Sonntag, 3. Februar 2019

Cicero: De oratore

Im Zusammenhang mit dem Essay "Überfühlen" von Haimo L. Handl hier ein Auszug aus Ciceros Werk "De oratore / Über den Redner" in der deutschen Übersetzung von Raphal Kühner und mit Annotationen von Waltraud Künstler (2006):

Cicero, M. T. (106 vC-43 vC) - Übersetzt und erklärt von Raphael Kühner (1802-1878). Drei Bücher vom Redner. Berlin, Langenscheidtsche Verlagsbuchhandlung,o. J. (3/ca. 1909).

Auszug aus: De oratore / Über den Redner

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Denn gesetzt, es wolle einer den für einen Redner halten, der nur mit Rechtsangelegenheiten und in den Gerichten entweder vor dem Volk oder im Senat mit Fülle reden könne, so muss er doch selbst diesem vieles einräumen und zugestehen. Ohne gründliche Behandlung aller öffentlichen Angelegenheiten, ohne die Kenntnis der Gesetze, der Sitte und des Rechtes, ohne die Bekanntschaft mit dem Wesen und den Sitten der Menschen kann ja niemand selbst in diesen Dingen sich mit genügender Einsicht und Geschicklichkeit bewegen. Wer sich aber diese Kenntnisse angeeignet hat, ohne die niemand auch nur das Geringfügigste in den Rechtssachen wahren kann, wie wird dem die Wissenschaft der wichtigsten Sachen fern sein können? Verlangt man aber auch vom Redner weiter nichts als einen wohlgeordneten, geschmückten und reichhaltigen Vortrag, so frage ich, wie er selbst dieses ohne die Wissenschaft erreichen kann, die ihr ihm nicht einräumt. Denn Tüchtigkeit im Reden kann nur stattfinden, wenn der Redner den Gegenstand, über den er sprechen will, erfasst hat.
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    Hat also jener Naturphilosoph Demokritos einen schönen Vortrag gehabt, wie man sagt und mir scheint, so gehörte der Stoff, über den er sprach, dem Naturphilosophen an, der Schmuck der Worte aber muss als ein Eigentum des Redners angesehen werden. Und wenn Platon über Gegenstände, die von bürgerlichen Streitigkeiten weit entfernt sind, unvergleichlich schön gesprochen hat, was ich zugebe, wenn gleichfalls Aristoteles, wenn Theophrastos, wenn Karneades die von ihnen behandelten Gegenstände in einer beredten, anmutigen und geschmückten Sprache darlegen, so mögen die Gegenstände ihrer Vorträge anderen Wissensgebieten angehören, der Vortrag selbst ist sicherlich Eigentum dieser Kunst allein, die wir in unserem Gespräch untersuchen.
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    Wir sehen ja, dass einige über dieselben Gegenstände trocken und dürftig gesprochen haben, wie zum Beispiel Chrysippos, dessen großen Scharfsinn man rühmt und der darum, dass er diese Geschicklichkeit im Reden aus einer fremden Kunst nicht besaß, nicht minder der Philosophie Genüge geleistet hat. Was findet also für ein Unterschied statt? Oder wie wirst du die Reichhaltigkeit und Fülle der eben genannten Männer von der Dürftigkeit derer unterscheiden, welche diese Mannigfaltigkeit und Zierlichkeit der Rede nicht haben? Eines wird in der Tat sein, was diejenigen, welche gut reden, als ihr Eigentum mit sich bringen: eine wohlgeordnete, geschmückte und durch Kunst und Feile mit mannigfaltiger Abwechslung versehene Rede. Wenn aber einer solchen Rede nicht ein Stoff zugrunde liegt, der von dem Redner erfasst und erkannt ist, so muss sie notwendigerweise entweder ganz bedeutungslos sein oder der Gegenstand allgemeinen Spottes und Gelächters werden.
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    Denn was ist so unsinnig wie ein leerer Schall von Worten, wenn sie auch noch so schön und zierlich sind, wenn kein Gedanke und keine Wissenschaft zugrunde liegt? Man nehme nun aus irgendeiner Wissenschaft einen Stoff, gleichviel von welcher Art, so wird der Redner denselben, wenn er sich zuvor von der Sache seines Schutzbefohlenen hat belehren lassen, besser und geschmückter vortragen als selbst der Erfinder und Kenner dieser Sache.
