Das ist alles auch Lebenszeit
Manche Bücher werden zu Events gemacht, bei denen es um
Literatur kaum noch geht, sondern um den Skandal und die Debatte. Für
sie brauchen wir eine Ethik des Nichtlesens.
Johannes Franzen, der junge Germanist an der Uni Bonn, meint's ja gut, erheischt Aufmerksamkeit, die er offensichtlich den Skandalautoren neidet, liefert aber keine taugliche Argumentation. Die Beweggründe für Lektüre sieht er im Distinktionskampf und im Versuch mitreden zu können. Das mag für einen Teil des Publikums zutreffen, darf aber nicht verallgemeinert werden. Hier entblößt sich die Spießersicht.
Einfach etwas nicht lesen ist ja Alltag. Aber dann kann ich über das Nichtgelesene nicht urteilen. Will ich wissen, ob X oder Y nicht lesenswert sind, muss ich entweder Kritikern und Rezensenten vertrauen, die für mich die Lektüre und das Nachdenken darüber unternommen haben, oder selbst das Risiko eingehen, für einen späteren negativen Befund von der vielbeschworenen Lebenszeit etwas abzubuchen.
Aber hier zeigt sich schon die kulturperverse Sicht des Nutzendenkens, der spießigen Kleingeisterei des geizig Rechnenden. Er unterstellt nämlich, dass nur positive Erfahrungen "gute" seien, die rechtfertigen, die kostbare Lebenszeit zu "opfern". Negative Erfahrungen kommen einer Verschwendung gleich, und verschwenden darf ein kalkulierender Rechner, ein Funktionär unserer Profitgesellschaft, nie.
Damit entlarvt der Besorgte seine Niedrigkeit, seine Schwäche: die Verweigerung steht auf schwachen Füßen, sie ist keine echte. Schlussendlich will er mitreden allein schon aufgrund seines "informierten Vorurteils".
Franzen: " Auf Twitter und Facebook
finden die einzelne Leserin und der einzelne Leser die
Öffentlichkeit, die das offene Nichtlesen überhaupt erst möglich
macht." Ich bin aber weder bei Twitter noch bei Facebook und kommuniziere nicht über die social media. Wie ist der Fall für mich, der ich viel lese? Ist Nichtlesen für jemand wie mich also unmöglich? Humbug. Ich mach nur kein Trara daraus entsprechend einer Regelsucht, die einem alten deutschen Bedürfnis nach Polizeidenken und Polizeipraxis zu entstammen scheint. (" Wenn man bedenkt,
dass sie nur deshalb Erfolg haben, weil es genug Leserinnen und Leser
gibt, die einem Buch ihre Aufmerksamkeit schenken, wenn es sich um
ein Ereignisbuch handelt, dann wäre es Aufgabe einer Ethik des
Nichtlesens, Regeln aufzustellen, die diese Mechanismen unterlaufen.")
Der junge Germanist von der Uni Bonn als Regler. Kommt modern daher, ist aber im Kern ein ängstlicher Spießer, auf bestmöglichen Nutzen bedacht.
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