Haimo L. Handl
Hyperrealismus
Musikertreffen in Graz. Begeistert berichtet in 3sat die
KULTURZEIT vom einmaligen Treffen der Musikeravantgarde, die in der
Provinzhauptstadt sich zum Lernen, Austausch und zur Performanz trifft. Wie beim
Sport weist die internationale Beteiligung den besonderen Wert aus. Der Besuch
von Komponisten in einem Baumarkt wird als hochmoderne, sensible Leistung
abgebildet und kommentiert, ein Unterfangen, das sich ausgezahlt habe, da man
Dinge des Alltags, der Arbeitswelt als Material für Musikinstrumente gefunden
habe. Es geht schlussendlich um das Sinnliche, das Authentische, das Neue. Es
geht um das Aufgehen in der Welt, um den direkte Gebrauch dessen, was da ist.
Übertrüge man diese Haltung auf das Denken, ginge es ums
Denken des Vorgefundenen, des Faktischen, des Gewöhnlichen, des Bestehenden,
das nur im Unterschied zur bisherigen Instrumentalkunde „neu“ ist, weil man im
Missverwenden, im Missbrauch die eröffnende Tugend sieht: Werkzeuge,
Hilfsmaterialien etc. lassen sich auch anders verwenden, als Werkzeuge und
Instrumente für Musik bzw. das, was als solche definiert wird. Und auch
Menschen als Musiker odr Sänger oder Darsteller lassen sich anders gebrauchen
und verwenden. Ein hoch künstlerischer Akt, den die Teilnehmer aus vielen
Ländern der Welt natürlich üben und feiern müssen. Die neue Authentizität.
Letztes Jahr lieferte der Künstler Hans Op de Beeck an der
Stuttgarter Staatsoper ein Gustostückerl an Avantgarde in seinem Versuch, das
sinnliche Erleben direkter, spürbarer zu vermitteln: Die Premiere von „Herzog
Blaubarts Burg“ fand nicht im Opernhaus statt, sondern in einer ehemaligen
Posthalle. Die Besucher mussten über Schuhe und Beinkleider Plastiküberzüge
anziehen, um durch Wasser und Morast zu den Sitzen gelangen zu können. Diese
Barriere war Teil der Authentizitätsvermittlung: Miterleben, Mitfühlen als Teil
der Aufführung. Das heißt, der hohe Meister vertraut weder der Musik noch der
Darstellung, als ob die kein Miterleben zu evozieren vermöchten, sondern baute
eine Aktion ein, die zwar als Gag missverstanden werden könnte, von den
Gebildeten, die dem Feuilleton folgen, aber als hohe Kunst der gesteigerten
Sinnlichkeit verstanden wird: DAS ist ein anderes, spezielles Mitfühlen und
Mitleben. Die Mitleber als Mitläufer vorne weg.
Die Theorie und Praxis verdient Nachahmung. Sie ist völker-
und Gruppenverständigend. Sie könnte auch helfen, die Untaten der IS-Schergen
als Kultur zu sehen, die Folterpraxen amerikanischer special units als
Erlebnistheater nachzufühlen, die Verhörmethoden der Türken als
Sinneserweiterung zu feiern. Das Programm könnte, wie die Cuisine, weltweit
vielfältig ausgerichtet werden: Zur kantonesischen Küche chinesische
Strafprozeduren oder zum Samba brasilianische Hetzjagden und Tötungen usw. usf.
Man stelle sich den Schauder vor, wenn Mord und Folter nicht
nur billig gespielt werden, sondern echt, also real, vollzogen werden: Auf der
Bühne keine Spieler mehr, sondern Täter. Echte Straffällige werden gepeitscht,
geschlagen, gedemütigt. Ihr Wimmern und Jammern und Schreien wird in Echtzeit
ins Computersystem gespeist als Musikbestandteil verwendet. Die Welt der neuen
Klänge, ganz authentisch, dröhnt einerseits
auf die Besucher, lullt sie andererseits ein. Die Alltagswelt braucht
keine genuin eigene, persönliche Schöpfungstat mehr, das Kollektiv wirkt im
Puls der Zeit und auf der Höhe der Zeit.
Um die Wahrheit, die direkte physische, so nah und dicht wie
möglich zu vermitteln, führt man den Mitwirkenden auf der Bühne Mikrofone in
den Arsch und arbeitet mit den inneren Klängen aus dem Bauchraum als
Rohmaterial für neue künstlerische Kompositionsformen: mehr geht nicht! Man
belässt es nicht bei Worten oder herkömmlichen Instrumenten, man arbeitet mit
dem Körper, wie es die Mächtigen immer schon taten, unter dem Zar, unter
Stalin, unter Hitler, unter Mao. Der Luxus von heute ist, dass wir dafür keine
unhygienischen Folterkeller brauchen, keine Wüstenplätze, sondern nur
hergerichtete Objekte, die leer standen, die durch diese Kunst- und
Kulturaktionen neu verwendet werden.
Die Wirtschaftsbelebung wäre einerseits durch das
Mediengeschäft gegeben, andererseits durch einen neuorganisierten
Devotionalienhandel mit Abfallprodukten der Performances: Instrumententeile,
Werkzeuge, Requisiten. Am Teuersten und Kostbarsten aber Körperteile. Die alte
religiöse Übung der Reliquienverehrung und dem profitablen Handel mit den
Kultobjekten eröffnete neue Marktsegmente.
Warum besuchten die Modernen in Graz nur den Baumarkt? Warum
traute sich der Künstler nicht, „echten“ Morast ins Haus zu leiten? Man könnte
auch, um das träggeile Publikum aufzureizen, Drähte in die Sitzmöbel
installieren, die je nach Szene verschieden stark unter Strom gesetzt werden.
Ähnliche Experimente waren von Wissenschaftler schon vor vielen Jahren
unternommen worden. Es ist höchste Zeit, das im Kulturbereich zu exekutieren.
Und warum soll die Unterstützung und Teilnahme am
Mordprogramm des IS nur einigen wenigen tausend Aufrechten aus Europa vorbehalten
bleiben? Anstatt zu überlegen, wie man Bubis und Mädis aus den Gefängnissen
kriegt, in die einige geraten waren nach Niederlagen der Heilsbrigade, sollte
man rasch, bevor es ganz zu Ende ist, Abenteuerurlaube organisieren, ähnlich
den survival camps, aber diesmal „echte“ bei den letzten ausharrenden
Islamisten, die keine billige Show, sondern pure Authentizität liefern. Wenn
das dort nicht mehr durchführbar sein wird, blieben für einige Zeit sicher noch
Afrikaurlaube in Gebieten der Boko Haram oder bei Milizen in Somalia, die man
anstatt der üblen Safaris, wo unschuldige Tiere abgeknallt werden, unternehmen
könnte.
[Nachdem alles missverstanden werden kann, ähnlich, wie
alles missbraucht werden kann, erkläre ich, widerwillig zwar, aber doch, dass
obige Gedanken keine Rezepte und Gebrauchsanweisungen sind, sondern eine
satirische Weiterführung von Bildern, wie ich sie in der Realität sehe.]
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