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    Denn wenn jemand behaupten sollte, es gebe gewisse den Rednern eigentümliche Gedanken und Verhandlungen und eine durch die Schranken des Gerichtes begrenzte Wissenschaft von bestimmten Gegenständen, so will ich allerdings gestehen, dass unsere Redeweise sich häufiger mit diesen beschäftige, aber doch befindet sich selbst in diesen Gegenständen sehr vieles, was die sogenannten Redekünstler weder lehren noch kennen.
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    Denn wer weiß nicht, dass die größte Stärke des Redners sich darin zeigt, dass er die Gemüter der Menschen zum Zorn oder zum Hass oder zum Schmerz anreizt und von diesen Leidenschaften wieder zur Sanftmut und zum Mitleid zurückführt? Wer die Gemütsarten der Menschen und das ganze Wesen der menschlichen Natur und die Ursachen, durch die die Gemüter entweder angereizt oder beschwichtigt werden, nicht von Grund aus erkannt hat, wird durch seine Rede das nicht erreichen können, was er will.
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    Und dieser ganze Gegenstand wird als ein Eigentum der Philosophen betrachtet, und der Redner wird, wenn er meinem Rat folgen will, dies nie bestreiten. Aber wenn er diesen die Kenntnis der Sachen einräumt, weil sie hierauf allein das Ziel ihrer Bestrebungen gerichtet haben, so wird er die Behandlung des Vortrages, der ohne jene Kenntnis ganz bedeutungslos ist, für sich in Anspruch nehmen. Denn das ist, wie ich schon oft bemerkte, das Eigentum des Redners: der würdevolle, geschmückte und den Empfindungen und Gedanken der Menschen angemessene Vortrag.
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    Dass über diese Gegenstände Aristoteles und Theophrastos geschrieben haben, gestehe ich zu. Aber sieh zu, Scaevola, ob nicht dieses ganz für mich spricht! Denn ich entlehne nicht von jenen, was der Redner mit jenen gemein hat; diese aber räumen ein, dass das, was sie über diese Gegenstände abhandeln, den Rednern angehöre. Daher benennen sie ihre übrigen Bücher mit dem Namen ihrer Wissenschaft, diese hingegen überschreiben und benennen sie die rednerische.
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    Allerdings, wenn in der Rede, wie es sehr oft der Fall ist, Veranlassungen eintreten, jene Gemeinsätze über die unsterblichen Götter, über Frömmigkeit, über Eintracht, über Freundschaft, über das gemeinsame Recht der Bürger, der Menschen und Völker, über Billigkeit, über Besonnenheit, über Seelengröße, über jede Art der Tugend zu behandeln, so werden, glaube ich, alle Gymnasien und alle Schulen der Philosophen laut erklären, dieses alles sei ihr Eigentum, gar nichts hiervon gehe den Redner an.
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    Wenn ich nun diesen auch zugeben will, dass sie diese Gegenstände in ihren Winkeln, um sich die Zeit zu vertreiben, erörtern, so werde ich doch das dem Redner zuerteilen und zuerkennen, dass, während jene diese Gegenstände in einer mageren und kraftlosen Sprache abhandeln, dieser die nämlichen mit aller Anmut und Würde entwickelt. Dies verhandelte ich damals zu Athen mit den Philosophen selbst. Denn dazu nötigte mich unser Marcus Marcellus, der jetzt kurulischer Ädil ist und unfehlbar, wenn er nicht jetzt die Spiele besorgte, unserer Unterredung hier beiwohnen würde; auch schon damals hatte er sich als angehender Jüngling diesen gelehrten Beschäftigungen mit bewunderungswürdigem Eifer ergeben.
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    Ferner in betreff der Gesetzgebung, des Krieges und Friedens, der Bundesgenossen, der Staatsgefälle, der nach Verschiedenheit der Stände und Alter angeordneten Rechte der Bürger mögen die Griechen, wenn sie wollen, behaupten, Lykurgos oder Solon – wiewohl diese wenigstens meines Erachtens unter die Zahl der Redner gerechnet werden müssen – hätten von diesen Gegenständen eine bessere Kenntnis gehabt als Hypereides oder Demosthenes, Männer, die in der Beredsamkeit schon ganz vollkommen und fein ausgebildet sind; oder mögen die Unsrigen den Decemvirn, den Verfassern der zwölf Gesetzestafeln, welche einsichtsvolle Männer sein mussten, in dieser Beziehung den Vorzug geben vor dem Servius Galba und deinem Schwiegervater Gaius Laelius, die sich bekanntlich durch Rednerruhm auszeichneten.
