Haimo L. Handl
Überfühlen
Während meiner Studienzeit wurde am Publizistikinstitut in
Wien keine Rhetorik gelehrt. Wer daran interessiert war, musste selbst Material
suchen. Man konnte Nachrichtentheorie und andere theoretische Versatzstücke
studieren, auch Medienhistorie und dergleichen, nicht aber Rhetorik. Das war
eher etwas für Germanisten oder Philosophen, nicht aber für
Kommunikationswissenschaftler oder Publizisten. Ich beschäftigte mich trotzdem
damit, vor allem mit den Fragenkomplexen zu „überreden“ bzw. „überzeugen“ und sogenannter
Objektivität. Mich faszinierte die Frage der Performanz, des exekutierten
Sprechaktes vor dem Hintergrund der verschiedenen Theorien, besonders im Zuge
der Wirkungsanalyse bzw. Inhaltsanalyse und der verschiedenen
Interpretationstheorien von Texten. Im Allgemeinen sah es ja aus, als ob die
Medienprodukte, die Texte, aber auch Bild-Text-Aktionsformen (Television,
Video) primär wichtig und bedeutsam seien. Nur zögerlich wurde die Art und
Qualität der Performanz berücksichtigt auf Seiten der Performer als auch der
Rezipienten.
Dabei war der Einfluss der Rhetorik in unserer
abendländischen Kulturen tief und stark. Nicht nur bezüglich der Werke
berühmter Rhetoren, sondern auch wegen der Auffassungen, was Kommunikation
überhaupt bewirken könne, worauf es ankomme, was weshalb wie wirke. Einen
bissigen Text von Karl Kraus zu lesen, vielleicht nur leise und unbedarft, ist
von anderer Wirkung, als wenn man ihn gekonnt vorgetragen hört. Klar, dass das
(Kontext)Wissen immer determiniert, was überhaupt zu einer Wirkung gelangen
kann.
Kommunikation erfolgt nicht in einem herrschaftsfreien Raum.
Vereinfachte Kommunikationsmodelle, die suggerieren, es komme wesentlich auf
die Qualität der Kommunikation an, ob ein Kommunikationsziel erreicht werde
oder nicht, sind zu simpel, grob und falsch. Auch ein guter Rhetor, sogar einer
wie Cicero, bedurfte eines entsprechenden Publikums, damit seine Rede die
erwünschte Wirkung zu erzielen vermochte. Er musste auch darauf achten, dass
neben dem Publikum, den Adressaten seiner Rede, er auch andere Aspekte für ihn
und seine Rede „günstig“ oder vorteilhaft waren (Kenntnisse, Wissen,
gesellschaftliche und politische Lage). Dass der beste Rhetor versagen muss, wenn
die Sache vorher oder von vornherein schon entschieden war, ist mir ziemlich
bald klar geworden. Dafür lieferten mir nicht zuletzt die historischen
Beispiele der Schauprozesse unter Stalin beredtes Material, sondern auch die
Schandprozesse unter Freisler bei den Nazis. Es wäre sträflich dumm gewesen zu
meinen, mit Argumentationsqualität hätte man hier oder dort etwas Positives
ausrichten können. Das heißt, lernte ich, die Sache darf noch nicht entschieden
sein, und die Beteiligten müssen sich an gewisse Minima von Diskurs- oder
Kommunikationsregeln halten. Ich sehe das formell ähnlich wie beim Schachspiel.
Dort darf der alte Großmeister, wenn er von einem Kind geschlagen wird, aus
verletztem Stolz auch nicht die Regeln brechen. Tut er es trotzdem, geht es
offensichtlich nicht mehr um Schach.
Auch wenn wir keine wirklich herrschaftsfreien
Kommunikationsräume kennen, ist es möglich, relativ frei zu kommunizieren, wenn
den Beteiligten aus ihrem Kommunikationsverhalten keine Sanktion erfolgen. Das
ist jedoch nur in Ausnahmefällen Realität. In der Regel bestimmt die Macht oder
bestimmen Mächtige, wie kommuniziert wird bzw. wie mit jenen umgegangen wird,
die argumentativ eigenständig vorgehen und damit vielleicht systemgefährdend
werden. Aber noch weit vor diesem Extrem gibt es Kommunikationen, die so tun,
als ob. Als ob sie frei und „ungezwungen“ seien. Man vermittelt das Gefühl von
Freiheit. Aber das Gefühl von Freiheit ist nicht, nie und nimmer, die Freiheit
selbst. Das Gefühl ist immer eine Täuschung. Sogar authentische Kommunikation
kann aufgrund der Machtstrukturen und der Anpassung an die Diskursregeln leicht
zu einer Täuschung werden: alle tun dann so, als ob sie sich verstünden, als ob
sie z. B. frei wären. Sie erzeugen das Gefühl, das Kommunikationsziel trotz
widerstreitender Argumente aber erreicht zu haben, das Wohlgefühl sich zu
verstehen, das Gefühl von Anerkenntnis oder Freiheit oder Erfolg oder sonst
irgend etwas Positives.
