Austausches, jenseits verantwortlicher Rhetorik. Wir sind im Kreis. Aus ihm auszubrechen gelingt nur wenigen. Die Phalanx der Schwätzer, Täuscher und Überreder scheint unermesslich stark (von den Dadaisten über Thomas Bernhard bis zu Robert Menasse, um nur einige zu nennen).




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