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    Denn ich will nicht leugnen, dass es gewisse Wissenschaften gibt, die das Eigentum derer sind, die der Erforschung und Behandlung derselben ihren ganzen Eifer zuwenden; aber ich behaupte: Der erst ist ein vollendeter und vollkommener Redner, der über alle Gegenstände mit Fülle und Mannigfaltigkeit zu reden versteht. Allerdings liegt oft in den Sachen, die nach dem Geständnis aller den Rednern eigentümlich angehören, etwas, was nicht aus der gerichtlichen Erfahrung, die ihr den Rednern allein einräumt, sondern aus einer tieferen Wissenschaft geschöpft und entlehnt werden muss.
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    Denn ich frage, ob man wohl entweder gegen einen Feldherrn oder für einen Feldherrn reden könne ohne Erfahrung im Kriegswesen, oft auch ohne Kenntnis der Gegenden zu Wasser und zu Land, ob vor dem Volk über Genehmigung oder Verwerfung von Gesetzesvorschlägen, ob im Senat über alle Zweige der Staatsverwaltung ohne die tiefste Einsicht und Kenntnis der bürgerlichen Angelegenheiten, ob die Rede zur Entflammung oder auch Dämpfung der Empfindungen und Bewegungen des Gemütes – und das ist ja das eigentliche Gebiet des Redners – zur Anwendung gebracht werden könne ohne die sorgfältigste Erforschung aller Lehrsätze, welche die Philosophen über die Gemütsarten und Sitten des Menschengeschlechts entwickeln.
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    Und vielleicht dürfte ich euch hiervon nicht ganz überzeugen; doch ich will keinen Anstand nehmen, meine Ansicht mitzuteilen. Die Physik und Mathematik selbst, sowie das, was du kurz zuvor als das Eigentum anderer Wissenschaften aufstelltest, gehört der Kenntnis derer an, die sie zu ihrem Berufsgeschäft machen; will aber jemand eben diese Wissenschaften durch den Vortrag beleuchten, so muss er zu der Geschicklichkeit des Redners seine Zuflucht nehmen.
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    Denn wenn bekanntlich jener Baumeister Philon, der den Athenern ein Zeughaus baute, dem Volk auf sehr beredte Weise von seinem Werk Rechenschaft ablegte, so darf man nicht glauben, er sei eher durch die Kunst des Baumeisters als durch die des Redners beredt gewesen. Und wenn unser Marcus Antonius für den Hermodoros über den Bau von Schiffswerften hätte reden müssen, so würde er, sobald er von diesem über die Sache belehrt worden wäre, einen geschmückten und reichhaltigen Vortrag über eine fremde Kunst gehalten haben. Und ferner, wenn Asklepiades, der mein Arzt und Freund war, alle andern Ärzte an Beredsamkeit übertraf, so machte er gerade darin, dass er so geschmackvoll redete, nicht von seiner Arzneikunde Gebrauch, wohl aber von der Beredsamkeit.
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    Und das hat einen ziemlichen Schein von Wahrheit, ist jedoch nicht wahr, was Sokrates zu sagen pflegte, alle seien in dem, was sie wissen, hinlänglich beredt; wahrer ist das: Niemand kann in dem beredt sein, was er nicht weiß; aber wenn er es auch noch so gut weiß und nicht versteht, die Rede zu bilden und zu glätten, so kann er selbst das, wovon er Kenntnis hat, nicht beredt vortragen.
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    Will man also den Begriff des Redners im allgemeinen und besonderen bestimmen und zusammenfassen, so wird meines Erachtens der Redner eines so ehrenvollen Namens würdig sein, der über jeden vorfallenden Gegenstand, der durch die Rede entwickelt werden soll, mit Sachkenntnis, in guter Ordnung, mit Geschmack und aus dem Gedächtnis, zugleich auch mit einer gewissen Würde des äußeren Vortrages reden kann.
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    Sollte aber manchem der von mir gebrauchte Ausdruck über jeden vorfallenden Gegenstand allzu unbestimmt erscheinen, so mag er hiervon abschneiden und wegnehmen, soviel ihn gut dünkt; doch das werde ich festhalten: Mag der Redner auch den Stoff der anderen Künste und Wissenschaften nicht kennen und nur das verstehen, was zu den Rechtserörterungen und zur gerichtlichen Übung erforderlich ist, so wird er doch, wenn er über jene Gegenstände reden soll, sobald er sich bei denen Rats erholt hat, die das, was jeder Sache eigentümlich angehört, kennen, als Redner weit besser darüber reden als selbst jene, die diese Gegenstände berufsmäßig treiben.