Wenn jemand dieses Sprachspiel nicht mitmacht, wird er
leicht zum Störfaktor, der schlussendlich gejagt und verfolgt wird, der mundtot
gemacht wird, wenn nicht real getötet. Der erwähnte Karl Kraus war so ein
Störfall.
Wenn ich annehmen darf und kann, dass es sinnvoll und
tauglich ist, auf hohe Qualität meiner Rede und Sprache zu schauen, auf die
Seriosität meiner Argumente, auf die bestmögliche Darbietung (Performanz), wird
es vernünftig, rhetorisch geschult zu argumentierten. Denn Rhetorik zielt nicht
zuerst auf Überredung. Ihr Ziel ist Überzeugung. In einer unfreien
Gesellschaft, in einer ohne Werte und Ethik, wäre es sinnlos, also unvernünftig
zu meinen oder zu hoffen, man könne über rhetorische Qualität etwas erreichen.
Deshalb wird es gegenwärtig in unseren Gesellschaften immer schwerer zu
argumentieren.
Die Stringenz einer Beweisführung, die Schönheit einer
gewagten Argumentationskette und dergleichen können nur zur Wirkungen kommen,
wenn das oder die Gegenüber Kenntnisse haben, diese zu erkennen und zu
würdigen. Einer, der logisches Denken unbekannt ist, wird nie eine Stringenz von
Ausführungen ermessen können. Jemand, der borniert in seiner Echokammer
verharrt, wird nie Wort- und Satzformen als Abbildung bzw. Symbol nicht nur
stimmig, sondern auch „schön“ finden können. Und so geht das weiter mit jedem
Aspekt.
Es ist wie bei der Weinverkostung, die einem Geschulten,
Gebildeten spezifische, nuancierte Urteile gestattet, während der Einfache, der
kein Unterscheidungsvermögen eignet, nichts bemerkt, außer den groben,
einfachen Unterscheidungen: Getränk, bitter, süß, stark oder schwach. Fertig.
So ähnlich ist es mit der Bildung und der Rhetorik bzw. der
Kommunikation. Damit überhaupt zwischen Überredung und Überzeugung
unterschieden werden kann, muss viel gewusst und anerkannt sein. Überzeugung
ergibt sich aus Einverständnis und Kenntnis. Dieses wiederum kann sich
einstellen, wenn ich genügend Wissen habe, um der neuen Argumentation folgen zu
können, mich eben nicht nur vom Gefühl oder der emotionalen Wirkung des Moments
leiten lasse, und dieses Wissen auch exekutiere, ausführe, umsetze und nicht,
aus Mangel an Charakter oder Courage, feige unterlasse. Ein Wissen, das nur
„theoretisch“ gespeichert bleibt, aber nicht aktiv ein- und umgesetzt wird, ist
keines, ist nur ein halbes oder potentielles.
Wir leben in Zeiten, in denen vor allem überredet wird. Das
geht nun schon über 70 Jahre so. Seit dem Ende des letzten Großen Krieges hat
nicht nur die Werbung gelernt besser und wirksamer zu überreden, sondern auch
die politische Kommunikation, die zur Propaganda absackte. Der Erfolg der
social media stellt den Abyssus dar, den wir mit der Überredungskommunikation
erreicht haben: es gelten fast ausschließlich Gefühle, Emotionshaltungen,
vorgefasste Meinungen, Vorurteile, Gerüchte, Stimmungen, Verschwörungsannahmen
(man nennt sie meist immer noch „Verschwörungstheorien“, obwohl sie nicht wie
Theorien geprüft werden. Eine Theorie muss angeben, wann sie durch welche
Fakten als widerlegt gilt. Eine unwiderlegbare Theorie ist keine im
wissenschaftlichen Sinne).
Deshalb wählte ich für diesen Aufsatz den Titel „Überfühlen“
in Anlehnung an „Überreden“. Wir sind jenseits des argumentativen Austausches,
jenseits verantwortlicher Rhetorik. Wir sind im Kreis. Aus ihm auszubrechen
gelingt nur wenigen. Die Phalanx der Schwätzer, Täuscher und Überreder scheint
unermesslich stark (von den Dadaisten über Thomas Bernhard bis zu Robert Menasse, um nur
einige zu nennen).
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