Sonntag, 17. Februar 2019

Hyperrealismus


Haimo L. Handl

Hyperrealismus

Musikertreffen in Graz. Begeistert berichtet in 3sat die KULTURZEIT vom einmaligen Treffen der Musikeravantgarde, die in der Provinzhauptstadt sich zum Lernen, Austausch und zur Performanz trifft. Wie beim Sport weist die internationale Beteiligung den besonderen Wert aus. Der Besuch von Komponisten in einem Baumarkt wird als hochmoderne, sensible Leistung abgebildet und kommentiert, ein Unterfangen, das sich ausgezahlt habe, da man Dinge des Alltags, der Arbeitswelt als Material für Musikinstrumente gefunden habe. Es geht schlussendlich um das Sinnliche, das Authentische, das Neue. Es geht um das Aufgehen in der Welt, um den direkte Gebrauch dessen, was da ist.

Übertrüge man diese Haltung auf das Denken, ginge es ums Denken des Vorgefundenen, des Faktischen, des Gewöhnlichen, des Bestehenden, das nur im Unterschied zur bisherigen Instrumentalkunde „neu“ ist, weil man im Missverwenden, im Missbrauch die eröffnende Tugend sieht: Werkzeuge, Hilfsmaterialien etc. lassen sich auch anders verwenden, als Werkzeuge und Instrumente für Musik bzw. das, was als solche definiert wird. Und auch Menschen als Musiker odr Sänger oder Darsteller lassen sich anders gebrauchen und verwenden. Ein hoch künstlerischer Akt, den die Teilnehmer aus vielen Ländern der Welt natürlich üben und feiern müssen. Die neue Authentizität.

Letztes Jahr lieferte der Künstler Hans Op de Beeck an der Stuttgarter Staatsoper ein Gustostückerl an Avantgarde in seinem Versuch, das sinnliche Erleben direkter, spürbarer zu vermitteln: Die Premiere von „Herzog Blaubarts Burg“ fand nicht im Opernhaus statt, sondern in einer ehemaligen Posthalle. Die Besucher mussten über Schuhe und Beinkleider Plastiküberzüge anziehen, um durch Wasser und Morast zu den Sitzen gelangen zu können. Diese Barriere war Teil der Authentizitätsvermittlung: Miterleben, Mitfühlen als Teil der Aufführung. Das heißt, der hohe Meister vertraut weder der Musik noch der Darstellung, als ob die kein Miterleben zu evozieren vermöchten, sondern baute eine Aktion ein, die zwar als Gag missverstanden werden könnte, von den Gebildeten, die dem Feuilleton folgen, aber als hohe Kunst der gesteigerten Sinnlichkeit verstanden wird: DAS ist ein anderes, spezielles Mitfühlen und Mitleben. Die Mitleber als Mitläufer vorne weg.

Die Theorie und Praxis verdient Nachahmung. Sie ist völker- und Gruppenverständigend. Sie könnte auch helfen, die Untaten der IS-Schergen als Kultur zu sehen, die Folterpraxen amerikanischer special units als Erlebnistheater nachzufühlen, die Verhörmethoden der Türken als Sinneserweiterung zu feiern. Das Programm könnte, wie die Cuisine, weltweit vielfältig ausgerichtet werden: Zur kantonesischen Küche chinesische Strafprozeduren oder zum Samba brasilianische Hetzjagden und Tötungen usw. usf.

Man stelle sich den Schauder vor, wenn Mord und Folter nicht nur billig gespielt werden, sondern echt, also real, vollzogen werden: Auf der Bühne keine Spieler mehr, sondern Täter. Echte Straffällige werden gepeitscht, geschlagen, gedemütigt. Ihr Wimmern und Jammern und Schreien wird in Echtzeit ins Computersystem gespeist als Musikbestandteil verwendet. Die Welt der neuen Klänge, ganz authentisch, dröhnt einerseits  auf die Besucher, lullt sie andererseits ein. Die Alltagswelt braucht keine genuin eigene, persönliche Schöpfungstat mehr, das Kollektiv wirkt im Puls der Zeit und auf der Höhe der Zeit.

Um die Wahrheit, die direkte physische, so nah und dicht wie möglich zu vermitteln, führt man den Mitwirkenden auf der Bühne Mikrofone in den Arsch und arbeitet mit den inneren Klängen aus dem Bauchraum als Rohmaterial für neue künstlerische Kompositionsformen: mehr geht nicht! Man belässt es nicht bei Worten oder herkömmlichen Instrumenten, man arbeitet mit dem Körper, wie es die Mächtigen immer schon taten, unter dem Zar, unter Stalin, unter Hitler, unter Mao. Der Luxus von heute ist, dass wir dafür keine unhygienischen Folterkeller brauchen, keine Wüstenplätze, sondern nur hergerichtete Objekte, die leer standen, die durch diese Kunst- und Kulturaktionen neu verwendet werden.

Die Wirtschaftsbelebung wäre einerseits durch das Mediengeschäft gegeben, andererseits durch einen neuorganisierten Devotionalienhandel mit Abfallprodukten der Performances: Instrumententeile, Werkzeuge, Requisiten. Am Teuersten und Kostbarsten aber Körperteile. Die alte religiöse Übung der Reliquienverehrung und dem profitablen Handel mit den Kultobjekten eröffnete neue Marktsegmente.

Warum besuchten die Modernen in Graz nur den Baumarkt? Warum traute sich der Künstler nicht, „echten“ Morast ins Haus zu leiten? Man könnte auch, um das träggeile Publikum aufzureizen, Drähte in die Sitzmöbel installieren, die je nach Szene verschieden stark unter Strom gesetzt werden. Ähnliche Experimente waren von Wissenschaftler schon vor vielen Jahren unternommen worden. Es ist höchste Zeit, das im Kulturbereich zu exekutieren.

Und warum soll die Unterstützung und Teilnahme am Mordprogramm des IS nur einigen wenigen tausend Aufrechten aus Europa vorbehalten bleiben? Anstatt zu überlegen, wie man Bubis und Mädis aus den Gefängnissen kriegt, in die einige geraten waren nach Niederlagen der Heilsbrigade, sollte man rasch, bevor es ganz zu Ende ist, Abenteuerurlaube organisieren, ähnlich den survival camps, aber diesmal „echte“ bei den letzten ausharrenden Islamisten, die keine billige Show, sondern pure Authentizität liefern. Wenn das dort nicht mehr durchführbar sein wird, blieben für einige Zeit sicher noch Afrikaurlaube in Gebieten der Boko Haram oder bei Milizen in Somalia, die man anstatt der üblen Safaris, wo unschuldige Tiere abgeknallt werden, unternehmen könnte.

[Nachdem alles missverstanden werden kann, ähnlich, wie alles missbraucht werden kann, erkläre ich, widerwillig zwar, aber doch, dass obige Gedanken keine Rezepte und Gebrauchsanweisungen sind, sondern eine satirische Weiterführung von Bildern, wie ich sie in der Realität sehe.]


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