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    Wenn zum Beispiel unser Sulpicius hier über das Kriegswesen reden soll, so wird er bei unserem Verwandten Gaius Marius Erkundigungen einziehen und, wenn er sie erhalten hat, einen solchen Vortrag halten, dass selbst Gaius Marius glauben dürfte, dieser habe davon fast eine bessere Kenntnis als er selbst. Soll er aber über das bürgerliche Recht reden, so würde er sich mit dir besprechen und dich, den einsichtsvollsten und erfahrensten Mann, in eben den Dingen, die er von dir erlernt hat, an Redekunst übertreffen.
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    Und kommt ein Fall vor, wo er über die Natur, über die Laster der Menschen, über die Begierden, über Mäßigung und Enthaltsamkeit, über Schmerz, und Tod sprechen soll, so dürfte er sich vielleicht, wenn es ihn gut dünkte – wiewohl dieses wenigstens der Redner kennen muss –, mit dem Sextus Pompeius besprechen, einem in der Philosophie unterrichteten Mann, und in der Tat, es wird ihm gelingen, über jeden Gegenstand, den er von irgend jemand erlernt hat, weit geschmückter zu reden als selbst jener, der ihn belehrt hat.
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    Aber wenn ihm ein Rat etwas gilt, so wollen wir, weil die Philosophie in drei Teile zerfällt, in die dunkle Naturwissenschaft, die scharfsinnige Dialektik und die Lehre von dem Leben und den Sitten, die beiden ersten aufgeben und unserer Trägheit zugute halten; wollen wir aber den dritten, der immer den Rednern angehört hat, nicht behaupten, so werden wir dem Redner nichts zurücklassen, worin er sich groß zeigen könnte.
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    Darum muss dieser ganze Teil, der von dem Leben und den Sitten handelt, von dem Redner gründlich erlernt werden; das übrige wird er, wenn er es auch nicht erlernt hat, doch, sobald es einmal nötig ist, durch die Rede auszuschmücken verstehen, wenn ihm nur zuvor der Stoff dazu überliefert und eingehändigt worden ist. Denn wenn, wie es unter den Gelehrten bekannt ist, ein in der Sternkunde unerfahrener Mann, Aratos, den Himmel und die Gestirne in den schönsten und herrlichsten Versen besungen, wenn ein Mann, der sehr fern vom Land lebte, Nikandros aus Kolophon, über die Landwirtschaft vermöge dichterischer Befähigung, nicht aber wegen seiner Kenntnis im Landbau, vortrefflich geschrieben hat, warum sollte dann nicht der Redner über solche Gegenstände sehr beredt reden, die er für eine gewisse Sache und Zeit erlernt hat?
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    Dem Redner ist ja der Dichter nahe verwandt, durch das Versmaß ein wenig mehr gebunden, in dem Gebrauch der Worte hingegen freier, in vielen Arten des Schmuckes aber Teilnehmer und fast gleich, darin wenigstens ohne Zweifel ihm beinahe gleich, dass er sein Gebiet durch keine Schranken so umgrenzt und einschließt, dass es ihm nicht freistehen sollte, sich mit der nämlichen Gewandtheit und Fülle des Ausdruckes zu ergehen, wo er Lust hat.
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    Ich muss nämlich hier auf deine frühere Äußerung, Scaevola, zurückkommen. Warum sagtest du, du würdest, wenn du dich nicht auf meinem Gebiet befändest, meine Behauptung nicht ertragen haben, dass der Redner in jeder Art des Vortrages, in jedem Zweig menschlicher Bildung vollkommen sein müsse? Niemals fürwahr würde ich eine solche Behauptung ausgesprochen haben, wenn ich mich selbst für das Vorbild, das ich aufstellte, hielte.
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    Aber was Gaius Lucilius oft zu sagen pflegte, der dir ein wenig grollte und gerade deshalb mir weniger, als er es wünschte, befreundet, aber doch ein gelehrter und sehr fein gebildeter Mann war, dasselbe ist auch mein Urteil, dass nämlich niemand unter die Zahl der Redner gerechnet werden dürfe, der nicht in allen, eines freien Mannes würdigen Wissenschaften ausgebildet sei. Denn wenn wir von ihnen selbst auch beim Reden keinen Gebrauch machen, so ist es doch sichtbar und stellt sich heraus, ob wir derselben unkundig sind oder sie gelernt haben.
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    So wie zum Beispiel die Ballspieler beim Spiel selbst die der Ringschule eigentümliche Kunst nicht anwenden, aber schon ihre Bewegung anzeigt, ob sie die Ringkunst erlernt haben oder nicht kennen, und so wie die Bildhauer, wenn sie auch für den Augenblick von der Malerei gar keinen Gebrauch machen, doch nicht undeutlich zu erkennen geben, ob sie zu malen verstehen oder nicht, so offenbart es sich bei unseren Reden vor Gericht, in den Volksversammlungen und im Senat, auch wenn in ihnen andere Wissenschaften nicht ausdrücklich zur Anwendung kommen, doch leicht, ob der Redner sich nur in den gewöhnlichen Redeübungen herumgetummelt hat oder ob er mit allen edlen Wissenschaften ausgerüstet als Redner auftritt."
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    Hierauf erwiderte Scaevola lachend: "Ich will nicht weiter mit dir streiten, Crassus. Deine Gegenrede selbst hast du ja mit einem gewissen Kunstgriff zustande gebracht, indem du einerseits mir in dem, was ich dem Redner abgesprochen wissen wollte, beipflichtetest, andererseits eben dieses, Gott weiß wie, wieder umdrehtest und dem Redner als Eigentum zuerteiltest.
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    Als ich als Prätor nach Rhodos kam und jenem ausgezeichneten Lehrer eurer Wissenschaft, Apollonios, das, was ich von Panaitios vernommen hatte, mitteilte, verspottete er nach seiner Gewohnheit die Philosophie und setzte sie herab und sagte vieles weniger mit würdevollem Ernst als auf witzige Weise. Dein Vortrag hingegen hatte nicht die Absicht, irgendeine Kunst oder Wissenschaft herabzusetzen, sondern alle als Begleiterinnen und Gehilfinnen des Redners darzustellen.
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    Sollte nun ja ein einziger Mensch sie alle umfasst und zugleich hiermit jene Geschicklichkeit einer wohl geschmückten Rede verbunden haben, so muss ich ihn für einen hervorragenden und bewunderungswürdigen Mann erklären; aber ein solcher würde, wenn es einen gäbe oder auch je gegeben hätte oder auch nur geben könnte, fürwahr kein anderer sein als du. Du hast ja nach meinem und aller Urteil allen anderen Rednern – unsere jungen Freunde mögen mir dieses Geständnis nicht übel nehmen – kaum irgendeinen Ruhm übriggelassen.
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    Doch wenn es dir an keiner Kenntnis der gerichtlichen und bürgerlichen Angelegenheiten gebricht und du doch die Wissenschaft nicht umfasst hast, die du dem Redner beigesellst, so las uns sehen, ob du ihm nicht mehr zuteilst, als es die Sache und Wirklichkeit zulässt."
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    Da sagte Crassus: "Bedenke doch, dass ich nicht über meine, sondern des Redners Geschicklichkeit gesprochen habe. Denn was habe ich gelernt oder was konnte ich wissen, der ich eher zum Handeln als zum Lernen kam, den auf dem Forum, in der Bewerbung um obrigkeitliche Ämter, in Staatsgeschäften, in Rechtshändeln meiner Freunde die Sache selbst eher aufgerieben hat, als ich eine Ahnung von der Wichtigkeit dieser Sachen haben konnte?
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    Wenn ich dir nun auch so schon Großes zu leisten scheine, dem es, wenn auch nicht gerade an Anlagen, wie du meinst, doch sicherlich an Gelehrsamkeit und an Muße und wahrlich auch an jener feurigen Lernbegierde gemangelt hat – was meinst du, wenn zu jemandes besseren Anlagen auch noch die Wissenschaften, die ich nicht berührt habe, hinzukämen, wie herrlich und wie groß würde ein solcher Redner sein?"
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    Hierauf sagte Antonius: "Du überzeugst mich, Crassus, von der Wahrheit deiner Behauptungen, und ich zweifle nicht, dass derjenige im Reden weit reicher ausgestattet sein wird, der die Beschaffenheit und das Wesen aller Dinge und Wissenschaften umfasst.


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Auszug aus:

aventinus antiqua Nr. 9 (Winter 2006)

Waltraud Künstler

Ciceros orator perfectus – ein realisierbares Rednerideal? :
Im Jahre 56 oder 55 v. Chr. [30] entstand de oratore. Cicero stellt darin seinem Bruder Quintus die gesamte Redekunst, welche für Cicero universale Bildung, für Quintus aber Talent und Übung voraussetzt, als Dialog eloquentissimorum [31] dar. Achard ist der Auffassung, Ciceros Absicht sei es gewesen, sich selbst ein Denkmal zu setzen und durch die Wiedervereinigung von Rhetorik und Philosophie den orator perfectus zu schaffen [32]. Das Werk wird also als eine verschlüsselte politische Botschaft gesehen [33]. Auf diese politische Komponente wird in dieser Arbeit zu einem späteren Zeitpunkt genauer eingegangen.

Die wichtigsten Teilnehmer des Dialogs sind Lucius Licinius Crassus, der das bereits erwähnte Edikt erließ [34], sowie der drei Jahre ältere homo novus [35] Marcus Antonius. Beide standen der Senatspartei, wenn auch nicht von Anfang an, wohlwollend gegenüber [36]. Des Weiteren war ihnen der Erfolg vor Gericht, sowie der daraus resultierende politische Aufstieg gemeinsam.

Ein weiterer Teilnehmer tritt im ersten Buch mit dem Augur und Rechtsgelehrten Quintus Mucius Scaevola [37], Anhänger des Scipionenkreises und Konsul des Jahres 117 v. Chr. [38], in Erscheinung.

Sah  Crassus seinen Erfolg in der Erlernung des römischen Privatrechts und der griechischen Bildung sowie in der Kenntnis des mos maiorum, so standen bei Antonius die natürliche Begabung und praktische Übung im Vordergrund [39].

Publius Sulpicius Rufus und Gaius Aurelius Cotta stehen Crassus bzw. Antonius als Schüler zur Seite [40].

Am Gespräch nehmen außerdem der Griechisch sprechende Quintus Lutatius Catulus, und dessen für seinen Witz bekannter Stiefbruder Gaius Julius Caesar Strabo teil [41].

Das in drei Bücher gegliederte Werk beginnt mit dem Prooemium Ciceros. Darin stellt Cicero die Absichten seiner Schrift dar und die Dialogpartner vor. Außerdem erfährt der Leser, dass das Gespräch 91 v. Chr. während der ludi Romani in Crassus' Villa in Tusculum stattfindet. Bestimmt wird das erste Buch von einem Lob der Redekunst aus dem Munde Crassus [42] und der Frage, ob die Rede auf Gericht und Politik beschränkt sei oder nicht [43]. Im Gegensatz zu Crassus befürworten Antonius und Scaevola die Beschränkung [44]. Einig sind sich Crassus und Antonius nur darin, dass Talent, Lerneifer und Übung wichtig sind [45]. Crassus glaubt außerdem an die Notwendigkeit der Erlernung aller Kenntnisse [46].

Im zweiten Buch ist es an Antonius die Redekunst zu loben [47]. Anschließend stellt er die drei Redegattungen dar [48], empfindet das rhetorische System in der Praxis als unpraktikabel [49] und wendet sich schließlich den officia oratoris zu. Nach dem Prooemium des letzten Buches, das diesmal auf die aktuelle politische Lage eingeht [50], behandelt Crassus die noch ausstehenden Aufgaben: Stil, rhetorischer Ausdruck und Ausschmückung, sowie Vortrag der Rede [51]. Durch seine erneute Forderung nach universaler Bildung des Redners ist ein Rückbezug auf das erste Buch zu erkennen [52]. Mit einem kurzen Ausblick in die Zukunft der römischen Beredsamkeit endet der Dialog [53].

Der orator perfectus

Im Folgenden werden die Standpunkte des Antonius und des Crassus bezüglich des  orator perfectus dargestellt. Da es für dieses Gespräch und somit der darin vertretenden Auffassungen keine Belege gibt, ist davon auszugehen, dass Cicero seinen Dialogpartnern die Worte in den Mund gelegt hat. Trotzdem werden zum leichteren Verständnis bei der Nachzeichnung der Standpunkte sowohl Crassus als auch Antonius als Vertreter der jeweiligen Meinung benannt.

Die Meinung des Antonius

Antonius stellt den orator perfectus als einen Meister der Rede dar. Dieser beherrscht die Redekunst ebenso, wie er seine Absicht mit wohlgesetzten Worten darzulegen vermag [54]. Erreicht wird dieser Anspruch nur durch kontinuierliches Üben [55], unter der Voraussetzung, dass sowohl eine natürliche Begabung Vorträge zu halten, als auch eine voluminöse Stimme vorhanden sind [56]. Letzteres liegt vor allem in dem von Antonius beschränkten Tätigkeitsbereich des Redners, dem Gericht und der Politik, begründet [57]. Trotz dieser Beschränkung sieht Antonius keine Veranlassung für den Redner ein Rechtsgelehrter [58] oder Philosoph [59] zu sein.

Gegen das wissenschaftliche Rechtsstudium spricht, dass bei kompliziert gelagerten Gerichtsverfahren die Entscheidung durch eine überzeugende Rede, nicht durch Gesetze getroffen wird [60]. Für die übrigen Fälle, sofern sie denn vor Gericht verhandelt werden [61], reicht es den Rat von peritis bzw. von libris depromi hinzuzuziehen [62].

Auch in der Philosophie sind Menschenkenntnis und Allgemeinbildung ausreichend [63]. Vor allem Letzteres erlangt ein zum Referieren begabter Mensch mühelos durch seine ihm angeborene Intelligenz [64].

Die Meinung des Crassus

In Crassus’ Augen muss sich der orator perfectus auf jedem Gebiet wortgewandt und vielseitig äußern können [65]. Das heißt, dass ein  angeborenes Talent vorhanden [66], die Redekunst [67] beherrscht und viel, unter anderem schriftlich, geübt werden muss [68].

Darüber hinaus sind das Studium des bürgerlichen Rechts [69] und der Geschichte [70] unentbehrlich. Beides wird durch eine Fülle von Beispielen verdeutlicht [71]. So wäre es zum Beispiel ohne Rechtsstudium möglich, dass einem Redner der Erfolg, trotz eloquentia, versagt bleibt, wenn er bei Gericht für etwas plädiert, das den Gesetzen widerspricht [72].

Aber auch mit der Philosophie muss sich der Redner vertraut machen. Hierbei misst Crassus der Ethik den höchsten Stellenwert bei. [73] Denn nur die durch das Geschichts- und Philosophiestudium erworbenen Kenntnisse helfen dem Redner bei Lobreden oder in politischen Versammlungen. So wird etwa vermieden, Gesetzesvorschläge entgegen dem mos maiorum einzubringen [74].

Für Cicero braucht der orator perfectus mehr als Talent und Übung

Antonius und Crassus sind sich also darin einig, dass die grundlegendste Voraussetzung, um ein Idealredner zu werden, das Talent darstellt. Schließlich gebe es für die Redekunst kein wissenschaftlich erlernbares System [75]. Aber erst durch das ständige Üben kommt das Talent zur Entfaltung. Den Schulen bescheinigen beide, dass die dort vorgetragenen Fälle die Wirklichkeit nur unzulänglich widerspiegeln [76]. Sinnvoller sei es, frühestmöglich den Rednern auf dem Forum oder bei Gericht zuzuhören.

In Verbindung mit einem gesunden Menschenverstand und Allgemeinbildung entspricht der Redner Antonius’ Forderungen nach einen orator perfectus [77].

Crassus gibt sich damit nicht zufrieden. Ein beredter Mensch ist in der Lage Menschen zu beeinflussen. Um den möglichen Missbrauch dieser Tugend zu vermeiden, ist es wichtig talentierte Menschen vor allem in Recht und Philosophie zu unterweisen. [78] Somit stellt das Verbot der Rednerschulen, die auf diese Teile in der Ausbildung verzichten, nur eine logische Konsequenz dar [79].

Auf welcher Seite Cicero im Dialog steht, ist leicht zu erkennen. Im Prooemium zum ersten Buch schreibt Cicero, sein jüngerer Bruder Quintus sei davon überzeugt, dass Talent und Übung ausreichende Voraussetzungen für einen Idealredner seien [80]. Im Dialog lässt Cicero diesen Standpunkt durch Antonius vertreten.  Der orator perfectus nach Ciceros Vorstellung hingegen wird durch Crassus verkörpert. Nur wer auf wissenschaftlichem Gebiet gebildet sei, könne ein vollendeter Redner werden [81].  Dass dies allein der Weg zum Idealredner ist, wird, abgesehen von Crassus ausgedehnten Ausführungen zum bürgerlichen Gesetz, der Geschichte und der Philosophie [82], an drei weiteren Stellen besonders deutlich. Zunächst, als Cicero am Ende des ersten Buches Crassus feststellen lässt, Antonius hätte mit seiner Darlegung nur die Kunst des Widerlegens, was bereits in den Bereich der Philosophie gehöre, unter Beweis stellen wollen [83]. Das Gleiche behauptet Cicero, diesmal aus eigenem Mund, zu Beginn des zweiten Buches. Antonius hätte niemals ohne Bildung griechischer Art eine derartige Wortgewandtheit erlangt [84]. Schließlich verleiht Crassus/Cicero im letzten Buch der universalen Bildung ein weiteres Mal Nachdruck [85].


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